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LEIBFEINDLICH: CHRISTLICHE ROCK- UND POPMUSIK
von Rolf Tischer, Gemeinde- und Jugendpfarrer aus Berlin

Willst du Mitleid mit dem weißen Mann haben,
so schau ihm beim Tanzen zu! (Altes Afrikanisches Sprichwort)

Längst sind die Zeiten vorbei, wo obiges, ethnologisch nicht belegtes Sprichwort seine unbestrittene Gültigkeit hatte. Seit Rock´n Roll, seit den Clubs und Beatkellern der 60er, seit dem Disco-Fever der 70er und allerspätestens seit den Love-Parades, den Straßenparties der Raver in den 90ern (im Juli 1994 z.B. tobten 100 000 junge Leute durch die Berliner City zu Techno-Klängen) ist klar: auch der Mensch (allerdings vor allem der weibliche) kann ekstatisch tanzen, im Einklang mit der Musik und dem eigenen Körper, und ist dabei sogar schön anzusehen, womöglich erotisch "anmachend".
So scheint sich die Leibfeindlichkeit des Abendlandes inzwischen auf einen Teilbereich der Bevölkerung zurückzuziehen: auf die Männer im allgemeinen, auf ältere, konservativ-bildungsbürgerliche Kreise im Besonderen, aber leider eben auch auf jene, die sich selbst als Christen verstehen. Sie (und nicht nur Phil Collins) können und wollen nicht tanzen, jedenfalls nicht so "enthemmt". Das Sprichwort ließe sich also umwandeln: "Willst du mit den Christen Mitleid haben, ..."
Doch nun gibt es ein innerkirchliches Heilmittel - die christliche Rock- und Popmusik! Die bringt frischen Wind in die verstaubten Gemeinden und Gottesdienste, dort hat das Lebensgefühl junger Menschen eine Heimat, so möchte man denken. Doch die Realität läßt hier erhebliche Zweifel aufkommen. Woran liegt es denn, daß bei Bands aus der christlichen Szene so oft das Gefühl entsteht: gut gemeint ist noch lange nicht gut gekonnt? Warum kommt so schnell ein entschuldigender Sympathiebonus auf, aus grundsätzlicher Solidarität mit der Sprache, um die es geht? Natürlich machen viele Kritiker bewußt oder unbewußt den Fehler, Äpfel mit Kartoffeln zu vergleichen - will sagen, Amateurbands aus dem christlichen Bereich mit internationalen Top-Acts, wie sie auf CDs und Videos allgegenwärtig sind. Mit einem Vergleich aus der Welt des Sports: Borussia Dortmund gewinnt allemal gegen eine Mannschaft mit Kreisklassenniveau, egal ob diese im DFB oder in der Evangelischen Sportjugend organisiert ist. Also, der Vergleich muß fairerweise in der Regel schon zu "normalen" Amateurbands gezogen werden. Das geht dann günstiger für die christliche Szene aus, zumindest auf handwerklichem Niveau, leider jedoch nicht beim Gesamteindruck, bei der Atmosphäre, bei dem, was "rüberkommt". Die christliche Szene wirkt leibfeindlich, moderner ausgedrückt: irgendwie verklemmt. Stellen wir uns die Band X aus der Kirchengemeinde Y vor. Warum so wenig tänzerische Bewegung auf der Bühne? Warum so grüblerische Texte, die nur die Aufmerksamkeit des Kopfes auf sich ziehen? Das Wort "Leibfeindlichkeit" ist selber ein altertümliches Monstrum, das ich von nun an durch einige umschreibende Fragestellungen ersetzen möchte. Warum so brave Klamotten, so geordnete Arrangements? Warum wird so wenig riskiert, warum ist alles so gesittet? Rock- und Popmusik lebt doch im Grunde von dem Gefühl, daß jetzt hohe Zeit ist, daß jetzt das Fest stattfindet, daß jetzt "die Post abgeht" - härter oder weicher - aber sie geht ab. Zu den Geschenken, die uns der Schöpfer Gott macht, gehören Sinnenfreude, Sexualität, Erotik, Spiel, Flirt, Spaß, Begeisterung. Und Rock- und Popmusik, die zum Tanzen und Ausflippen einlädt, ist genau das richtige Medium, diesen Gott dafür zu preisen. Warum spürt man das bei Christen so wenig?
Die christliche Szene stellt sich offensichtlich selbst ein Bein, weil und wenn sie sich nach allen Seiten absichern will: Der Text muß deutsch und gut verständlich sein, er muß genügend christliche Eindeutigkeit haben. Die Musik ist Mainstream-Rock oder -Pop, damit niemand verprellt wird (und entspricht oft natürlich auch dem Geschmack der MusikerInnen - ausgefallenere Musikstile oder Bandbesetzungen kommen sehr selten vor), der Auftritt muß gottesdienst- und gemeindekompatibel sein. Außerdem will man sich von der "säkularen" Szene absetzen. Verständlicherweise will man deren Schielen aufs Geld, deren Technomanie, ihren Manipulationsmustern, ihrem Sexismus, ihrer generellen "Sündhaftigkeit" nicht verfallen. Hier wirkt die alte Verdammung der Rockmusik als Musik des Teufels tief im Unbewußten nach. Natürlich kommen wir hier auch an einen Knackpunkt, wie denn ein "Image" einer Rock- und Popmusik aussehen könnte, das sich von den gerade zu Recht kritisierten Aspekten kommerziellerer Rock- und Popmusik nicht nur moralinsauer absetzt. Dazu am Schluß einige Bemerkungen.
Doch zunächst noch etwas Detailkritik:

