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Neues aus der Theaterwelt (16.08.2009)
von Henner Kotte

Achtung, Zugdurchfahrt!
Der nt-Jugendclub sucht den Ausgang

Der Zug ist nicht abgefahren, er hält in der Provinz gar nicht mehr an. Die Kids schauen nicht nur ihm hinterher, das Leben zieht an ihnen vorbei. Aufschwung und Mitreise ist unmöglich. "Exit" bezeichnen die jungen Darsteller das Genrebild, das sie von Halle zeichnen. "In was für einer beschissenen Welt leben wir eigentlich?" Eine Antwort gibt keine Bundesregierung, keine Bürgermeisterin und nicht das Stück.
"Exit" stellt jedoch die richtigen Fragen. Markus will den Erfolg und 'nen Porsche. Sabine erhält nicht mal im Supermarkt Ware. Alissa dünkt sich schön, ist aber untalentiert. Tom ist süchtig und begeistert musikalisch. Klaus ist vom Bau und redet auch so. Julia singt von der Liebe in der Tasche. Preben ist ein sportlicher Freak. Luni meditiert für das Gute in aller Welt. Josip tippelt und spielt Oboe. Der darstellerische Höhepunkt bleibt Peter, der sämtliche Workshops zur Selbstfindung besucht. Im wirklichen Leben heißen alle ganz anders, fürs Stück jedoch haben sie ihre Identitäten gewechselt (die muss man im Programmheft lesen).
Yves Hinrich, selbst noch zur jungen Garde gehörig, inszenierte "Exit" in die Werft des nt. Der Text eine Collage aus Liedern und Büchern, Selbstempfundenem und Improvisation. Was als Bruchstück daher kommt, wird Einheit. Das verblüfft. Die darstellenden Laien agieren professionell, wenn sich auch deutlich die Begabungen unterscheiden. Dachten wir erst, Tom versinkt im eigenen Schleim, mausert er sich zum musikalischen Highlight. Der Peter rappt mit. Da schlummert das Talent nicht mehr, da ist's ersichtlich. Klasse.
Seelenqual und Seelenlage der Teens zeigt die Inszenierung ohne Mätzchen und gequirlten Quark. Sie illustriert den Zustand der kleinen Welt nicht allein mit Worten, sie bezieht alle Spielarten ein: Musik, Breakdance, Akrobatik und vieles andere mehr. Die Regie setzt auf die Stärken der handelnden Personen, damit bleibt uns das Gruselbild engagierten Laientheaters erspart. Das freut den Theatergänger und den Kritiker erst recht. Denn vieles, was das Theater zeigt, ist Durchschnittware und schnell vergessen. Hier zeigt sich Theater von der andren Seite und unverkrampft. Wir fühlten uns denkend gut unterhalten.
"In was für einer beschissenen Welt leben wir eigentlich?" Die Kraft der Veränderung ist der Jugend immanent. Die Fragen jedoch beantwortet sich ein jeder selbst - oder eben nicht. Aber eben da fährt der Zug am Leben vorbei. In Halle hat er gehalten.

Der Satan küsst die Puppe
Klassik entschlackt: Das nt zeigt "Faust"

Was nützt alles Wissen der Welt, wenn einem die Liebe fehlt? Eben, man lebt am Leben einfach vorbei. Und wohin dann mit seinen Gefühlen? Und so bittet der intellektuelle Forscher seinen Kompagnon Mephisto, ihm die Maid zu bringen, für die sein Herze schlägt. Der Teufel muss, ob er will oder nicht, Vertrag ist Vertrag. Aber um die Gretel in Heinrichs Bette zu kriegen, muss er sich was einfallen lassen, gar selbst seine Männlichkeit beweisen. Und so knutscht der Satan unter Ekel Püppchen Marthe. Der gefällt's. Und Faust hat auch seinen Spaß bis zum bitteren Ende.
Es ist die alte Geschichte, doch ist sie ewig neu. Christoph Werner hat nach Behebung des Dachschadens seinen "Faust" in den wieder eröffneten großen Saal des nt gesetzt und erzählt der Goethschen Tragödie ersten Teil als beinah Zweipersonenstück. Sicher gibt es all die andern, die der Geschichte Würze geben von Engeln, Geschwistern, Schülern und Hexen, doch durch geschicktes Textarrangement gelingt es dem Team, sich auf die Kontrahenten zu konzentrieren. Praktisch und gut.
Der Doktor Faust möcht' gern ergründen, was die Welt im Innersten zusammenhält, und Gott gestattet dem Teufel, ihm des Wissenschaftlers Seele zu entreißen. Faust würde zum Höllenkind und sagt dem Teufel letztendlich: "Zum Augenblicke dürft ich sagen, verweile doch, du bist so schön." Mephisto ist sich seines Sieges sicher. Auf diese Worte hin war der Pakt geschlossen ja ehedem worden. Doch die Möglichkeitsform des Satzes lässt auch andere Interpretationen zu. Wir haben uns weiland im Unterricht drüber Gedanken gemacht.
In Halle durchwandern Teufel und Faust zunächst die kleine Welt, also unsere. Dabei gibt Jörg Liechtenstein den Intellektuellen erstaunlich lebensnah und jung. Ja, diesem Menschen nimmt man Forschergeist und Liebeswahn ab, der hätte gar nicht in der Hexenküche zum 18-jährigen hölzernen Trampel geformt werden müssen. Aber auch Gretel ist ein Püppchen aus Holz. Nur Mephisto bleibt Mensch Hilmar Eichhorn aus Fleisch und Blute.
Regisseur Christoph Werner lässt überraschender Art die Liebesgeschichte durch Puppen spielen. Genauso ungelenk, steif, wie man sich eben bei ersten Lieben verhält. Sittsam und wild, zärtlich wie grob. Gretel hat den Schaden und das Kind unterm Herzen. Sie bringt es um. Erst angesichts des Todes seiner Geliebten schlägt dem Intellektuellen Gewissen und Herz. Die Puppe wird wieder Mensch, Fausts Gefühle sind jetzt erst ganz ehrlich. Doch seine Metamorphose hilft dem armen Mädel nicht mehr. Gretel führt man am Morgen zum Henker. Aus der Traum und das Stück.
Durch die Reduktion auf Faust als wissbegierige und liebende Person verspielt sich die Kopflastigkeit dieses Textes. Dem können wir folgen, ohne die Interpretationshilfen aus der Tasche ziehen zu müssen. Und da es dem Ensemble in Gänze gelingt, Theaterlaune und -lust zu verbreiten, empfehlen wir die Inszenierung. Auch eignen sich die hölzernen Püppchen verblüffend, die Ohnmacht der Gefühle zu demonstrieren. Nachbarin Marthe lässt dem Satan keine Chance, das Mannsbild muss in ihr Bett. Not und Vertrag gehorchend folgt ihr der Teufel. Der berühmte Pudel mit seinem Kern läuft per Animation über die Tabellen und Formeln des Doktors. Das Bühnenbild von Angela Baumgart-Wolf gibt den Schauspielern die Möglichkeit, sich ihre Welten selbst zu erschaffen, ob Studierzimmer, Brocken oder Osterspaziergang. Der nämlich gehört zum Faust einfach dazu wie Auerbachs Keller, Walpurgisnacht und Gretchens Tod.
Grüß Gott! Wir freuen uns, Doktor Faust in Halle an der Saale zu sehen. Diese Inszenierung leichter Hand ist nach unserem Geschmack und wir empfehlen sie nicht nur für die Pflichtstunden des Deutschunterrichts. Für die aber auch.

