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Neues aus der Theaterwelt (26.02.2006)
von Henner Kotte

Coming Out vor Publikum
"Ein Käfig voller Narren" in Zwickau

Klar müssen sich die Eltern vor der Hochzeit kennenlernen. Jean-Michel schämt sich, denn sein Vater lebt mit einem Mann zusammen. Ginge ja noch, doch alles ist bei den Beiden schrecklich tuntig. Mein Gott erst der Albin, aber sowas von Schwuchtel! Und die Eltern der geliebten Anne sind doch so konservativ. Also, Vater spielt mit und richtig Familie. Und Albin, die Drag-Queen, lädt man eben aus. Ganz so, wie's das Rollenbild vorschreibt. Doch Albin vertrat ein Vierteljahrhundert bei Jean-Michel Mutterstatt, nein, sie wird sich nicht vom eigenen Sohn vor die Tür setzen lassen, nur um Konventionen zu entsprechen. Mutter Albin handelt, und sie handelt Recht. "In unserer Version ist 'La Cage' eine Liebesgeschichte geworden - die Geschichte einer Ehe, die fast 20 Jahre währt und die beinahe ruiniert wird durch die Gedankenlosigkeit des Sohnes."
"Ein Käfig voller Narren" ist Lustspiel, Film und legendär. Harvey Fierstein, das New Yorker "Kuckucksei", meinte, daß sich diese Komödie bestens fürs Musical eignet und bat Jerry Herman als Komponist. Fierstein hatte Recht: "La Cage aux Folles" ist auf vielen Bühnen gut drauf. Nun auch in Zwickau. Dominik Wilgenbus hat's inszeniert und volles Haus. Die Spieler, Tunten und Mäuse sind wahrlich gut drauf. Und Jörg Simmat in der Rolle des/der Gedemütigten einfach Spitze. Große Gesten und große Garderobe verbergen nicht, daß dahinter der einsame Mensch lauert, der einzig geliebt werden will. Wir leiden mit ihm.
Und leiden noch mehr. Denn der geliebte Mann und Vater Dirk Dreißen trifft weder Gefühl noch den Ton. Er macht den Anschein, als ob er sich's Coming out nicht zutraut. Ihm nehmen wir kein Gefühl ab, weder die Gesten, noch die Garderobe und schon gar nicht den Kuß. Das ist Krampf, und damit verpufft die schöne Liebesgeschichte im Vorspiel "ich geb Euch den Schwulen und schäm' mich". Da nützen nicht mal Klasse Requisiten. Es hätte so schön werden können. Wir leiden mit Albin.
Abgesehen davon paßt alles zueinander. Die Transen reißen uns mit bis in den Domina-Keller. Die ehrbaren Schwiegereltern dauern uns, aber sie müssen das Leben begreifen, nur konservativ geht eben nicht in heutigen Zeiten. Und die jungen Liebesleut stellen ihre Liebe über alles. Daß das so nicht geht, muß der Held begreifen, auch ein Mann kann Muttergefühle haben. Das Lied dieser Erkenntnis ist zum Schmachten schön - Michael Kunze kann's singen, wo Dirk Dreißen kläglich versagte. Nebenbei gibt's viel Rüschen, Plüsch und sonstiges Tamtam, was in einen Schwulenclub gehört, auch Schätzchen, Seebären, Banker, die Jungs vom Ballett und 'ne geile Kammerzofe (Michael Simmen). Dem Orchester unter Victor Puhl merkt man den Spaß beim Spielen mit Medoldien und den Klischees richtig an. Wir fühlen uns wohl.
"Ein Käfig voller Narren" ist Theater der großen Gefühle und Appell. Nur vermeintlich schräg kommen seine Gestalten daher. Sie fühlen wir. Aber wir geben selbst uns so tabulos kaum, und so schön Schmalz singen können wir nie. Aber, ehrlich, wir bemühen uns drum.

