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POPULARMUSIK - MUSIKALISCHER BAUSTEIN IN DER KIRCHE VON MORGEN?
von André Engelbrecht

Mit Beginn des Studienjahres 1997/98 erweiterte die Hochschule für Kirchenmusik Dresden ihr Ausbildungsangebot um das Fach Popularmusik.
Längst schon prägen Jugendchöre, Bands sowie Rockprojekte aller Art das musikalische Antlitz unseres kirchlichen Alltags (die "Kirchenrocker" der sogenannten Bob Dylan-Ära haben sich mittlerweile zu in Ehren ergrauten Musikerkoryphäen entwickelt). So manche Stellenausschreibung setzt demnach zunehmend auf Kompetenz im popularmusikalischen Bereich.
Die Entscheidung für diesen Unterrichtszweig trägt somit den musikalischen Bedürfnissen unserer Gemeinden Rechnung und ist daher konsequent, mag sie auch für viele brisant sein.
Dies soll jedoch keinesfalls als Versuch gewertet werden, diesen Schritt in irgendeiner Form zu "rechtfertigen". Mögen diese Zeilen dem Leser ganz einfach als Anregung dienen, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen und somit eventuell auch eine neue Sicht auf die kirchenmusikalische Problematik unserer Tage erhalten zu können.

Es fällt schwer, den Begriff "Popularmusik" mit Worten zu erfassen, da es einerseits recht verschiedene Definitionen gibt (auf eine weitere kann daher wohlwollend verzichtet werden), anderseits beinahe jede These mit einem Gegenargument in Frage gestellt beziehungsweise widerlegt werden kann.
Popularmusik umschreibt daher alle musikalischen Erscheinungsformen, die man nicht der sogenannten "Ernsten Musik" (allein diese Bezeichnung ist an Schwammigkeit kaum zu überbieten) zurechnet und die sich durch einen hohen Verbreitungs- und damit Bekanntheitsgrad auszeichnet.
Daraus wird die oft zitierte These abgeleitet, dass Popularmusik hinsichtlich ihres künstlerischen Niveaus als eher mittelmäßig bezeichnet werden kann. Angesichts der Masse an Produktionen, die uns täglich überschwemmt, reflektiert diese Meinung einerseits natürlich berechtigte Ängste, denn Popularmusik ist wie keine andere Musizierform marktorientiert; ein guter Manager ist demnach oft wichtiger als ein guter Musiker, und dieser Fakt lässt natürlich Zweifel am qualitativen Wert dieser Musik insgesamt aufkommen. Allerdings handelt es sich hierbei um kein spezifisches Problem der Popularmusik: Dies spürt man vor allem an der zur verkaufsstimulierenden Süßholzklassik heruntermutierten Kaufhausmusik, die dem Konsumenten entgegenrieselt. Oder ist in diesem Fall die Grenze zwischen E- und U-Musik fließend? Der Dresdner Komponist Rainer Lischka bezeichnet daher "E" und "U" als Begriffe aus der Musik-"Verwaltung."
Anderseits steckt, bewusst oder unbewusst, hinter dieser These auch ein gehöriges Maß an Arroganz. Wer sich ihr allzu schnell anschließt, kann sich nie ernsthaft mit der Musik beispielsweise von Pink Floyd, Genesis oder Sting auseinandergesetzt haben (unabhängig davon, ob diese Musik gefällt oder nicht).
Wie waghalsig der Begriff "Niveau" eigentlich ist, wird deutlich, wenn er zum Beispiel im Kontext mit Kinderliedern steht, obwohl man auch oder gerade hier nicht unkritisch sein sollte.
Popmusik (vielleicht nicht immer gleichzusetzen mit Popularmusik, da dieser Terminus oft auch als allgemeine Bezeichnung für Volksmusik dient, popular music hingegen oft für Entertainmusik oder Musical steht) ist vor allem wegen ihrer Rhythmik und ihrer Sounds eine moderne Musik und prägt somit aktuelle Trends beziehungsweise orientiert sich an ihnen. Und: Popmusik ist global. Ein in New York produzierter Rap unterscheidet sich daher kaum von dem aus Berlin oder Kapstadt.
Immer deutlicher kristallisiert sich auch ein kompositorisches Novum heraus: War früher eine Melodie (im weitesten Sinne) die Ausgangsidee einer Komposition (später und vor allem im Jazz waren es auch Akkordprogressionen), so bildet heute oft ein am Computer entstandener Drumgroove das Herzstück eines Songs. Melodie oder ein harmonisches Gerüst spielen, wenn überhaupt vorhanden, manchmal eine eher untergeordnete Rolle. Auch dieser Tatsache kann man, wenn man dies will, kritisch gegenüberstehen.
Musik, gleich welcher Art, dient auch zum Transport von Botschaften; sie ist also ein Instrument der Kommunikation. Hierbei kann es sich um Gefühle, Themen aus dem täglichen Leben, politische Ansichten u.v.m. handeln. Angesichts der Lehren der eignen Geschichte sollte gerade uns Deutschen die Bedeutung des Mediums Musik stets bewusst sein; im Negativen (braune und rote Kampflieder) wie im Positiven. Nicht zuletzt waren es neben vielen anderen Künstlern Liedermacher und Rockmusiker, die, damals vielleicht auch oft unbewusst oder aus anderen Motiven heraus, den Nährboden für die friedliche Revolution des Jahres 89 in der ehemaligen DDR mitbereiten halfen. Aus der großen Schar derer seien hier nur Wolf Biermann und Renft genannt.
Zu neuen Sachthemen benötigt man neue Ausdrucksformen. Und wer John Lennons (allerdings auch nicht mehr ganz taufrisches) "Cold Turkey" kennt, in dem er über das Loskommen von Drogen mehr schreit als singt, weiß, wovon hier die Rede ist.
Insofern ist also die Entscheidung für dieses Unterrichtsfach an unserer Hochschule nicht nur als die "Reaktion einer Institution" auf die musikalischen Bedürfnisse unserer Gemeinden zu verstehen, sondern vor allem eben als Bereicherung und Chance, mit musikalisch anderen Mitteln, zeitbezogen und oftmals vielleicht auch tiefgründiger mit Erwartungen, Ängsten, Freuden und Sehnsüchten im persönlichen und gesellschaftlichen Miteinander umgehen zu können.