Mösenschleim und geriebener Penis
"Feuchtgebiete" fluten das nt

Pullermann! Scheiße! Es ist verbreitete Unsitte, markttaugliche Bücher schnell auf Bühnenboden zu setzen. Christina Friedrich ließ sich von Autorin Charlotte Roche und deren intimen Schleimereien der "Feuchtgebiete" beeindrucken. Kotze! Schließmuskel! Junges Mädel verarbeitet familiäre Depression mit Blut, Sperma, Fäkalexperimenten. Das scheint auf den ersten Blick ein Skandal, auf den zweiten gut gezirkelte Provokation, auf den dritten eine arme Sau, die so was nötig hat. So wirkt's auch im Theater. Hat ein Kleinmädchen doch schlimme Wörter wie Arsch und Votze aufgeschnappt und haut die der sittsamen Familie am Mittagstisch um die Ohren. Im Moment ist die geschockt. So was sagt man aber nicht! Ätsch Analverkehr! Ist gut nun, versucht man den guten Ton wieder herzustellen. Ficken! Bumsen! Dildo! Klitoris und Eichel! Wenn du denn unbedingt willst … Wer jenseits der Pubertät, den kann die Orgie nicht beeindrucken.
Dabei wuchten sich die Schauspielstudenten Lisa Bittner, Stefanie Rösner, Ines Schiller, Benjamin Berger, Matthias Faust, Bastian Reiber und Benjamin Schaup wirklich die Seele aus dem Leib, hantieren mit eklem Zeug, bespritzen und beerden sich, waten in Blut, wichsen und zeigen Arsch. Eiterpickel! Gonorrhö! Sowas aber auch! Der Regisseurin Christina Friedrich gelingen durchaus eindrucksvolle Bilder, geschickt wird Video und Bühnenraum verbunden, schön und schräg klingen die Choräle. Ja, auch das Bühnenbild ist sehenswert. So kommen die Spieler aus gebärmuttergleichen Nierenschalen unschuldig weiß. Im Fortgang der Tirade werden sie so dreckig, dass sie sich in ihrer Haut nicht mehr wohlfühlen können. Da gibt die Inszenierung sich selbst den Kommentar. Kitzler! Schamhaar! Wirklich taucht im ekligen Wörtersee die geschundene Kleinmädchenseele auf und geht gleich wieder unter. Mitleiden mit ihr können wir nicht. Dort genau aber hätte die theatertaugliche Potenz der Schweinerei gelegen. Pisse! Kackwurscht! Die aufgesagten Textstellen wollen provozieren, fallen jedoch schnell in ihrer Kleingeisterei zusammen. Mösenschleim! Wichse! So bleibt's, was es im Buche war: ein bissel Masturbation, ein bissel Inkontinenz und viel Ficken ohne Orgasmus.
Wer jedoch in seiner Findungsphase, nicht raus ist aus der Pubertät, den kann das Stück begeistern. Ich hör schon die kickrigen Weiber und rülpsenden Knaben. Schulklassen rein ins Theater! Den Lehrer lasst draußen.