Der Gesang
Er ist die zentrale emotionale Botschaft eines Songs, einer Band. Überall auf der Welt sind Bands ständig auf der Suche nach Sängerin oder Sänger. Es gibt eben nicht viele Leute, die wirklich ausdrucksstark, individuell und "anrührend", "anmachend" singen können. Die Stimmen schwarzer Gospel- und SoulsängerInnen sind deshalb so aufregend, weil wir unmittelbar die über Generationen angesammelten Erfahrungen von Leid und Sexualität darin spüren. Will sagen: was ich nicht erfahren habe, kann ich auch nicht stimmlich ausdrücken. Vielleicht mache ich jetzt auch wieder den Fehler, Bundesliga mit Kreisklasse zu vergleichen; auch der Altersunterschied, die Lebenserfahrung spielt eine Rolle. Aber: mehr Mut, stimmlich aus sich heraus zu gehen, versuchen, "dreckig" zu singen, die Blue notes auszukosten, die Wellen der Rhythmus-Power zu reiten! Meines Ermessens war es ein über tausend Jahre alter Irrtum der Theologie, Rhythmus und den Heiligen Geist als sich gegenseitig ausschließende Größen zu betrachten.

Der Text
Natürlich sind es auch die Worte, die klingen - manche sind singbar, manche nicht. Die Sinnlichkeit liegt vor allem in den Vokalen. Und da hat für mich die englische Sprache und jeder Dialekt viel mehr zu bieten, als es sauber artikuliertes Hochdeutsch jemals vermag. Und die Christenbands haben natürlich einen Anspruch. Botschaft muß her und rüber. Mit wenigen Worten das unplakativ zu machen, ist unendlich schwer. Dabei wäre oft weniger mehr, auch beim dogmatischen Gehalt der Texte. Gutes Mittel gegen Langeweile: keinen Text ohne einen kleinen Schuß Häresie (Poesie = Häresie), der Neues, Ungewöhnliches sagt; kein Text, der alles sagen will, sondern das Fragment riskiert, dem Zuhörer zutraut, sich den Rest zu denken. Sonst wird die Sache starr und kopflastig, und was sich dann höchstens bewegt, ist der Kopf, der sich bedenklich hin- und herwiegt ...
Der Rest bleibt regungslos. So entsteht vieles im Stil der Songwriter-Problemwälzer, der Liedermacher-Politbarometer. Solche Songs sind auch wichtig, aber tanzen kann man dazu nicht. Wie wär's denn mit einem Text, in dem die simple Liebe vorkommt, die erotische Anspielung, der politische Nonsense? Christliche Songs leiden unter dem Verdikt der Erkenn- und Verstehbarkeit. O wie schwer ist es, Kopf und Bauch zugleich anzusprechen! Ein schöner Song über eine tolle Liebesnacht, verbunden mit einem Lobpreis Gottes, ohne daß dies grotesk, blasphemisch oder lächerlich wirkt (ich kenne keine solchen Lieder), dafür sollte der Kirchentag mal ein Preisausschreiben machen und nicht für die hundertste Vertonung der Losung.