Factotum Stefan Senf

Ja klar, trauen muß man sich. Stefan Senf hat sich getraut, und im zarten Alter von elf Jahren sprach er an Leipzigs Schauspielschule vor. Die Jury sprach dem Talent Talent ab. Das zehrte. Trotzdem hat er Stimme gegeben im Ensemble der Rundfunksprecherkinder und für sich an Asterix-Hörspielen gebastelt. Auch weiterhin wollte Stefan vom Theater nicht lassen. Gut, wenn nicht auf der Bühne, vielleicht davor/dahinter als Regisseur oder Dramaturg? So die Idee. Für Theater- und Kommunikationswissenschaft schrieb sich Stefan ein, studierte. Nebenbei zeigte er sich auf Off-Theatern in der Stadt, machte mit bei Radio Blau und spricht Synchron. Und im Stillen puzzelt der Filmfreak an eigenem Werk, sicher werden wir das eines Tages auch sehen.
Anno 97 stellte Uli Sebastian Stefan Senf die Frage: Willste? Ja klar, trauen muß man sich. Und so stand Stefan Senf mitten in einem Krimi auf der Bühne und im Theater Fact. Das ist die Kleine Komödie unserer Stadt. Einmal am Theater, machte er mit. Zunächst als Assistent der Regie, später als Mann auf den Brettern vor besetzten Stühlen. Mittlerweile gehört Stefan zum Inventar in den Kellern von Barthels Hof. Seit 1999 ist ihm das Fact Heim und Arbeitsstatt und mehr. Geschrieben hat er: "Froschkönig" und "Das Feuerzeug". Mitwirkender ist er. Besonders lieb sind ihm die Rollen, die im Humor die Tragik zeigen. Stefan war hardcoreschwul "Trotz aller Therapie". Er war viele Rollen beim "Heldentod - hätte ich nur auf Mama gehört". Und letztens sahen wir ihn als einen der Gäste beim "Dinner for six". Nächste Präsenz Januar 2006: "Die zehn Gebote des Fremdgehens". Spielort: Theater Fact. Fakt.
Die Kleine Komödie Leipzigs hält sich auf schmalem Grat. Finanzen waren im Hause immer dünne. Wo, bei wem sind sie es nicht? Doch verwundert die Fact-Schaffenden, daß sie das Kulturamt ignoriert. Kein Zuschuß 2006. Sie vertrauen ihren Fans. Sie kämpfen um Sponsoren und andere Quellen des Geldes. Das Stammpublikum läßt sich gern sehen. Und die Enthusiasten um Patronin Ev Schreiber geben nicht auf. Sie können es nicht. Und so finden sie stets und immer wieder ungewohnte Wege ihr Projekt auch Tat rsp. Theater werden zu lassen. Unglaublich, aber Fakt. Und so wird Leipzig die Spielstätte erhalten bleiben. Wir hören's gern. Zumal die Crew neue Talente verpflichten konnte. Da steht einiges im neuen Spielplan drin.
Logo: Stefan Senf werden wir sehen, wenn nicht auf, dann hinter der Bühne. Denn Fact heißt, die Mitwirkenden sind nicht nur Darsteller, sie sind auch verantwortlich für Ton, Layout, Kasse oder Theke. Genau dies macht die besondere Atmosphäre im Theater Fact. Man trifft sich, nicht nur auf ein Bier.

Mann im Streß
Stefan Ebeling zeigt Nerven und 'ne Show im Varieté

Der Mann soll Publikum begeistern?! Doch was da auf der Bühne vor uns steht, scheint das Unglück in Person. Dem Conferencier der neuen Show im Krystallpalast gelingt glatt nix. Falscher Anzug, falscher Gang und falscher Text. Wir können nur hoffen und leiden mit, und genau das ist der Spaß. Der Herr von der Bühne erklärt uns seine mißliche Situation, er nämlich ist in Renate verliebt, doch "Miß Geschick" läßt ihn als ihren Partner hängen. Das ist verflucht nochmal die blanke Katastrophe, und nun muß er hier ... Vor aller Augen. Mit aller Lachen. Sie verstehen? "Miß Geschick" nennt sich denn auch das Programm, wir haben verstanden, und der Mann im Streß heißt Stefan Ebeling. Er hat ihn selbst so gewollt. Der Mann ist Schauspieler.
Aber auch nach Probe und Show und davor ist Stefan Ebeling im Streß. Er hat ihn selbst so gewollt: windeln, waschen, was erzählen. Geschrei, Gemähre, Lied zum Schlaf. Herr Ebeling ist stolzer Vater. Einiges wird sich im Alltag ändern. Jawohl. Die Bühne des Krystallpalasts ist noch die gleiche, dort wir Herrn Ebeling bereits gesehen. Mit Verve und Vers bot er uns damals "Shakespeare's Night". Die bot unerwartet andre Kunst im Varieté. Diesmal geht eben einiges schief. Hat auch was und dazu brilliante Nummern wie Zauberei mit vielen Vögeln, Hula Hop mit vielen Reifen, Jonglage mit allem, was man werfen kann, Hebeakrobatik, Antipoden und Trapez besoffen. Am 2. Februar 2006 war im Haus Premiere.
Stefan Ebeling ist zugereist und hocken geblieben. Kindergarten, Jugendjahre hat er in Bremen verbracht. Dann Zivi Köln. Schule des Schauspiels Graz. Und der Entschluß, es als Erster aus dem Westen an Leipzigs Schauspielschule zu probieren. Talent erkannt, eingeschrieben und Sächsisch zu verstehen gelernt. Nach dem Abschluß die Bühnen Mitteldeutschlands betreten und die Provinz befahren: Chemnitz, Dresden, Bautzen, Altenburg, Gera. Mitglied bei Theaterschaft und TiF. Regisseur. Und wieder Leipzig. Seit 1997 wirkt Stefan bei der Inselbühne mit. "Don Gil mit den grünen Hosen", "Nach dem Regen" auf dem Dach, "Wie's Euch gefällt" im Park, "Gans ganz anders" im Zelt oder "Kunst" in der Fälschergalerie. Wir haben gesehen. Und "in Leipzig ist vieles, wenn nicht alles möglich". Wir sehen's genauso. Blieben wir sonst hier vor Ort? Stefan hat Familie.
Die Eltern hatten nix gegen seine Kunst und den Beruf. Den Bruder zog es hin zur See, der wird jetzt Kapitän. Stefan selber kocht sehr gerne, was nicht nur die Freundin freut. Zur Zeit stehen die neuen Pflichten des Familienvaters an. Und natürlich die Conférence im Krystallpalast. Da geht dann einiges schief. Aber dort ist's Programm. Mißgeschicks eben. Siehe gleich hier drunter.