Im Wald der Gefühle
Die Liebe in der Sommernacht präsentiert uns das Thalia

Die Hermia liebt den Lysander, Helena Demetrius. Nur dieser will partout vom Lysander die Kirsche für sich. Theseus und Hippolyta sind lange schon vermählt und können nicht mehr so recht miteinander. Und Oberon liegt mit Gattin Titania im Streite, sie kämpfen mit allen Mitteln. Fazit: Es sieht nicht gut aus mit der Liebe. Amor verschießt seine Pfeile einfach blind, da kann nicht jeder Treffer sitzen. So weit, so ungut.
Doch in lauen Sommernächten, wenn der Mond am hellsten scheint, hält es Liebende nicht in den Betten. Sie müssen hinaus, denn Freuden am ungewohnten Ort genießen hat was für sich. Natürlich. Und so stolpern die Liebestollen durch den Wald, um einander zu finden. Dumm nur, dass justament am Orte eine Laienbühne ihr Theater probt. So geraten auch noch Männer, geschickt vom Arbeitsamt, auf ABM, in die vorhandene Wirrnis der Gefühle. Da die Übersicht zu behalten fällt selbst dem guten Geiste schwer, der alles glücklich vereinen will.
Die Geschichte hört sich wie ein Märchen an, und es ist eins, "Der Sommernachtstraum" von William Shakespeare. Pünktlich, wenn der Sommer erste Ahnungen auf unseren Landstrich sendet, greifen die Theater instinktiv zum alten Text. Er gehört halt zum Sommer dazu wie der Finger zum Nagel. Das Thalia Theater hat heuer den Sommer vorverlegt, und so begegnet uns die Mär bereits des Winters und wird ein, zwei Sommer gut draufsein. Mareike Mikat lässt die Liebestollen nach ihren Anweisungen laufen, singen, pantomimen. Das gelingt. Zum einen da der Traum unverquast jugendlich gedeutet wurde, zum anderen unsere Gegenwart nicht abhanden kommt. Die Inszenierung sprüht vor Einfällen, schrägen Momenten und Parodien. Da macht es Lust mitzumischen. Dass sich manches Mal die Schauspieler an den Rande der Ödnis extemporieren, verzeihen wir der noch nicht straffen Hand der jungen Regisseurin. Das verspielt sich.
Dem Ensemble sieht und hört man seine Spiellust an. Marja Hofmann als Kleinste gibt den Laiendarsteller dermaßen kraftstrotzend, dass wir das Kleine-Mann-Syndrom vermuten, wäre sie nicht anderen Geschlechts. Anke Stedingk als geschundene, an die Ehe gefesselte Gattin zeigt der Liebe Qual, wenn die Gefühle rosten. Harald Höbinger, der Gatte, sieht drüber hinweg oder wechselt mit ihr die Rolle. Der Geschlechtertausch verblüfft mit Liebe zum Detail und macht ganz andere Optionen der Liebe deutlich. Da kann man sich nur "Liebe ohne Leiden" wünschen. Und das wünschen sich die Herren auch.
Natürlich sind die Viere, die sich ihrer Liebe noch nicht sicher sind. Mille Maria Dalsgaard, Nina Ronneburg (mit wunderbarem Renate-Blume-Touch), Emanuele Peters und Jan Kersjes sieht man die Qualen ihrer Verwirrung an. Da ist es nur gut, dass Paarmacher Puck letztlich doch alle richtig verbandelt.
Tja, der Puck (Moritz Sostmann) macht uns zu Beginn schon klar: Leute, das ist ein Märchen! Mensch, Puck, wissen wir doch. Und dann pulvert er den Wald dermaßen zu, dass ihm seine Leichtigkeit abhanden kommt. Da knarrt nicht nur die Mütze im Scharnier. Junge, so viele Faxen sind gar nicht nötig. Sei doch einfach, so wie du bist, naiv, tütelig und herzensgut. Das tät manche Sache einfacher machen.
Die Laiendarsteller sind alte Hasen: Berndt Stichler, Enrico Petters, Axel Gärtner, Paul Mailänder und fulminant Marja Hofmann. Das grottendoofe Stück, das sie spielen, bieten sie dermaßen ehrlich, dass wir Mitleid haben mit diesen Männern in der ABM. Sie können's nicht besser und zeigen uns Kunst. Da applaudieren sogar die Kollegen vom Rang.
Der Traum der Sommernacht kann auch im Winter geträumt werden, macht uns das Thalia deutlich. Ich freue mich schon auf die lauen Nächte und würde mich freuen, wenn ich diesen "Sommernachtstraum" dann wirklich im Stadtpark genießen könnte. Liebestropfen inklusive.

Bälle zum Ruhm
Das Thalia präsentiert Tommys Karriere

Gnadenlos schlägt das Schicksal bei Tommy Walker zu. Der Knabe beobachtet den Mord an seinem Vater und ertaubt, verstummt, erblindet. Alle Therapien scheitern. Für die Gang seines Cousins Kevins ist er das perfekte Opfer. Onkel Ernie vergewaltigt Tommy gar. Nein, solches Leben ist wahrlich sehr unschön. Aber der Zufall entdeckt des Behinderten Talent: Am Flipperautomaten bricht Tommy alle Rekorde. Die Pinballs rollen und rollen und rollen. The Star is born, die Menge jubelt. Noch mehr, als der böse Bann von Tommys körperlichen Versehrtheiten gelöst werden kann. Der Junge findet zu Charakter, Geist und Liebe. Dann zieht er die Show erst richtig ab, die Massen folgen. Des brutalen Kevins Gang mutiert zur Leibgarde, Vergewaltiger und Onkel Ernie wird Manager des neuen Idols. Aber der Ruhm, er fordert Konsequenzen ...
Makaber, kitschig und auch bös - es ist eine alte Geschichte, 1969 veröffentlicht als Konzeptalbum von The Who. Das Musikwerk "Tommy" wurde 1975 Film und Spektakel. Das Musical am Broadway preisgeehrt. Jetzt entert jener Goodboy Tommy die Bühne das Thalias. Die Show glückt. Zum einen da Regisseurin Ute Raab gradlinig erzählt und ohne jegliches Mätzchen, zum anderen da sie nicht auf Mitleidsboni, sondern auf ihre Darsteller setzt. Gut, so kommt uns die unglaubliche Mär erstaunlich gegenwärtig, lebendig und jung über die Rampe. Dem Ensemble sieht jeder seine Spielfreude an, den Musikern um Peter Schneider ihre Lust. Sicher treffen nicht immer die Töne in Höhe und Lage genau, macht nix, es ist ja kein Hochglanz- und Kommerztheater, sondern Halles Thalia. Damit setzt das Haus sein ansehnliches Repertoire kontinuierlich fort. Schön, schön.
Star des Abends ist eindeutig unser Tommy, ist Jan Kersjes. Wie er den Geschundnen mimt, ihm Stimme gibt, begeistert. Zu Recht darf er die Ovationen entgegennehmen, das ist große Show. Bei manch anderer Solopartie muss die Technik noch die richtige Mischung finden, denn die Texte sollten nicht im Gebläse und Getrommel untergehen. Der letzte Song geriert zum Ohrwurm, er wird auf dem Heimweg selbst gesungen. Ein gelungener Abend.
Doch klar, nur schön wie Musicals ansonsten sind, ist die Vorstellung nicht. Dazu ist die Story zu hart, die Musik zu ruppig - gut, dass hier auf die psychedelische Note des Originals verzichtet wurde. Das Stück kommentiert nicht, es erzählt, wir dürfen uns Gedanken machen. Und was auch bestens passt, "Tommy" kann Generationen vereinen. Selbst Oma und Opa müsste The Who etwas sagen. So steht einem Familienabend nichts im Wege. Danach an den Flipperautomaten zu den Pinballs. Wenn's bei DSDS nicht klappt, vielleicht sind die Pinballs 'ne Alternative ...