Die Studenten werden nicht zum Popstar ausgebildet. Vielmehr soll sich der Unterricht am "Bedarf" orientieren. Nicht: Was kann alles vermittelt werden, sondern: Was erwartet den künftigen Absolventen in seiner späteren musikalischen Praxis; beispielsweise das Umsetzen von "Melodie" mit Akkordsymbolen (lead sheet) in eine dem Charakter dieses Stückes entsprechende groovige Klavierbegleitung oder ein Bandarrangement.
Auf dem Wege dahin werden zum Beispiel Stationen wie Akkordsymbolschrift und Kadenzspiel aller Art und unterschiedlicher Stilistik durchlaufen; einerseits um diese problemlos und vor allem schnell abzurufen, anderseits stereotype Klischees eben ganz bewusst durchbrechen zu können.
Vor allem aber soll damit auch die Fähigkeit (und oftmals auch etwas Courage!) antrainiert werden, beispielsweise Akkordvoicings eigenständig zusammenzustellen und zu rhythmisieren, zum "Grooven" zu bringen und damit natürlich Klänge vorauszudenken.
Es geht nicht darum, sich dieses oder jenes Musikstück zu erüben, sondern um das Aneignen von "popularmusikalischem Handwerkszeug"; die sprichwörtlich "eigene musikalische Handschrift", die "Frechheit", das vorgegebene Notenbild bzw. lead sheet nicht bedenkenlos zu akzeptieren, sondern kritisch zu hinterfragen, entscheiden zu lernen, sich beim Transponieren auf das Wesentliche zu konzentrieren, andererseits eigene Ideen einzubringen, zum Beispiel durch Reharmonisieren oder eine "gekonnte" Basslinie. Die sehr gute klassische (oder besser: traditionelle) Ausbildung schafft dafür ideale Voraussetzungen. Sich spielend mit der vielleicht noch fremden Materie vertraut machen, erkennen, dass eine raffiniert klingende Akkordfolge so oder ähnlich schon Meister Bach verwendet hat, ein Gespür dafür zu bekommen, dass man mit einer blue note zwar richtig "daneben liegt", dies aber nicht unbedingt ein falscher Ton sein muss (Wer kann übrigens genau sagen, was falsche Töne sind?!).
Zusätzlich stattfindende Seminare durch Gastdozenten (z.B. Schlagzeug/Percussion, Keyboard, Elektroakustik/Bandequipment) sowie das jährliche "Popularmusik"-Wochenende, an dem Studenten ihre komponierten und arrangierten Songs mit Band und Chor proben und der Öffentlichkeit zugänglich machen, ergänzen die Ausbildungspalette.
Insofern umfasst die Unterrichtskonzeption Harmonielehre, Rhythmik, Stilkunde, Gehörbildung, Klavier- und Arrangierunterricht.
In dieser Bandbreite liegt jedoch auch die Hauptproblematik, die mit dem Fach Popularmusik ständig einhergeht: Vieles kann nur angerissen werden, und noch mehr kommt in der begrenzten Unterrichtszeit sicher zu kurz.

Abschließend sei zu diesem Thema gesagt, dass Popularmusik der Zweig der Musikgeschichte ist, den wir mehr oder weniger bewusst miterleben dürfen (manchmal müssen). Es liegt in einem nicht geringen Maße auch an uns, sie in einer ansprechenden Weise mitzugestalten. Insofern ist das Auseinandersetzen mit dieser Musik von heute eine wichtige Voraussetzung, um über die Kirche von morgen nachdenken zu können.



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