Die Poesie der "Miss Geschick"

Sie sind im Streit auseinander, der Bernd und die "Miss Geschick", Vorname Renate. Und nun muß Bernd eine Show moderieren mit Zauberei, Jonglage, Artistik und so. Die Renate muß auf den Bau. Klar, geht ihm der Streit mit der Geliebten nicht aus dem Kopf und ein paar andere Dinge gehen dazu noch schief. Scheiße, besser Krystallpalast und Varieté.
Ein Glück, daß die anderen Künstler nicht in so 'ner leidigen Privatsache hängen und Poesie aufs Bühnenbrett zaubern. Miss Rochais läßt Blüten, Schläger, Schirme wirbeln. Miss Shan bedarf der Schirme vier um gut auszusehen. Diese trägt sie auf den Füßen. Holá. Arno hat nicht nur einen Vogel, sondern viele im Jackett. Diese sitzen so versteckt, daß wir uns wundern. Klar, Arno nennt sich Magier. Igor Bouterine ist James, James Bond und zeigt wozu Reifen dienen. Zur Bewegung. Erstaunlich wie der Herr da durch kommt, wie er sie um Hüfte, Hals und Zehe dreht. Die Damen Ulali hängen am Trapez und an der Flasche. Auch wenn wir's erwarteten, der Absturz ist nicht inklusive. Es ist Kunst. Auch im Duo Dinh-Anh, und diese beiden zeigen unserm Bernd, wie anmutig doch Zweisamkeit sein kann. Die reinste Poesie. Jawohl.
Dem Bernd allerdings geht weiter alles schief und mit den Frauen sowieso. Zum Glück sitzen verständnisvolle Damen unterm Publikum, die ihm ein wenig Trost noch spenden. Und dann, dann kommt Renate wirklich vorbei und hinterläßt einen Brief. Nein, den will der Bernd nicht öffnen und läßt sich in seiner Melancholie vom Hausmeister Oleg begleiten. Das hört sich gut an, allerdings kommt der Bernd nicht ohne Probleme durch alle die Noten. Wir haben verstanden, das ist Programm. "Miss Geschick" heißt dies neue im Krystallpalastvarieté. Wir fühlten uns prächtig unterhalten und zollen dem Conferencier Stefan Ebeling die Anerkennung, so täppisch muß man sein können ohne peinlich zu wirken.
Apropo Renate, die hat in ihrem Brief was ganz, ganz Liebes geschrieben. Denn der Bernd hat's verdient. Ehrlich. Wir wünschen das Beste.

Der Mann der Hymne
Rainald Grebe - Comedian, Aktivdramaturg, Identifikationsstifter