Alles auf Anfang?
Das nt spielt mit dem Leben

Nicht nur in schwachen Minuten wünscht man sich, nochmal beginnen zu können. Man wüsste nämlich haargenau, was man anders machen tät, beim Fußball, beim Skat, bei der Heirat, überhaupt im Leben. "Das Theater gestattet, was die Wirklichkeit nicht gestattet: zu wiederholen, zu probieren, zu ändern." Der Herr Kürmann ist Professor und weiß, wo er im Leben irrte. Ein Registrator hat Kürmanns Leben aufgezeichnet und gibt ihm nun die Chance einzugreifen und die Lebenswege anders abzuschreiten. Eine Ehe ohne Antoinette wär möglich. Der Eintritt in kommunistische Partei tät provozieren und den Professorentitel kosten. Und überhaupt ... Dumm nur, dass das Ändern Folgen hat. Denn Biografien sind feinmaschig gestrickt, ein neuer Mensch würde entstehen. Einer, der nicht mehr man selber ist. Logisch, wir sind im Theater, und Kürmann darf probieren. "Es wird gespielt, wie es hätte anders verlaufen können. Nicht die Biografie des Herrn Kürmann, die 'banal' ist, sondern sein Verhältnis zu der Tatsache, dass man mit der Zeit unweigerlich eine und eine einzige Biografie hat, ist Thema des Stückes." Max Frisch der Autor. Dietmar Rahnefeld der Regisseur. Die Werft im nt ist Bühne.
Frisch war vor einem halben Jahrhundert Mode, heute erscheinen seine Stücke leicht verkopft, sie wirken in unserer Epoche von Thriller und Action wie die gute alte Zeit. Schön, dass es noch so was gibt. Schön auch, dass die Spieler Lust und Laune haben, dieselbe Biografie wieder und wieder zu wälzen. Peter W. Bachmann mimt den schwierigen Umgang mit dem eignen Leben sehr facettenreich. Petra Ehlert als Registreuse fühlt man die Genervtheit im ewigen Vor und Rück der Möglichkeiten nach. Barbara Zinn und Peer-Uwe Teska schlüpfen stets in andre Rollen. Nur Marie Bretschneider bleibt die gleiche Gattin immerdar, bis sie dann selbst die Fäden anders zieht. Das ist ansehnlich. Das ist intelligent. Spritzig ist es nicht. Eben ein Stück aus dem Jahre 67. Im Zeitalter der Blockbuster "Herr der Ringe", "Quantum Trost" wirkt es leicht angestaubt. Da hätte die Regie mit Mut und Phantasie ein wenig mehr der Gegenwart Genüge tun können. Allerdings liest man längst verstorbene Autoren immer wieder. Warum soll man sie nicht wie anno dunnemals auch sehen?
Biografien sind ein eigen Ding. Jeder kann davon erzählen. Dass wir mal auf uns mit andern Augen gucken, dafür ist Theater da. Es hat seiner Sache recht getan. Wir haben begriffen: Ich bleib ich, und es ist gut so, wie es ist.

Koordinaten und Kurs der Insel
Volker, Zufall, Jubiläum

Eigentlich ist alles ein Zufall. Aber ohne diesen gäbe es nichts. Auch nicht die Inselbühne. Heuer wird sie zwanzig, jubilät wie die friedliche Revolution und drauf folgender Anschluss. So gilt es als sicher, dass es ohne Wendewirren weder das neue Deutschland noch dieses Theater geben würde. Wir danken.
1989 - Zeit, die Mut machte und gab. Der Insel heißt Volker und studierte im Jahre an Leipzigs Theaterhochschule Theaterwissenschaft. Da neben aller Theorie die Praxis die Erfahrung lehrt, lag es nah, dass er mittun wollte. Zufall, dass das Kinder- und Jugendtheater des Schwermaschinenwerkes Sergej Kirow im Clubhaus Heinrich Budde auf der Lützowstraße Unterstützung suchte. Die Leiterin war ihm abhanden gekommen. Der Student im zweiten Studienjahr nahm die Herausforderung an und brachte die Bühne zur Einstufung, ohne die in der DDR Kulturschaffen gar nicht möglich war. Die Kids ehrten den Leiter, indem sie sich seinen Namen gaben. Der Name blieb, die Schaffenden wandten sich anderen Auftritten zu. Der Chef suchte und fragte, fand Gleichgesinnte und setzte mit ihnen "Die unheimliche Begegnung der 4. Art" auf die Bühne. Aus dem wenigen Geld des Inszenierungsfonds wurden Fotolampen zur Beleuchtung und Bauanzüge als Kostüm gekauft. Improvisation seitdem nicht nur im Bühnenbild ein Markenzeichen. Die Kommission war vom Auftritt dieses Ensembles fasziniert und verlieh ihm den Titel Kulturkollektiv der Sonderstufe, auch die Zuschauer waren begeistert. Seitdem ist diese Inselbühne aus Leipzig nicht mehr wegzudenken.
Orte wurden gefunden, die Inszenierungen möglich machten. Die Villa, ehedem Leitungsebene der FDJ, bot der neuen Gesellschaft Möglichkeiten. Die "Nibelungenmäkers" rieben sich am Heldenmythos. Im "Shakespeare" fragte Hamlet: "Sein oder Nichtsein?" Die Premierenfeier fiel aus. Rechte Schläger stürmten das Haus der alternativen Kultur. Unterm Tisch wählte Volker den Notruf und erhielt keine Antwort. Die Treppe brannte. Der buntbemalte Wartburg wurde abgefackelt. Zufall, Zeiten und Geschichten. Wir erinnern uns legendärer Schauspielstücke: "Nach dem Regen" auf dem Hochhaus (heute City-Tower). "The Making of Ben Hur" im Innenhof der Moritzbastei. Die Liebenden rannten "Wies euch gefällt" durch den Park. Inselbühne und Sommertheater in der MB sind seit 15 Jahren nicht zu trennen. Das geht so weiter, Gott sei Dank.
Den "Gott des Gemetzels" sahen wir im Spiegelzelt. Eine ausgezeichnete Inszenierung, und das Preisgeld wird entsprechend angelegt. "Und Action …" heißt es im Theatersommer, Außerirdische sind in Leipzig gelandet. Das wird ein Spaß. Vorher sind "200 Jahre tot" zu erleben, eine Hommage an Schiller und das Arbeitsamt. Gute Unterhaltung.
Pläne gibt es. Natürlich. "Acht Frauen" und "Der nackte Wahnsinn". Zunächst aber urlaubt der Vater. Kindererziehung braucht Zeit und Geduld. Danach bleibt die Mutter zu Hause. Die Proben sind gesichert. Wir freuen uns drauf. Das ist kein Zufall. Der Inselbühne sei Dank.

