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(K)EIN REZEPT ZUR MUSIKREZEPTION
von rls

Ich habe eine Weile überlegt, ob ich diesen Artikel mit "Haarus Longus Satanas? - Teil 3" überschreiben soll. Schließlich ist seine Intention, deutlich zu machen, daß bei wissenschaftlicher Betrachtung der Rezeption von Musik nirgendwo Platz für "satanische Gitarrenriffs" oder "Bassdrums okkulten Ursprungs" ist, welche übereifrige Jugendschützer oder Pseudowissenschaftler ja gerne mal (und immer wieder neu!) entdecken. Eine derartige Überschrift hieße aber, die Rezeption selbst nur vor den Karren der Wahrheitsfindung spannen zu wollen, und dafür ist sie letzten Endes doch zu wichtig. Es kann in diesem Rahmen selbstverständlich nicht darum gehen, einen kompletten Rezeptionslehrgang zu absolvieren. Ich werde lediglich einen Überblick über Rezeption im allgemeinen und die Rezeptionslehre nach Bimberg im besonderen geben. Wer tiefer in die Materie eindringen will, muß Spezialliteratur zur Hand nehmen. Gerade der im Literaturverzeichnis genannte Helmut Rösing hat eine Reihe interessanter Beiträge über Rezeption herausgegeben. Sämtlicher Literatur über Rezeption haftet allerdings das Manko an, in der Regel lediglich an Beispielen aus dem klassischen Schaffen zu arbeiten. Allenfalls Andreas C. Lehmann geht etwas tiefer in den Bereich der Popularmusik hinein.

Definitionen, Definitionen, Definitionen ...
Die müssen schon sein, damit wir erst einmal wissen, worüber wir überhaupt reden. Bei ihnen lehne ich mich an Otto Preus Beitrag in Helmut Rösings unten genanntem Buch an.
Nach Preu teilt sich die Musikanalyse zunächst in drei Hauptgebiete auf: Schaffen, Vortragen und Hören - oder anders ausgedrückt: Produktion, Interpretation und Rezeption. Nun ist Musik aber nicht nur ein reiner Emotionsvermittler, sondern beinhaltet eine Einheit von Emotion und Intellekt. Die Summe dieser beiden Faktoren ergibt den Informationsgehalt der Musik. Da der immer vorhanden ist (wenn auch mitunter nicht in allzu hohem Maße ...), können/müssen wir hier also eine informationstheoretische Grundlage anwenden. Für unsere Zwecke genügt es an dieser Stelle allerdings, uns ins Gedächtnis zu rufen, wie denn die Information von A zu B (oder um exakt vorzugehen: vom Sender zum Empfänger bzw. vom Kommunikator zum Kommunikanten) gelangt: Sie wird bei A codiert und über einen Kanal zu B geschickt, der sie dann decodiert. Jetzt können wir auch unser Wissen von der Dreiteilung der Musikanalyse nutzbringend anwenden und stellen fest, daß der Informationstheoretiker hier eigentlich zwei Informationsketten analysieren muß: erstens die vom Hirn des Komponisten bis ins Hirn des Interpreten, zweitens die vom Hirn des Interpreten bis ins Hirn des Hörers. Wer solche Ketten anhand von Popularmusik untersucht, hat es allerdings etwas leichter, da in vielen Fällen ja Komponist und Interpret identisch sind.
Uns soll hier im wesentlichen nur ein Teil einer Kette interessieren, nämlich die Decodierung beim Hörer und die damit verquickte Rezeption. Letztgenannte definiert Preu als die auditive Wahrnehmung und die emotionale sowie rationale Verarbeitung der Musik. Auch die auditive Wahrnehmung interessiert uns hier weniger, da es sich hierbei um ein rein medizinisch-physiologisches Thema handelt. So große Leistungen unser Gehirn auch zu vollbringen vermag, eine absolute Dekodierung der ankommenden Musik bekommt es nicht hin. Der Kurzzeitspeicher hat, elektronisch ausgedrückt, lediglich eine Speicherkapazität von 160 bit, die mit maximal 16 bit pro Sekunde gefüllt werden kann. Soll heißen: Bei 'ner fetten Wagner-Oper ist der Kurzzeitspeicher nach 10 Sekunden der Ouvertüre voll, dann schaltet er gewissermaßen ab? Ganz so ist es natürlich nicht. Erstens wird nicht jede Sequenz der acht Kontrabässe und jeder Schlag der dreiundzwanzig Kesselpauken abgespeichert, zweitens arbeitet der Kurzzeitspeicher auch, schickt einzelne Parts ins Langzeitgedächtnis und "löscht" andere, so daß es bis zum Abschalten doch etwas länger dauert. Außerdem wird auch während des Abgeschaltetseins weitergearbeitet, so daß irgendwann wieder ein "Einschalten" möglich wird. Zu beachten ist schließlich noch der Fakt, daß beim Bevorstehen eines musikalischen Ereignisses der Kurzzeitspeicher in eine Art "Erwartungshaltung" gerät. Kommt dann allerdings zuwenig Information bei ihm an, wird er "sauer", und unser Gehirn straft uns mit einer allseits bekannten Eigenschaft: Langeweile.