Was wär' die Heimat ohne Hymne. Jedes Land hat eignen Text und Noten. Brandenburg läßt Adler fliegen. "Sing, mei Sachse, sing!" schmettert der Einheimische zwischen Görlitz und Plauen. Und Thüringen? Yvonne Catterfeld haucht stets von der geschlechtlichen Liebe. Von der Liebe zu Land und Volk eher nicht. Herbert Roth war nah dran am Gefühl. Minister Andy T. vermarktet das "Rennsteiglied" derzeit erfolgreich in den regionalen Hitparaden. Aber eigentlich hat der Freistaat schon längst, längst die Hymne, die er verdient. Autor/Komponist: Rainald Grebe.
Darf der denn das? Rainalds Kinderstatt und -garten, seine Schule befanden sich in Köln am Rhein und nicht in Crawinkel, Tottleben oder Tambach-Dietharz. Der Mann ist gar kein Thüringer! Zumindest nicht qua Geburt. Aber vielleicht genau dieses ließ Rainald die Seele des Volkes erspüren. Denn mittlerweile ist Rainalds "Thüringenhymne" gern gesungenes Liedgut. Sicher, jeden Einheimischen begeistert der Text nicht. Noch dazu, singt ihn ein leichtbekleideter Indianer mit buntem Federschopf. Das sind doch nicht wir! Doch, wir sind es.
"Rainald Grebe ist der zauberhafte Expressionist unter den deutschen Comedians - vor dem man aber auch immer ein wenig Angst hat", meint Thomas Herrmanns, das Gesicht vom Quatsch Comedie Club. Ja diesem, der uns via Fernsehkanal lachen machen soll. Was er ja manchmal auch tut. Und genau dort trat Rainald ehedem auf, bis ihm der Quatsch doch zuviel ward. Also den Blick gen Osten gewandt und zur Kunst. Studium an der Berliner Schauspielschule Ernst Busch, Fachrichtung Puppenspiel. 1999-2004 Engagement am Theaterhaus Jena - dorther auch die Einsicht in die Tiefen der thüringschen Seele. Rainald Grebes Arbeit erschöpfte sich nicht im Spiel mit den Puppen, als Aktivdramaturg nahm er an der Gestaltung teil und verantwortete solch Spektakel wie "Jena kocht", "Die Falkenhorst-Show" oder "Der Berg ruft". "Das waren seltsame Abende für Mitarbeiter und Spinner." Dazu Ideen und Arbeit an eignen Programmen. Vorbilder in dieser Hinsicht u.a. Dieter Thomas Heck, James Joyce, die Kultusministerkonferenz, der Puppenspieler Rene Marik ... Journalisten schrieben Hymnen auf den Künstler und Akteur. Das Fernsehn hat gefilmt, Agenturen angefragt. Mit Erfolg. Mittlerweile ist Rainald Grebe überregional bekannt und für seine Programme preisgeehrt: Prix Pantheon, Jan-Wesemann-Preis für Ereignisproduzenten, Cabinet-Preis, Sparte Chanson. Nächste Ehrungen sind angesagt: Förderpreis der Stadt Mainz und Deutscher Kleinkunstpreis.
Nun könnte man annehmen, daß sich in diesem Hype der Kultur und Medien dem Künstler andere Arbeit nicht mehr gestattet. Rainald Grebe tut sie trotzdem oder grad deswegen. Er ist wieder am Theater, diesmal am Neuen Theater zu Halle. Gemeinsam mit Claudia Bauer verantwortet er die moderne Fassung der alten Geschichte vom "Parzival". Das ist jener Tor, der in die Ritterwelt gezwungen wird, um ein marodes System zu stabilisieren. Stets wieder hat diese Mär Autoren begeistert: Richard Wagner, Christoph Hein, Tankred Dorst, auch Adolf Muschg. Grundlage der Hallenser Inszenierung ist letzteren Sicht auf die Geschichte. Daß die Inszenierung kein dröges Abbild des Romanes bietet, dafür garantieren Regisseure und Aktivdramaturgen. Siehe dazu gleich hier drunter.
Apropo Roman: Auch die Literatur ist eine Sparte, die der Künstler Grebe für sich entdeckte. "Global Fish" heißt's Werk und erscheint uns eben jetzt. Einen "Ulysses für Arme" verspricht der Autor und einen Entwicklungsroman. Der Held begibt sich auf die Reise in die Welt und zu sich selbst. Dumm nur, daß die Abenteuer auf hoher See und mit Piraten allesamt inszeniert. Das Leben an sich bleibt so fade und unangenehm wie davor, wenn nicht schlimmer. Mehr als ein Hinweis auf gegenwärtige Wirklichkeit und virtuelle Realitäten wird gegeben. Lebst du noch oder liest du schon?
"Wer aus dem Wald kommt, muß nicht witzig sein." Deshalb können wir Rainald Grebe und die Kapelle der Versöhnung derzeit auf ihrer "Abschiedstour" besuchen. Das ist eine "Wundertüte" aus Chansons und Sketchen, Texten, Melodien. Und klar, bierernst ist weder Abschied noch Programm. Sie kommen wieder. Und deshalb stellen wir abschließend die Frage: Hat denn Sachsen-Anhalt schon seine Hymne? Herr Grebe, übernehmen Sie!
Termin: Leipzig: 16.3.2006: Lesung innerhalb der Show "El dry", ab 18.00 Uhr Moritzbastei.

Tanz mit altem Gebein oder Macht Neues Theater Spaß?