Vom Bagger zur Bühne
Jana Hruby entdeckt Uromas Hitparade

"Die Frau im Mond", "Die Csárdásfürstin", "Die lustige Witwe" - vor gut 100 Jahren tanzten die Damen auf jeder Bühne. Ihre Hits wurden in jeder Küche gesungen, Radio blieb damals Zukunft. Die Operette war en vogue und überlebte sich selbst. Die Melodien dürfen nicht dem Vergessen völlig anheim fallen, sagt Jana Hruby und bringt sie wieder zu Gehör. Mit dem Neuen SalonOrchester Leipzig schmettert sie die Schlager in Programmen wie "Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln gehen" oder "Zigeuner lass die Geige weinen". Jana hat immer gesungen. Es war ihr Berufswunsch auf der Bühne zu stehen. Sie tut es. Mit großem Erfolg in Oper, Musical und manchem Programm.
"How do you do" trällerte sie im Alter von zehn Jahren schon professionell. Heute singt sie Mozart, Wagner, Telemann. Bereits in ihrer Leipziger Schulzeit war sie Mitglied in der Schülerband. Der Weg zur beruflichen Bühnenpräsenz musste erkämpft werden. Ihr Abitur legte Jana mit Berufsausbildung ab: Baufacharbeiter. Auf Baustellen hat sie Bagger und Kräne angewiesen, hat gemörtelt und verfugt, Beton gemischt und ausgegossen. Dann mit Erfolg die Bewerbung an Leipzigs Musikhochschule. Abschluss mit Meisterklasseexamen. Sie erhielt Auszeichnungen und Preise. Die Bühnen haben sie in vielen Rollen gesehen. Sie war eine der Walküren in der legendären Meininger Inszenierung des Ring der Nibelungen. Sie entdeckte an der Moritzbastei barocke Opern wieder. Sie beeindruckte mit den schwarzen Chansons von Georg Kreisler. An der Musikalischen Komödie ist sie für komische Rollen engagiert: Zeller, Offenbach, Künneke. Die Operette ist nicht tot! Die Melodien haben Charme und verlangen Technik. Sie spielen im richtigen Leben mit Liebe, Verzicht, Treue und Schwur.
So war es eher Fügung denn Zufall, dass Jana Sebastian Ude traf, den Chef des Neuen SalonOrchesters Leipzigs. Seit acht Jahren treten sie zusammen auf, eine CD ist mit den Musikern und ihrer Stimme erschienen. Im Programm sind Operettenmelodien und die Schlager der frühen Filmjahre zu hören. Wir hören sie wieder, die Rökk und die Dietrich, Hilde Hildebrand und Conny Froboess. Auftritte, wo sich Neigung, Hobby und Beruf vereinen. Auch Bauarbeiter wird's erfreuen, Janas Gruß an die Kollegen inklusive.
Außer Bühne und Tochter liebt Jana Leipzig, was wir verstehen. Sie liest, fährt Rad, kocht und entspannt beim Yoga, um für den Auftritt fit zu sein. Wir könnten uns solche von Jana samt SalonOrchester auch auf Baustellen vorstellen, auf Bagger und Kran, mit Kelle und Helm. Leipzig hat der Baustellen viele. Wie wär's in City-Tunnel, Tropenhalle oder Loch am Brühl, auf der König-Albert-Brücke, Burgplatz oder neuen Uni-Campus ... Alles ist möglich und die Operette, sie lebt!

Es funktioniert gänzlich kaputt
Der Krystallpalast präsentiert die Show ohne Worte

