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Schrecklich, diese Gegenwart immer wieder: Die Schaubühnen als moralische Anstalt
von Henner Kotte

Theatern wirft ein Mancher vor, sie hinken der momentanen Zeit hinterher und bemotzen den Spielplan lieber mit Klassikern oder ollen Kamellen. Ein Vorwurf, dem einige Dramatiker und Theater schnell begegnen und Tagesthemen auf die Bühnenbretter stellen. Dies ist ja an sich nix Schlechtes, oft jedoch nur halb durchdacht, ob vom Autor oder Regisseur sei dahingestellt.
1993 steckte jemand in Solingen ein altes Haus an. Brennende Türken sprangen aus Fenstern, und Menschen verstarben. Erschütterung und Fremdenhaß. Bedauern und neue Gewalt. Sofort demonstrierten Leute wider den Rassismus, für Toleranz und Nehmet-Einander-An. Aber Lichterketten und Gesänge sind Folge, also immer danach. Re-Aktionen verhindern kein Übel, sie zelebrieren guten Willen und eher sich selbst. Dies Zeitgeschehen ein Thema für´s Theater? Für Autor John von Düffel war sein Stück „Solingen“ „ganz klar eine Reaktion, und zwar auf eine gewisse Hilflosigkeit oder Ohnmacht bei diesem Thema, das mich ziemlich erwischt hat und zwar nicht in einem abstrakten Sinne, sondern weil ich in Stendal war, für dpa berichtet habe über die Asylantenbelagerungen“. Jetzt reagiert das Theater in der Fabrik Stadt Dresden und zeigt uns John von Düffels Reaktion.
Ein gestandner Lehrer ist verliebt in eine Pädagogikstudentin. Und so nimmt es nicht Wunder, daß sich beide vor, während und nach der Liebe über die Schule und so unterhalten. Wie schreitet man ein, wenn der Aufsatz sprachlich exzellent, im Inhalt aber profaschistisch ist? Tut man eigne Meinung kund? Können solchen Kindern deutsche Humanisten helfen? Reicht es, wenn man drüber redet? Klar prallen nicht nur die Geschlechter, sondern auch Meinungen aufeinander. Der Lehrer sieht vieles mit Gelassenheit, während die Freundin dies nicht so einfach abtun will. Und so paukt sie Schiller (ja, Friedrich) und macht sich Konzeptionen für die Bildung. Voll logisch besteht sie ihr Examen an der Hohen Schule. Doch nun wartet die Praxis, die Liebe dazu. Und derweil das Lehrerpärchen diskutiert, brennt ein Haus draußen samt Ausländer ab. Sie unterbrechen ihr Gespräch (gehör‘n die Täter etwa in die eigne Klasse?), und dann geht die Liebe weiter. Auch die zu den Schülern.
John von Düffel ist als Autor an Jahren jung und in Gegenwart ein Liebling literarischer Debatten. Und mit „Solingen“ trifft er schon den Nerv deutscher Befindlichkeit. Wir wissen alle, was dieses Stück soll, was uns der Autor sagen möchte. Und so kommt im Text auch sämtliches Bildungsgut unter, welches lieb und teuer ist: All die allbekannten Zitate von Ringparabel bis zu humanistischen Appellen und Briefen: Die Bühne als Anstalt moralischer Bildung. Ein Text, der einfach mal gesagt werden mußte. Bingo. Und so lassen die Regisseure Axel Möller und Kai Schubert die Darsteller Gabriele Völsch und Silvio Hildebrandt reden. Die Absicht spür ich wohl, allerdings mir fehlt die Inszenierung. Unverständlicherweise räumen die Akteure gezimmerte Quader mal so, mal wieder anders im Bühnenraum um (Bildnerin: Frauke Menzinger). Sie sprechen Zitate und eigenen Text hin zur Wand und an einander vorbei. Selbst der Literatur-Strippoker wirkt akademisch, kaum sexy. Was damit über die Rampe schwappt ist ein Pamphlet ans Publikum. Lehrer und Studentin reden schön und intelligent über‘s Problem und bleiben in ihren eigenen Ansätzen stecken. Eigenartige Beziehung das. Und was sie sagen, hören wir aller Orten auf den Betroffenheitskundgebungen von Bundespräsident bis Schuldirektor. Und nun im Theater. Diesen Ansatz lob ich nicht. Zumal