Der Jungfrau haben sie den Lover erschlagen. Aus ist's mit den Träumen von Liebe, Familie und Sex. Jetzt irrt sie durchs Land und kann vom Toten nicht lassen. Doch Gebeine können Leben nicht ersetzen.
Die Geschichte der Sigune ist eine von den vielen, die uns die Mär vom Parzival erzählt. Der wird fern der Welt und allen Übeln aufgezogen, denn zur alten Gesellschaft der grausamen Ritter soll er nie dazugehören. So wünscht sich's die Mutter und fehlt. Denn der Tor will genau das: Ritter werden! Und da er vom Leben keine Ahnung, raubt er, vergewaltigt, mordet. Trotzdem gilt der den Alten als Heilsbringer und wird verehrt. Reformen tun Not, vielleicht könnte Parzival ... Nein. Auch er kann den Traum vom guten Leben keinem erfüllen. Der Hoffnungsträger wird für die Gesellschaft passend gemacht. Einer wie alle. Das war's dann ... Doch unser Held kann von den Idealen nicht lassen, macht sich auf den Weg und sucht und sucht ... und findet zumindest privat die Harmonie.
"Ist Unentschiedenheit dem Herzen nah, so muß der Seele daraus Bitternis erwachsen." Der Mythos vom Naturkind, das den alten Rittern an Artus' Hof die Hoffnung bringt, ist schweinealt und wird immer und immer wieder erzählt. Wolfram von Eschenbach brachte die Mär anno 1210 auf uns. Wir kennen Wagners Interpretation. Für Christoph Hein war sie der Abgesang aufs sozialistische System. Das nt hält sich an Adolf Muschg und seine Sicht des "Roten Ritters". Claudia Bauer und Rainald Grebe haben das Werk auf unsere Bühne gehoben. Dazu sagen wir: Bravo.
Es ist die alte Geschichte, doch ist sie ewig neu. Sehr wohl erkennen wir den Bezug zu Halle und zum Jetzt. Parlamentarierer streiten um Finanzen und belassen es beim Alten. Der Geschäftsmann trachtet nach Gewinn und kann das Glück nicht kaufen. Und der Held muß sich sein Scheitern eingestehn. Er macht sich auf den Weg. Trotzallem.
Die Regisseure vertrauen den Spielern. Sie verzichten auf den Schnickschnack und den Schockeffekt. Sie erzählen, und wir sind bereit, ihnen zu folgen. Björn Geske ist der Parzival an sich. Nachvollziehbar seine Reaktionen. All die andern Spieler assistieren, ohne an Gesicht und Charakter einzubüßen. Das ist Wandlungsfähigkeit und hohe Kunst. Wir sind begeistert. Neues Theater muß keineswegs die alten Mittel der Schauspielkunst zertrümmern, sie kann sich darauf besinnen und ihnen modernes Antlitz geben. Die alten Geschichten sind weniger alt als vermutet, denn erschrocken stellt man fest: Die Problematik ist dieselbe. "Hölle ist, wenn sich Gesellschaft nicht verändert!"
Theater muß uns packen. Diese Inszenierung nutzt die Mittel. Melodram, Verfremdung, Kabarett, ... Wir können entdecken und entdecken uns selbst. Was würden wir tun am Ende des Weges, wenn alle Wünsche erfüllt?

Daumen rauf und Daumen runter

Ein Bissel war sie Legende geworden und Sprungbrett für die Bühne sowieso: die Hopp-oder Topp-Show. Dann war sie weg. Nun ist sie wieder da! Am 16. Januar 2006 war sozusagen der Show zweite Premiere. Mehr Konzept im neuen Raum, und der ist dieVeranstaltungstonne der Moritzbastei. Moderator Martini heißt jetzt Martin C. und ihm zur Seite Claudia Mende, die unterm Publikum die Fans befragt. Denn klar, wir Zuseher stimmen auch fürderhin ab und unsre Daumen werden hoch und runter gezählt. Wer den größten Abstand zwischen beiden hat - hat gewonnen und ist Gast beim Jahresspecial, wo alle Sieger sich sich beweisen müssen und unsere Daumen, selbstverständlich. Auch neu: die Scouts. Das sind bühnenerfahrene Damen und Herren, die mäkeln, applaudieren, Vorschläge machen. Der Newcomer kann hinhören oder nicht. Interessant ist's allemal.
Start war am 16. im Januar und die Tonne rappelvoll. Zuerst sang die Kasi, hinter dem Namen fürs Haustier verbarg sich eine junge Frau, die im Abiturstreß liegt und erstaunlich gut Stimme gibt. Mit eignen Texten zu Gitarre wußte sie nicht nur uns zu begeistern. Gesanglich gut drauf war auch das Damenduo Kata/Anne. Interpret No. 3 war der Guido als Singleauskopplung von Workout. Eingesprungen für einen Absager (bei Hopp-oder-Topp sollt keiner kneifen) war seine Vorstellung professionell. Es blieb zwar musikalisch, doch die Piper Angels ließen Akkordeons Hits und Oldies spielen, und die rissen mit. Schließlich gab's Ballett mit der Showtanzgruppe 6x24, wobei der Name wenig sinnvoll, die Bewegungen dafür sehr anmutig anmuteten. Dann hatte das Publikum entschieden: Sieger Kata plus Begleitung. Einsprüche, Widerstände, Reklamationen gab es nicht. Es war gut so.
Hopp oder Topp - das ist die Chance für Leute, die uns was zu bieten haben. Bewerben kann sich jeder, groß, klein, dick, dünn, nackt oder im Smoking oder ... Anmeldung unter www.hoppodertopp.de. Diesmal war die Show etwas Musik bestimmt, vielleicht sehen wir am 13. März (Termin vormerken!) Akrobaten, Akrobaten des Wortes, Seilhüpfer, Models, Rechenkünstler, ... Deutschland sucht den Superstar woanders, unsere Leipziger Show mit dem Daumen ist ein gutes Beginnen. Wir sehen uns wieder. (Alex Oheim)