Sie tanzen in den Lüften, lassen Frauen schweben, fahren mit dem Einrad zur Decke und breaken gegen alle Regeln der Schwerkraft. Das ist Varieté vom Besten. Echt. Und eigentlich führt gewohnheitsmäßig ein Wortakrobat durch den Abend und redet mal Unsinn und mal eben nicht. Diesmal bleibt der Conferencier stumm. Gut, nicht völlig, aber viel mehr als ein Wort beherrscht er halt nicht, der Herr Housch-Ma-Housch. Nur eins sagt er uns immer wieder: Kaputt. Hase kaputt. Starkstrom kaputt. Und das Publikum auch kaputt.
Das ist Kunst und begeistert. Das neue Programm vom Krystallpalast benennt sich im Namen bereits nach dem Pantomimen, und der heißt "Housch-Ma-Housch" und ist einer der Besten der Zunft. Was der mit Füßen und Händen, Klebeband, Häschen und und so anstellt, bedarf keiner Worte. Der Herr hält auch so alles zusammen. Vor allem sich selbst. Und die Nummern zwischen der Stummheit gehen dann ab mächtig gewaltig. Victor Voitko (be)zaubert, dass einem die Kitschträne im Auge schwimmt. Diese Magie geht zu Herzen. Und das leuchtet sogar. Rot. Röter. Am Rötesten. Rony Gomez erscheint in Schwarz und ist ein Bewegungstalent, das weiße Bälle die Lüfte durcheilen lässt. Die sehen wir (fast gar) nicht. AJ Silver kennt alle Western und schleudert das Lasso. Nein, Gäule fängt er nicht, uns jedoch hat er fest an der Leine. Die Damen vom "Zenith" sind Südafrikaner, empfangen uns mit hohen Stimmchen und flattern dann ansehnlich in bedenklichen Höhen. Erik Ivarsson fährt Einrad und setzt stets noch eins drauf. Ja, wirklich, das funktioniert. Aber die flotteste Nummer ist made in Hungary: Die Burschen vom Trio Enemy Squad beherrschen den Breakdance aufm Arm, auf der Schulter und aufm Kopp. Unglaublich wie's dreht. Und wir hatten geglaubt solch Bewegung war gestern modern. Ganz und gar nicht. Davon wollen wir mehr sehen. Und von allem anderen auch.
Der Beweis wurde angetreten: Varieté-Kunst bedarf nicht der Worte. Sie kann auch ohne faszinieren. Housch-Ma-Housch alias Semen Shuster und Victor Voitko hatten die Idee fürs gute Stück. Urs Jäckle hat sie in Szene gesetzt. Wir bleiben nicht stumm, wir müssen darüber die Worte verlieren und es allen weitersagen: Geht hin. Das ist 'ne kaputte Show! Ganz unser Geschmack. (Text: Alex Oheim)

Schwäbin mit Alphorn
"Movimento" als momento mori im Krystallpalast

Ach, was hatte uns das Programmheft versprochen: Komödianten der Spitzenklasse, extravagante Choreografien, eine atemberaubende Show im Zeichen des Spitzenschuhs. Gezeigt wird ein lahmes Sammelsurium ohne Idee und Konzept. Wir sind entsetzt. Ehrlich.
Eine etwas altbacken ausschauende Rosemie im Faltenkleid (gesponsert von der Antifaltencreme - was'n Gag!) zeigt uns, wie sie blasen kann. Volksmusik auf der Tuba. Tiefe Töne im Alphorn, und weil die sonst verhallen, spielt's Publikum Echo. Echt der Brüller. Dann tanzt sie Spitze und erheischt den Applaus. Er wird ihr gegeben. Dazu wird geschwäbelt, zeigt Rosemie Schlüpfer und lässt sich von Herren aus dem Publikum betatschen. Ist das lustig? Nein, das ist Conferérence, Comedy und Gesang auf sehr niedrem Niveau. Der katholische Klingelbeutel sagt im Mutterland der Reformation endlich das Ende voraus. Doch tut er das erst nach zwei Stunden. Herrgöttle, wir dürfen endlich raus aus der Langeweile. Den Schnaps haben wir schon vorher gebraucht. Denn wir sahen die KGB-Clowns. Bereits der Name zeigt ihren Humor und so dämlacken sie endlos und ohne Esprit. In lahmarschigen Nummern werden dürftige Gags strapaziert. Und wie lustig: Sie tanzen den Schwan im Tutu, jedes Männerballett zu Fasching kann's besser. Als Zumutung erscheint bei diesem Talent die Berufung auf sowjetisches Vorbild. Selbst wenn die Herren dort geboren sein sollten, verstehen wir's als Amtsanmaßung. Menno wirft dann mal Bälle und Keulen zu Tangomusik, und damit's nicht so doof aussieht, tanzt ihm Emily ständig dazwischen. Das ist nicht neu, und das Gewerfe hat keinen Pep. Frau Erna Sommer schaukelt mit Kleid in der Luft und verdreht sich manchmal am Arm mit gespitztem Zeh. Ganz hübsch, ganz hübsch. Zum Glück gibt's auch wirklich Varietékunst zu sehen. Enemy Squad sind drei junge Herren aus Ungarn samt junger Frau, die breaken und dancen auf hohem Niveau, ihnen sieht man die Freude an, die sie haben. Ganz unsererseits. Und das vietnamesische Duo Dinh-Anh verzaubert durch Akrobatik mit Tanz. Einfach schön. So hatte es auch im Programmheft gestanden. Nur sind zehn Minuten niemals eine Show.
Was an dieser Show sehr verärgert, ist das Konzept, weil nicht vorhanden. Movimento erzählt keine Geschichte, und es ist kein Nummernprogramm. Es ist gar nix. Auch wenn Rosemie ständig Männer anquatscht, die Knie verdreht oder die Augen rollt, sie wird nicht sexy, und sie wirkt nicht intelligent. Einzig, dass sie mit Zähnen steppt, überrascht an der Schwäbin. Eine Regie haben wir gar nicht gesehen, denn die wenigen Nummern folgen ohne Übergang abrupt aufeinander. Der Krystallpalast hat uns immer begeistert, jetzt sind wir wahrlich entsetzt - war das Absicht, um zu begreifen, was wir an ihm hatten?