Der Musikstil
Keiner sollte eine Musik machen müssen, die er nicht mag. Also kein Schielen auf das, was gerade aktuell ist. Aber auch keine Bravheit aus Feigheit. Im lebendigen Austausch bleiben mit dem, was musikalisch auf der Welt passiert. Viele Platten hören, Konzerte besuchen, nachspielen. Und barmherzig mit den eigenen Grenzen umgehen. Und darüber hinausgehen. Aber bitte nicht die Samstagabend-Volksmusik-Sendungen (ist gar keine Volksmusik, sondern der dezentralisierte deutsche Schlager mit internationalem Rhythmuscomputer) als Meßlatte. Die Sinnlichkeit kommt in die Musik, wenn ich sie beim Musizieren selbst erlebe - es überträgt sich alles: ob es mir gut geht, ob ich mich überfordere, ob mich die göttlich-musikalische Kraft beim Schopf packt.

Der Auftritt
Wie breitbeinig darf der Trompeter stehen, wie hohl das Kreuz des Saxophonisten, wie steil der Anstellwinkel der E-Gitarre sein? Wie körperbetont darf die Kleidung der Sängerin sein, wieviel Show ist überhaupt erlaubt? Schnell ist da die Schere im Kopf, die Zensur, die Erziehung, die Angst vor dem Obszönen, vor Darstellung von Sexualität da. Aber Achtung, bzw. keine Angst, es käme nun die Aufforderung, hier endlich "die Sau rauszulassen" - längst ist aus diesem Bereich alle Unmittelbarkeit verschwunden. Keine Geste, die nicht schon tausendmal wiederholt und nachgemacht worden wäre. Michael Jackson hat recht, wenn er seinen beliebten Griff ins Gemächt nicht als sexuelle Provokation, sondern als authentisch-ästhetischen Bestandteil seines Tanzstils deklariert. Hier ist bereits alles Kultur, alles Klischee, und wir Christenleute kämen mal wieder zu spät und würden uns lächerlich machen, wenn wir solche Bühnenshows kopieren wollten. Aber es lohnt sich, zuhause im stillen Kämmerlein diese Gesten seit Elvis' Hüftschwung, über Jimi Hendrix' Gitarrenbehandlung bis zum Hip-Hop auszuprobieren, welche ursprünglichen Gefühle damit verbunden waren, diese Mischung aus Tabubruch, Anzüglichkeit und unmittelbarer körperlicher Lust. Übrig bleibt heute auf alle Fälle eine Art Aerobic-Gymnastik! Es bekommt alles Form, und wir entgehen ihr nicht. Alles gerinnt zu Kultur, will und kann gelernt werden, verliert aber die künstlerische Originalität.
Also, was tun auf der Bühne?
Natürlich nicht die Anmache, die durchschaubare, natürlich nicht die Kopie. Aber - durch alle Vermarktung, alle Cleverness, alle Selbstinszenierung hindurch, haben natürlich mediale Stars wie Tina Turner, James Brown (um etwas für die jüngere "Großelterngeneration" zu nennen), Prince, Madonna und auch Michael Jackson (für die Elterngeneration), aber auch die Akteure aktueller Teeniegruppen eine Aura, eine erotische Ausstrahlung, die zum Teil sicherlich auf getrimmter Bühnengewandtheit beruht, aber genauso auf einem traumtänzerischen Bei-Sich-Sein (und zugleich Außer-Sich-Sein) als Person - wie aller künstlerischen Leichtigkeit etwas Erotisches anhaftet. Solche Hingabe und Furchtlosigkeit, vielleicht auch ein Schuß Exhibitionismus tut jedem Auftritt gut. Also, das Publikum anturnen, anmachen wollen, nicht wegen des Plattenumsatzes, sondern um das Leben zu feiern - nicht um den "Spaß", die "Geilheit" als solche zu vergöttern, sondern um dem zu danken, der uns solche intensiven Glücksgefühle schenkt
Zum Schluß: Wie entgehen wir dem Klischee, dem Kommerz, der Traumfabrik? Einiges ist ja schon gesagt. Nicht mit Leibfeindlichkeit, sondern mit einer unbekümmerten Sinnlichkeit. Die SängerInnen müssen nicht aus dem Modeheft der BRAVO entsprungen sein, aber es sollte zu spüren sein, daß es ihnen jetzt wirklich gut geht oder daß sie die Probleme auch wirklich haben, von denen sie singen. Keine perfekte Bühnenshow, aber Bewegung, Flirt und spürbare Lust der Akteure aneinander und an dem, was sie da gemeinsam machen. Texte mit Geist, mit Poesie und Humor, mit persönlicher Erfahrung im Hintergrund. Einfach Lobpreis des Schöpfers und seiner Schöpfung!
Ich vermute, wir haben noch gar nicht richtig kapiert, daß Er uns eine Kultur der Liebe, des Leibes, des Tanzes, des Feierns (auch im Gottesdienst) aufgegeben hat. Aber was nicht ist, kann ja noch werden!



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