Unwucht an Text
Räuberische Erpressung im Thalia

Raub und Mord, gar Vatermord, Bruderzwist, Verrat, Scheintod, Selbstmord, ew'ge Liebe - eigentlich ist alles drin im Klassiker "Die Räuber". Das Stück begegnet uns nach Schillerjahr und endlos Huldigung an den Autoren jetzt nach allem Trubel im Thalia. Denn solch Rebell gegen Moral und Elternhaus, der streitet für Ideale und muß auch heute uns begeistern. Ganz oder gar nicht, meint die Regisseurin Annegret Hahn und setzt uns die Pistole auf die Brust und knallt den vollen Text auf die Bretter. Wir heben ob der Erpressung die Hände, sind erschrocken und glauben es nicht: Ist denn dies "schlappe Kastratenjahrhundert zu nichts nütze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen"?
"Ich schreibe einen dramatischen Roman und kein theatralisches Drama", kündigte Friedrich Schiller schon an. Und so ist denn sein Erstling weniger Geschehen denn lange Rede. Sicher anno 1782 war der Schrecken der feinen Gesellschaft sehr groß, solch Gesellschaftskritik und Schauermär auf der Bühne zu sehen. Wir im Heute sind diese Undramatik gar nicht gewöhnt und sitzen verdutzt in der Reihe - Was wollte uns der Dichter damit sagen? Was erzähl'n die denn da? Regisseure suchten und fanden Zeitbezüge von Revolution bis Heldentod und hielten das Stück 225 Jahre präsent. Hätten sie's uns so gegeben wie's Thalia, wären "Die Räuber" längst vergessen. Denn in Halle wird aus dem Drama ein Rezitationswettbewerb. Worte, Worte und Worte verzichten gänzlich aufs dramatische Geschehen. Keine Handlung, keine Wandlung - nur eine Haltung und Worte und Worte und Worte. Das kann Theater heute nicht sein, zumal wenn Kinder- und Jugendtheater hinterm Namen steht. Ich bedaure die Kids, die ins Drama gezwungen werden. Aber das Kind von heute, das zieht nach zwanzig Minuten die Konsequenz und geht. Lehrer müssen sitzen bleiben. Die Schauspieler müssen spielen. Herzliches Beileid.
Dabei sind durchaus Ansätze lustvollen Spieles bemerkbar. Das Bühnenbild ist keins, sondern der Comicstift Karsten Schwenzfeiers zauberte Atmosphäre, manch liebenswerten Hingucker und gibt so den Spielern Möglichkeiten. Davon könnte sich das Ensemble inspirieren lassen. Auch musikalisch gibt es heftige Metal-Töne. Warum nur, warum blieben dies Glanzpunkte, die mit der Inszenierung kaum was zu tun zu haben? Ja, wir würdigen die Gedächtnisleistungen aller Akteure, so viel und alter Text will im Kopf behalten sein. Nein, wir empfehlen "Die Räuber" im Thalia nicht, sie sind besser (und schneller) gelesen.