Die Poesie der Plastetüte
Der Krystallpalast präsentiert ein "Panoptikum" von Bildern und Menschen

Tja, am Eingang steht ein Herr im Frack, und eine putzige Person macht für uns den Weg frei. Jetzt sind wir drinnen im Museum, und das stellt die wahren Schätze der Weltkultur aus. Ein wohltemperierter Gang durch die Jahrhunderte der Kunst: Antike, Leonardo, Auguste Rodin, abstrakte Malerei. Die Führerin hat viel zu erzählen. Die Besucher allerdings wollen begreifen und langen auch zu. Den Wärter all der Schätze kann man vergessen, der schläft oder träumt oder verknotet sich selbst.
Der Krystallpalast zeigt uns in seinem neuen Programm einen Museumsrundgang und Varieté ohne Worte. Das beeindruckt. Wer hätte vermutet, dass Plastetüten (ja, die ganz dünnen vom Bäcker oder dem Gemüsefritzen) wahre Poesie sein können. Ein Clown erst musste uns drauf bringen und wirbelt sie durch die Luft. Wir sind begeistert. Clowns, diese Spezies verbindet all die Kunstwerke im Saal. Und Mikhal Usov und Kotini jr. sind Meister ihres Fachs. Die Tänzerin ohne Oberleib, der Pingpong-Rhythmus auf körpernahem Kochgeschirr, Breakdance und lebender Sessel - Highlights internationaler Güte und Teil der Werkshow. Andrey Kolotenko unterscheidet nur seine Lebendigkeit von Rodins "Denker". Bei dieser Skulptur ist jeder Muskel wohlproportioniert. Und wie er sich auf seinen Händen verbiegt, spottet jedem Bodybuilder. Fernando erweckt die Statue Serafina zum Leben. Sie werfen sich Bälle und Keulen und Trommelstöcke nur so um die Ohren. Imagin'that sind zwei männliche Blüten, die sich im Winde ansehnlich biegen. Sie sind fest verwurzelt, doch scheinen sie schwerelos. Slava lässt den Würfel tanzen. Und der ist weder leicht noch klein. Das entstehende Lichtspiel lässt nicht von Kraft träumen, es ist einfach nur schön. Izabela Basendowska hängt am Tuche und stürzt nicht ab. Mit Nicholas Flair wechselt sie Hüte en masse. Der Nicholas hüpft über Zigarrenkisten und lässt geometrische Malerei lebendig werden. Pauliina und ein zweiter Slava heben sich übereinander, aufeinander und miteinander. Kraft, gepaart mit Eleganz. Und die Clowns stehen dazwischen und sagen kein Wort.
Dieses "Panoptikum" ist ein Schaustück hoher Fertigkeit. Regisseur Urs Jäckle beweist, dass Varieté auch sprachlos gezeigt werden kann, unterstützt von Choreografin Izabela Basendowska und Tilo Augsten als Arrangeur und Komponist. Nach manch geschwätzigem Treffen vor Ort ist dies Kunst, die einfach nur wohltut. Klasse. Hingehen und gucken.

Alle Jahre neuer Kay
Der Krystallpalast erzählt von der Schneekönigin und ihrem Liebesleben

Den besten Leumund hat die Schneekönigin ja nicht. Wir wissen, dass Kleingerda ihren Bruder aus ihren eisigen Krallen befreien musste. Aber das ist ein Märchen, natürlich, die Wirklichkeit sieht anders aus. Im Krystallpalast wird sie gezeigt. Wer nämlich einmal in ihrem Bannkreis stand, der will Frau Königin niemals wieder verlassen. Dumm nur: Alljährlich sucht sich Majestät einen neuen Gespielen. Und der Einfachheit halber ruft sie alle Männer Kay. Auch dieses Jahr wird ein Mann erwählet. Kandidaten, meldet euch!
Da sich die Suche hinziehen kann, präsentiert uns der Krystallpalast derweil eine illustre Schar der abgelegten Boyfriends. Die können sich allesamt sehen lassen. Ricardo Sossa steht auf Händen und kann mit seinem Körper wunderbare Posen bauen. Nachvollziehbar, dass Frau Königin seinem Charme erlegen war. Andrey Ivanchenko turnt als rote Stachelbeere übers Schlappseil und beeindruckt nicht nur den Hofstaat. Hammou macht weiter nix als Seifenblasen, kleine und ganz, ganz große. Darin können Menschen stehen, die anderen sehen verzaubert zu. Natalya Leontieva schwingt Ringe um die Hüften und steht dazu auf einer Kugel. Auch sie ein Kay erster Güte, auch Frau Königin hat Lust an den verschiedenen Spielarten der Liebe. Leo und Yam beeindrucken am Seile. Die Köpfe aller schauen nach oben. Yam ein Gewinner der Newcomer-Show des hiesigen Varietés, er hat Platz auf großer Bühne. Die Galerie dieser Kays lässt uns jeweils andrer Art die Münder offen stehen, und wir fragen uns, warum braucht Majestät jährlich Frischfleisch, wir wären's doch längst zufrieden gewesen. Aber nein, Frau Königin braucht neue Liebe.
Dabei übersieht sie, dass nicht nur alle verflossenen Kays für sie schmelzen, vor allem der Kay aller Kays, Zeremonienmeister seines Zeichens, ist der kalten Dame heiß erlegen. Nur nimmt diese keine Notiz von ihm. Alles, was er Gutes tut, wirkt läppisch, dümmlich und oft lächerlich. So greift Madame letztlich zum schlimmsten Mittel: Sie wandelt diesen Kay zur Wehe, und er ist weiter nix als ein weißes Häufchen Elend. Das sieht sich gut an, und Ines Agnes Krautwurst brilliert als eisige Schönheit nicht nur optisch, sondern auch mit gesanglicher Kunst. Stefan Ebeling ist Kay, der Unglückliche, und führt mit seinem Liebesschmerz durch das Programm. Wir leiden mit ihm und können Frau Königin nicht ganz begreifen, er wäre der ideale Mann ... na, vielleicht doch nicht ganz. Aber wir sind uns sicher, auch dieser Kay wird letztlich eine neue Liebe finden. Derweil hat Frau Königin ihre Wahl getroffen.
Konzept und Regie oblagen Volker Insel, dem Meister leichter, niemals blöder Inszenierung. Das sehen wir gern und kommen gern wieder. Einmal Kay sein! Einmal mit Frau Königin ...