Die Rezeptionslehre nach Siegfried Bimberg
Daß die Rezeptionsfähigkeit nicht bei jedem Menschen gleich ist, sollte keiner näheren Erläuterung bedürfen. Jetzt können wir allerdings ins Spezielle übergehen, und hier kommt Siegfried Bimbergs Idee einer Rezeptionslehre ins Spiel. Was er darunter versteht, lassen wir ihn am besten selbst erläutern: "Eine Rezeptionslehre umfaßt also die Vielfalt der Bereiche, durch die der Mensch ausgestattet wird, Musik hören zu können, und die geistige Orientierung, durch die der Mensch ausgerichtet wird, Musik in ihrem Wert zu erkennen und sie zu beurteilen." Bimberg behandelt die Rezeption anhand von fünf Komponenten, die auch hier in dieser Reihenfolge durchgekaut werden sollen: Rezeptions-Determinanten, Rezeptions-Akkumulation, Rezeptions-Potential, Rezeptions-Indikation und Rezeptions-Utilität.

Rezeptions-Determinanten
Hier wird der Einfluß von Fähigkeiten, Wissen und Interessen auf die Rezeption untersucht. Sehr wichtig ist der Begriff des Melodiebewußtseins, worunter die Fähigkeit des Einprägens, Bewahrens und Wiedergebens von Musik zu verstehen ist. Über die Zeit bildet sich im Gehirn dann ein sogenannter Intonationsfonds heraus. Diesem kommt beim Musikhören eine besondere Bedeutung zu: Die ankommenden musikalischen Informationen werden still mit dem vorhandenen Intonationsfonds verglichen ("Rekonstruktion in der Reproduktion" nennt man das). Wird keine passende Intonation gefunden, dann ist rezeptiv die Phantasie gefragt, und je nach Höhe des Melodiebewußtseins kann es zur Anlage einer neuen Intonation oder aber zum Vergessen kommen. Ist dagegen eine passende Intonation verfügbar, geht der Vergleich weiter. Divergenzen zwischen Ankommendem und Gespeichertem sind natürlich auch hier möglich. Spielt etwa Ludwig Güttler wegen drohendem Zahnausfall seine Bachtrompetenkonzerte nur noch in halber Geschwindigkeit, ist wiederum die Phantasie gefragt. Es sei an dieser Stelle angemerkt, daß durchaus auch Text als Intonation gespeichert werden kann.
Bimberg stellt nunmehr zwei Typen des Rezipierens gegenüber: naives Rezipieren (vordergründig, oberflächlich, a-reflektiv) und bewußtes Rezipieren (tiefgründig, durchdacht, reflektiv, rekonstruktiv). Schön und gut, aber diese Spaltung ist wegen einer Reihe von Zwischenformen äußerst problematisch. Einerseits fällt der durchschnittliche Dancefloortempelgänger nach den ersten beiden Kriterien sicherlich unter "naives Rezipieren" - aber er kann jeden Hit von DJ BoBo oder den All Saints auswendig vorsingen. Andererseits kann ich zwar die erste Afflicted-CD (ultrakomplizierter Heavy Metal) bewußt rezipieren, aber das wird stets in einem a-reflektiven Rahmen bleiben. Erschwerend kommt im zweiten Fall noch hinzu: "Obwohl die Hörerfahrung im Sinne der Bewußtheit musikalischer Zusammenhänge auch vom Detail her bedingt ist, orientiert sich der hörende Mensch am ganzheitlichen Eindruck." Damit haben wir eigentlich eine elegante Brücke zum Faktor Wissen geschlagen. Die Gretchenfrage lautet hier: Wo ist der Inhalt der Musik? Ist er in der Musik vorgegeben (und kommt damit quasi bereits mit den Schallwellen im Ohr an), oder wird er im Gehirn des Hörenden der ankommenden Musik zugeordnet? Bimberg beantwortet diese Frage nicht, und sie läßt sich meiner Meinung nach auch nicht nach dem Entweder-Oder-Schema beantworten. An die Stelle setzen jetzt die meisten oben genannten Kleingeister an (wenn sie überhaupt bis hierher vorgedrungen sind ...) und ordnen der E-Gitarre okkulten Inhalt zu o.ä., was aber völlig in eine Sackgasse führt. Genauere Untersuchungen zur Frage, wo der Inhalt der Musik nun sei, sind mir allerdings bisher nicht bekannt geworden, obwohl es wünschenswert wäre, daß sich ein ernsthafter Wissenschaftler mal damit befassen würde. Fest steht jedoch eins: Zwanghaftes Verbinden von Musik und ihrer Erklärung beeinträchtigt die aktive bewußte Rezeption. Dieser Fakt wird leider von zahlreichen Musiklehrern an Schulen ignoriert (dies war der Grund, warum ich während meiner Schulzeit und noch ein Jahr nach meinem Abi privat keinerlei klassische Musik gehört habe), auch wenn beachtet werden muß, daß der Schüler in der Regel zu bewußter Rezeption noch nicht oder nur in eingeschränktem Maße in der Lage ist.
Daß die Rezeption natürlich auch interessenabhängig ist, bedarf wohl keines Beweises. Bimberg führt hier eine Untersuchung an, die die Abhängigkeit der Rezeption von der Bekanntheit der Musik zum Thema hatte. Es zeigte sich allerdings keine proportionale Beziehung: Sehr bekannte Musik rief gesteigerte Hinwendung, aber auch Übersättigungserscheinungen hervor, unbekannte Musik sowohl gesteigertes Kennenlern-Wollen als auch resignierendes Abwinken hervor.