Und nebenbei: Ein Mord

Da sitzen sie nun drin im Leben, und das ödet an. Woran kann, sollt', dürfte man sich orientieren? Die Väter sind im Kriege geblieben. Die Mütter vergöttern Buben wie Mädchen. Nee, ist sich der Nachwuchs sicher, solche Familie ist nicht. Dann lieber: Nietzsche? Kaufrausch? Bier? Kokain? Die Liebe? Gott? Die verlorenen Kinder irren in der Gesellschaft umher, die nirgendwo Halt bietet. Wenn schon nicht daheim, findet das Leben vielleicht anderswo statt. Vielleicht in Italien? Ramazotti. Spaghetti. Amore. Also andiamo - Sachen gepackt und auf! Und dann sitzen sie beim Chauffeur drin im Wagen, der Gert zieht die Pistole und Puff ... Der gute Mann ist einfach tot. Schnell war's aus mit seinem Leben. Und die, die dabei waren, die Clique? Der Foss und die Adi, die Creszenz, sie irren umher, und sie irren und haben bereits verloren.
Ferdinand Bruckner schrieb seine Theaterskandale in den Goldenen Zwanzigern. "Früchte des Nichts" ist ein Nachkriegsschauspiel. Und erschreckend: Es ist nah an uns und unsrer Gegenwart dran. Eine gute Wahl des Stückes (es müssen nicht immer die neuen Engländer sein!), und eigentlich genau das, was den Schauspielstudenten Halles auf den Leib paßt. Jeu, sie verausgaben sich auch mit ganzer Person, ein Springen und Schreien, Weinen und Lieben. Voran die Herren Martin Vischer und Philipp Niedersen als Mörder und dessen geistiger Vorbereiter. Barbara Hirt gelingt der Kaufwahn nachvollziehbar, genau wie Nancy Fischer die Gläubige. Ja, durchaus talentiert dieser Nachwuchs (auch der unbenannte). Allein, der Funken des Geschehens will nicht so recht in die Sitzreihen drücken. Wir sitzen in der Werft, also im Bunker, eng ohne Lehne und folgen dem Spiel mit ohne Verständnis. Dabei hat doch's Stück alles, was es sehenswert macht: Gewalt, Leidenschaft, Jugend und irrlichternde Befindlichkeit. Spielt die Exzesse! wird der Herr Regisseur Kristo Sagor gesagt haben: Spielt! Und setzte auf den Schauwert. Die Psyche der Aussteiger bleibt so an der Oberfläche, wird kaum nachvollziehbar. Tja: Der Mord ist eben halt passiert. Einfach so.
Genau so war's im wirklichen Leben auch. Der Mord am Chauffeur geschah realiter 1947. Der Mörder konnte Gründe für die Tat nicht nennen. Die Zeit ist aus den Fugen. 's is eben passiert. Leider. Ich weiß selbst nicht warum. Passiert auch heute. Erinnern wir uns erschlagener Penner, verhungerter Kinder, totgedroschener Frauen, Freunde, Nachbarn. 's is eben passiert. Diese "Früchte des Nichts" erscheinen zeitlos und unbegreifbar. Schön, daß sie im nt ans Licht, zumindest im nt auf die schummrige Bühne gezerrt werden. Antworten sind selbst zu suchen. 's is eben passiert, wird vor Gericht nicht reichen, da wollen wir mehr der Begründung. "Früchte des Nichts" sind die Akteure keineswegs, wir sind auf ihre weiteren Talentbeweise gespannt. Echt.

Und Abfahrt!
Das Thalia spielt andern Orts Theater

"Halle Hauptbahnhof! Halle Hauptbahnhof! Bitte steigen Sie ein!" Nun gut, wir sind erst in der Vorhalle und quälen uns am Automaten. MDV und DDB und BC 50, 25, 0. Man weiß nicht, wo einem der Kopf steht. Und erst die Preise! Und augenblicklich heben sie neben uns an und quatschen drauf los. Nein, ich will über mein Leben nicht mit fremden Menschen reden. Nein, das hat sich. Doch die lassen nicht locker.
Das ist das Thalia-Theater auf dem Bahnhof. Die Bühne zeigt sich erneut an unerwartetem Orte in der Stadt. Wir sahen "Stücke der letzten Tage" in der Platte. Wir erlebten des Pudels Kern samt "Faust" im ungenutzten Haus des Volkes. Wir philosophierten im Hörsaal der Anatomie. Das Kinder- und Jugendtheater unserer Stadt beschreitet zumindest mit Spielräumen Neuland, rsp. solche Gebäude, die bislang nur Kulisse im Vorbeigehen waren, niemals Theater. Das Regie-Nachwuchstalent Babett Gruber stellt die "Sechs Zellen" einfach unter uns auf den Bahnhof. Da kommen wir nicht umhin, uns zu verhalten. Stehen? Gehen? "Sechs Zellen"? Wir Klassenkampf geschulten wissen, die kleinste Zelle der Gesellschaft ist die Familie. Es geht noch kleiner, das ist dann ein Mensch alleine. Und so erleben wir Arlette und Kos, Tita und Latifa, Suzelle und Elisabeth. Sie reden im Bahnhof einfach drauflos. Wir haben das Recht weiterzugehen. Wir können aber zuhören. Die Sechs sprechen sich ihren Frust vor uns von der Seele, den großen, den kleinen. Wieviel kann ein Mensch ertragen? Wieviel der Demütigungen hält er aus? Und was ist, wenn man an den Kleinigkeiten des Daseins schier verzweifeln muß? Nein, sie werden uns Antworten nicht geben. Aber sie stellen uns Fragen. "Von der Bahnsteigkante bitte zurücktreten!"
Das Stück von Philippe Minyana zeigt uns die französische Gegenwart in der Industriestadt und in den Wohnghettos davor ungeschminkt. Dortige Realität und Wut flimmerte erst kürzlich mit Feuer und Flammen über die internationalen Bildschirme. Es sind winzige Dinge, die einen aus der Bahn geraten lassen. Das zeigt der Autor, das verlauteten die Kommentare. "Achtung! Zug kommt zur Abfahrt!" Das Ensemble zeigt Mut. Mut, sich aus dem Hause zu begeben. Mut, von sich zu erzählen. Mut, auf Menschen zuzugehen. Insofern: Experiment gelungen. Es liegt an uns, ob wir das Angebot annehmen. "Herzlich willkommen in Halle an der Saale. Ihr Zug endet hier." Angekommen oder wirklich das Ende?