das Stück mehr hergegeben hätte, im Text steht‘s deutlich provokanter. Wo marschiert denn die schweigende Masse? Wo ist das ernst(gemeint)e Gespräch zwischen engagierten Personen? Die Inszenierung verzichtet ganz einfach drauf. Hier streitet sich keiner, man verkündet. Die Schauspieler erhalten keine Gelegenheit Charaktere zu gestalten, die verändern wollen mit Herz und Verstand, sie sind auf nett anzuschauende Schablonen reduziert. Die seh ich jeden Tag im TV. Das genügt. Und dieses Gerede über das, was man tun müßte und könnte und sollte, kenne ich auch. In diesem Sinne ist „Solingen“ überall und schlechtes Theater. Sorry, allein auf den guten Willen gibt‘s keine Punkte.
Bilder von der andren Seite der Erziehung kennen wir aus Altenburg und Gera, dort zieht die „Lederfresse“ mit der Kettensäge voll durch. Halle bringt auch was zum Thema und Chemnitz, und in Jena wird‘s ganz heiß mit‘m „Feuergesicht“. Fast keine Bühne wo nicht Jugend und Gewalt und Ohnmacht Zuschauern vorgeführt werden. Im Sinne von „das war‘s. Da hatte ich mir etwas eingebrockt! Und ich war noch keine sechzehn ...“ Spätestens seit „clockwork orange“ finden wir diese ausgeflippte Gewalt beschrieben. Und dies verfaßte Autor Burgess anno 62 des vergangnen Jahrhunderts. Auch das orangefarbige Uhrwerk ziert gegenwärtig den Spielplan vom Theater der Jungen Welt in Leipzig und glaubt sich seinem Namen der Jugend verpflichtet. Jetzt kommt noch mehr „Fun“ dazu, ein Stück über junge Mädels. Geschrieben hat‘s James Bosley. Also, da haben zwei girls den Alltag satt zu Hause und im Heim. Sie machen sich auf die Straße, begegnen einander und erleben tiefe Freundschaft und funny fun immer wieder. Das kann natürlich nicht gut gehen. Geht es auch nicht. Zum bösen Ende hin wird ‚ne alte Frau so hingestochen und ist einfach tot. Erzählen tun die girlies ihre Geschichte wahlweise einer Sozialpädagogin oder ´nem sensationsgeilen Reporter. Yeah, so neu ist das alles nun wieder nicht. Clockwork orange beschrieb es. Zeitungen melden es. TV zeigt es. Und wirklich gibt es diese Gewalt auf den Straßen. Der muß man begegnen mit gutem Willen und Angeboten zur Diskussion. Die Jugendtheater landauf landab inszenieren uns kiddies und teens und die neuen Alten und die Grufts. Ob „the same procedure“ on stage jedesmal wieder begeistert, mag ich bezweifeln.
Den Leipziger „Fun“ hat Vlad Massaci auf die Bühne vom Lofft gesetzt. Und eigentlich ist jedes flott hintereinander gebracht. Die Schauspieler sind ganz gut drauf und bemühen sich echt um lebendiges Spiel. Klar sind die Charaktere (vornehmlich die der Erzieher) ein bißchen arg grotesk geraten. Klar hören wir vom Kindesmißbrauch und der Desolation aller Orten. Klar haben wir für die bösen Mädchen Sympathie. Zwar rasten die nebenbei aus so irgendwie, aber dies ist uns Anlaß mal drüber zu reden. Talken wir uns also aus übers Thema. Es ist doch wichtig. Und damit degradiert sich die Inszenierung zur Literaturstunde herab, zwar ungewöhnlich, aber trotzdem Schule. Der didaktische Finger leuchtet aller Orten. Das ist ja nicht eben zu tadeln. Sucht Sachverhalte, Gründe, Ursachen für gemeines Tun, Gewalt und Haß erstmal bei Euch selbst, dann daheim, dann in Schule und Gesellschaft (die wird nämlich im Stück fast ausgeblendet) und sprecht. Desderwegen geht mein Appell an alle Lehrer und Schüler: Gebt Euch den „Fun“ und redet darüber. Meißen ist Leipzig ist Rostock ist Köln ist ... Das darf sich niemals wiederholen! Politiker, Erziehende, ja Künstler sagen es sich und Euch immer wieder und wieder und wieder. Die alle geben die Hoffnung nicht auf. Begreift es und ab ins Theater!
 
 




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