Rezeptions-Akkumulation
Hier geht es um meinungsbildende Prozesse. Diese laufen in der Regel beim Hören der Musik ab. Den Fall der Meinungsbildung anhand des Notenbildes wollen wir hier außer acht lassen. Anzumerken ist hier der große Vorteil der Musikkonserven: Sie ermöglichen das genaue Einprägen eines Normzustandes und erleichtern damit das Betrachten der Interpretationseigenheiten. Mancher mag das vielleicht aber auch als Nachteil empfinden: Es bildet sich eine sehr stabile Intonation heraus, die live viel Phantasie erfordert, denn da musizieren ja in der Regel Menschen (deshalb wurde wohl das Playback-Band erfunden ...).
Meinungsbildung findet laut Bimberg sowohl bei bewußtem als auch bei naivem Rezipieren statt. Dies ist sicherlich richtig, unterstreicht aber nur die Zweifelhaftigkeit dieser Trennung. Eine Meinung entsteht dann, wenn der Informationsstand beim Rezipienten so hoch ist, daß Zusammenhänge erkannt werden und die Möglichkeit zur Wertbestimmung gegeben ist. Das Beispiel, das Bimberg nun aber gibt, spottet jeder Beschreibung: "Der musikfreundliche Laie kennt sehr wohl den Unterschied zwischen gekonnt kunstvollem und aufgetragen 'überzogenem' Gesang. Jede Schulklasse reagiert auf den vibratoreichen, oft bis zur Unkenntlichkeit der Intervalle mißgestalteten Gesang [Bimberg schreibt leider nicht, welches konkrete Musikwerk er hier vor seinem "geistigen Ohr" ablaufen ließ - Anm. rls] mit Gelächter." Unkommentiert unterschreibe ich das nicht ...
Zurück zur Meinungsbildung: Ihre Grundlagen sind die normativen Meinungen. Dazu zählen sowohl aus der Vergangenheit überlieferte als auch in der Gegenwart propagierte Meinungen (wobei diese beiden Sorten durchaus gegenläufige Inhalte haben können). Sahnehäubchen der Meinungsbildung sind dann die jeweiligen Individualmeinungen. Da wir diese selbst beeinflussen können, werden sie auch labile Meinungen genannt. Unser Gehirn steht jetzt vor der Aufgabe, einen Ausgleich zwischen den normativen und den labilen Meinungen zu finden. Heraus kommt dabei eine persönliche Meinung über das rezipierte Werk, die aber natürlich keineswegs stabil ist.