Gelb ist nicht nur die Farbe der Sonne
Das Schauspiel zeigt die "Pinkelstadt"

Da ist die Kacke am Dampfen. Die Regierung hat beschlossen, umsonst die Toilette ist nicht. Privat aufs Klo ist verboten. Und fürs Pissoir muß man zahlen. Wer nun in die Ecken schifft, hinter Büsche oder Bäume, den holt die Polizei, und dann ab nach Pinkelstadt, das ist der Tod. Das kann sich keiner bieten lassen, deshalb hört Johnny auf sein Herz und ruft auf, auf zur zum Kampf, zum Kampf gegen Unrecht und Ausbeuterei. Es tuen viele mit, gar Kapitalisten lassen sich überzeugen. Trotzdem bleibt die Utopie Utopie und die Kacke am Dampfen.
Zugegeben, jedermanns Thema sind Abwässer nicht. Und im Klo schließt man die Tür, nur Gott schaut zu. Autor Greg Kotis kam beim Europa-Urlaub die Idee: Denn in unsren großen Städten muß der Tourist arg löhnen fürs Geschäft. Klofrau, Drehkreuz oder Schlitz wollen die Münzen, Münzen, Münzen. Dem Greg wurde es knapp mit dem Geld. Was wäre, wenn der Staat aus sämtlicher Notdurft Geschäft macht? Wir Bürger hätten keine Chance, daneben zu machen, wir sind per Gesetz der Natur mit dabei. Schöne Geschichte, dachte der Greg. Wieder daheim in Chicago begeisterte er Freund Mark Hollmann und das Musical "Urintown" ward geschrieben. Entgegen der Befürchtung gelang nicht nur in der Szene der Erfolg, der Siegeszug des Werkes ist heute weltweit, und das Theater Chemnitz eines der ersten Häuser, die es deutschlandweit bietet. Wir sind hoch erfreut, wenn's auch der upper class im Parkett stinken mag.
Uwe-Dag Berlin inszenierte sicher. Das Ensemble erspielt sich die Freude an dieser Show mehr und mehr. Und die Musiker unter Michael Hinze treffen den Ton. Muriel Wenger begeistert. Stefan Wancura umgibt Sympathie. Klar wünschen wir dieser jungen Liebe das Beste. Alle die anderen Spieler vom Uringewinnler bis hin zum bösen Bullen sind schön schräg. Was nicht heißt, sie könnten nicht noch schräger sein. Sicher, es ist eine Schauspieltruppe auf der Bühne, manche Melodie wäre besser zu treffen. Muß aber nicht sein, denn wir folgen der unglaublichen Geschichte fasziniert. Selten, daß uns während einer Vorstellung lautes Lachen entfleucht, hier fühlten wir uns prächtig unterhalten. Jawohl.
Neben aller Unbotmäßigkeit ist "Pinkelstadt" Theater der Zeit. Regierungen erpressen letzte Groschen. Wir zahlen, weil wir müssen. Schön ist, wenn einer zum Aufbruch in eine bessere Zukunft ruft, wir würden ja mittun - wir tuen es nicht, zu sicher sind noch die Pfründe. In Pinkelstadt ist die Kacke am Dampfen. Die Revolution gelingt, sie dürfen ohne Geld auf Toilette. Es fragt sich: Wie lange? (Alex Oheim)



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