Wow - Die Show ist kaputt!
Wortloser Housch-ma-Housch im Krystallpalast

Dem armen Mann stehen seine letzten Haare zur Seite. Sechs Hände suchen nach Alternativen, denn die siebte hält ihn mit einer Pistole im Schach. Bleibt nur eins, der Gute muss abtreten. Tut er.
He is back! verlautet die Schlagzeile. Dabei redet der Typ grad mal zwei Worte und führt durchs Showprogramm des Varietés. Funktioniert. Zu allem, was klappt, sagt er: Wow! Das andre, das ist halt: Kaputt. Wir haben die Zähre im Auge vor Lachen. Housch-ma-Housch ist dem geneigten Publikum bekannt, war er doch mehrmals sein Liebling. Nun lädt er ein zu seiner nächsten Show. Und seinem Wortschatz entsprechend, nennt er sie: Wow! Wow sagen auch wir, denn Housch-ma-Houschs wortlose Kunst erinnert an beste osteuropäische Traditionen. Kunst. Doch auch seine Gäste können begeistern. Frank Wolf besteigt sein BMX von hinten und vorn, lässt's unter sich wegdrehen und steuert in die ersten Reihen. Schreckenslaute werden als Applaus interpretiert. Auch für das Duo Buzevetzky scheint die Bühne zu klein. Sie bewegen sich anmutig auf 2x4 Rädern - Rollschuhartistik sagt man dazu. Jemile Gomardi jongliert mit ganz schön viel Bällen, wir wünschten unseren Fußballmannschaften solch Könner in ihren Reihen. Sabine Jean klemmt im Reifen. Sie schwingt kurz über dem Boden, sie steht heldinnengleich in seinem Ring. Beeindruckend. Das Rhönrad dagegen wirkt, als hätte ein Fahrrad vier Räder. Das Duo Viola lässt dem Namen nach eine Bratsche erklingen. Live. Dazu zeigt der männliche Teil von den beiden ästhetisch den Körper in verschiedenen Lagen. Selbst die Sitzgelegenheit passt sich dem Streicheln des Instrumentes wohl an. Laetitia und Artur sehen gut aus und bewegen sich noch graziler. Als Tanzpaar lassen sie uns Discogänger erblassen, noch mehr, wenn sie ihre Schritte in der Luft einfach fortsetzen. Das hat was von Träumen und Hollywood und unendlicher Liebe. Wirklich.
Der Krystallpalast setzt in diesem Programm ganz auf Person und gewinnt. Diese Show ist das Theater der Sinne. Da braucht's der Worte keine. Urs Jäckle hat als Regisseur eine Einheit geschaffen, und eigentlich ist es schad, dass sie endet. Wow! sagt der Moderator und schweigt. Auch wir heben unsere sechs Hände und applaudieren. Der Pistole hätte es nicht bedurft.

Motte im Dunkel
"Don Juan" geistert am Centraltheater

"Sie hätten an einem andern Tag kommen sollen", sagte jemand am Einlass. Vieles hat man gehört, manches gelesen, weniges gesehen. Am Schauspiel Leipzigs ist gar vieles neu. Da müssen wir nicht diskutieren: immer gleich kann nicht gehen. So guckt man, was sich eingespielt hat, und erwischt mit 60 andern Gästen "Don Juan oder der steinerne Gast (like a rolling stone)". Macht ja schon im Titel was her, zumal nach Molière in durchgesehener deutscher Fassung. "In ictu oculi" steht über der Handlung. "Im Augenblicke" lässt schon Deutungen zu, so harrt man des Beginns und kann das assoziative, düstre Bühnenbild (Volker Hintermeier) betrachten. Rauchender Schädel und eine Motte im Dunkel, Planwägelchen und Mistkäfer, Sonnensystem und Äpfel, Äpfel, Äpfel. Klar, kann man sich Gedanken machen über die "Gates of Eden". Kommen wir ja alle irgendwann hin, in dieses Jenseits oder was immer dort ist. Ein Blondschopf ist auch da und raucht und erzählt dann vom Rauchverbot. Schwupp ist das Jenseits gegenwärtig, und der Totenkopf gleicht dem der Zigarettenschachtel.
Dann kommt er auch, der Don Juan, dem man die Meisterschaft der Damenverführung nicht mehr ansieht. Da ist Blondie, sein Diener, wesentlich lebendiger. Tja, und dann erscheinen noch Elvira und Mathurine, Elviras Brüder, Juans Vater, Knoblauchfresser, Wegelagerer und Hottentotten. Vom Stück des Herrn Moliére ist kaum was zu erkennen. Sagt, das ist ein Abend für Insider, Versteher und Kenner. So kann man sich seine Interpretation nach Belieben zurechtpuzzeln. Jean-Baptiste Poquelin alias Autor mag es egal sein, der ist als Denkmal unangreifbar.
Was ist mit uns? Wir schauen und hören, fügen Fetzen zusammen und machen uns eigene Bilder. Regie führt das Leben. Unseres. Das hat Co-Regisseur Jürgen Kruse so gewollt. Dumm nur, wenn man sich nicht darauf einlassen will, mag oder kann. Dann verendet diese Inszenierung in der Langeweile. Die sprachlichen Extempores wirken gequält, Frauen als Männer affig, die Accessoires banal. Mhm. Anderes findet auch in Assoziationen keine Erklärung. Warum spielt man an der Rampe, wenn der Bühnenraum so groß? Braucht man den Zwischenvorhang nur zum Schattenspiel? Und ist der qualmende Schädel wirklich Kritik am Nichtraucherschutz?
Die Darsteller proben sich professionell durch die Handlung, die es nicht gibt, aber sie sind voll dabei. Klar ist es nachvollziehbar, dass sie ungut drauf sind vor ihren 19 Zuschauern (nur leicht verschätzt, s.o.). Hagen Oechel mimt das Wrack Juan gekonnt und weiß selber nicht wie. Blondie (ist's wirklich Hitlers Köter?) Manuel Harder zeigt die Lebendigkeit des Personals. Und es wird schön rezitiert und getanzt. Kann's das sein?
Da hat der Herr Kruse uns ein Monument entzaubert, und der Koloss, er steht, wie Molière am Ende, unangreifbar. Der Saal hat 684 Plätze - erübrigt sich der weitre Kommentar. "Sie hätten an einem andern Tag kommen sollen." Wäre es besser gewesen?



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