Rezeptions-Potential
Wir stehen hier vor der Frage, inwieweit eine Konvergenz zwischen der Hörerfahrung und dem Informationsgehalt des Musikwerkes besteht. Hierbei hilft uns das Rezeptionsgefälle, definiert als der Quotient aus Hörerfahrung und der "Mitteilungsdichte im Werk". Konvergenz liegt vor, wenn das Gefälle nahezu bei 1 liegt (Hörerfahrung und Mitteilungsdichte entsprechen sich ungefähr).
Ist der Wert viel größer als 1, habe ich entweder gigantische Hörerfahrung, oder das Werk ist für mich sehr aussagelos. Fällt der Wert unter 1, kann z. B. die Mitteilungsdichte sehr hoch sein, oder die Hörerfahrung hat wegen Alzheimer, Jugend oder dem Vorliegen völlig fremder musikalischer Systeme nur einen niedrigen Wert aufzuweisen. Es verfalle jetzt aber bitte niemand in die Handlungsweise, alle divergenzanzeigenden Werte als negativ zu brandmarken. Einzelfallprüfung ist hier angesagt.

Rezeptions-Indikation
Wie zeige ich die Rezeption an? FEEDBACK heißt hier das Zauberwort. Dazu müssen wir natürlich erst einmal eine Meinung haben. Die Verquickung dieser mit einigen weiteren Faktoren (z. B. Wissen um Hintergründe) bringt dann ein Urteil zustande, das im Idealfall, von dem wir hier ausgehen, auch postuliert wird.

Rezeptions-Utilität
"Was soll denn jetzt noch kommen?", werden einige vielleicht jetzt fragen. Gemach, gemach, ein Umstand fehlt noch. Mit Hilfe der vorgenannten vier Teilgebiete läßt sich jetzt eine Art Gesamtwert des rezipierten Musikwerkes ermitteln. Wären die Ergebnisse der Teilgebiete Zahlen, bräuchte man diese nur zu addieren (und gegebenenfalls noch durch 4 zu dividieren, um einen Durchschnittswert zu erhalten). Ganz so einfach ist es aber leider nicht, denn diese Wertermittlung muß mit ideellen Mitteln vonstatten gehen. Die Gesamtheit dieser ermittelten Werte bildet dann das individuelle Gesamtwerteniveau (auf musikalischem Gebiet, wohlgemerkt).
Probleme treten an dieser Stelle auf, wenn es gilt, den Gesamtwert oder gar das ganze Werteniveau von der persönlichen Ebene auf die einer Gruppe oder gar der ganzen Gesellschaft zu übertragen. Mit dem letztgenannten Fall hat der nicht unbedingt systemfern zu nennende Bimberg selbst seinerzeit in der DDR diverse Probleme gehabt. Das Zauberwort hier muß TOLERANZ heißen.

Nachtrag
Lehmann führt einige Untersuchungen an, deren Ergebnisse ich dem Leser nicht vorenthalten möchte. Zum einen muß hier die klassische Einteilung der Funktionen von Musik genannt werden, die auf Honigsheim (1961) zurückgeht und 1991 von Behne überarbeitet wurde. Danach ergeben sich sieben Funktionsgruppen: religiös-magisch, glorifizierend, erzieherisch (auch im negativen Sinne!), sexuell erregend, freudebringend, instrumenteller Einsatz (Backgroundfunktion) sowie Selbstzweck. Daß ein und dasselbe Musikstück hier in mehreren Kategorien auftauchen kann, sollte sich von selbst verstehen.
Aufbauend auf Honigsheim untersuchte Kleinen 1985, welche Funktionen Musik für Jugendliche hat. Hier sind die Top 6 der von ihm ermittelten Funktionsliste: Background, Entspannung, Sozialkontakt, Selbstverwirklichung, Freude und Belästigung! Ebenfalls 1985 untersuchte Roe, welche Faktoren Jugendliche zum Musikhören animieren. Atmosphäre und Stimmungskontrolle standen hier an erster Stelle, gefolgt von "Vertreiben von Stille und Zeit". Auf dem dritten Platz rangiert der Text, der ansonsten in der Rezeptionslehre nirgendwo vorkommt, wohl weil die allgemeine Auffassung besteht, daß Textrezeption bei einem Musikwerk analog zur Rezeption literarischer Werke zu betrachten sei. Ob dem wirklich so ist, möchte ich an dieser Stelle offenlassen.

LITERATUR
Bimberg, Siegfried: Entwurf einer Rezeptionslehre für die Musik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1977
Lehmann, Andreas C.: Habituelle und situative Rezeptionsweisen beim Musikhören. Frankfurt/Main: Peter Lang 1994
Rösing, Helmut (Hrsg.): Rezeptionsforschung in der Musikwissenschaft. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983



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