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Neues aus der Theaterwelt (28.11.2004)
von Henner Kotte

Scheidung durch Tod
Schauspiel-Romantik á la Blaubart und Boris von Poser

"Ich hätte mir eher des Himmels Einfall vermutet, als ein solches Stück auf unserem großen Theater zu sehen", schrieb Ludwig Tieck. Wir schreiben's jetzt. Weil eben jener Autor des Schauspielhauses Bühne entern wird. "Ritter Blaubart" gibt's ab 6. November 2004 da hinterm eisernen Vorhang zu schauen. Eine märchenhafte Geschichte vom König und seinen acht Frauen, denen sich der King nur durch Ermordung entledigen kann. Zum guten Ende überlebt die letzte Schöne. Tatsache: Die Geschichte hat sich abgespielt. Beinahe so. Zumindest erzählen's die Chroniken. Wir erinnern uns des sagenhaften Heinrich VIII. Ein Stoff aus dem die Dramen sind. Shakespeare hat über den Helden geschrieben. Jaques Offenbach hat Musiktheater daraus gemacht. Max Frisch eine philosophische Betrachtung. Manche Schrift, wo sich der Blaubart tummelt. Und Ludwig Tieck? Ja, auch er hat von "Ritter Blaubart" geschrieben. Ein Stück fürs Theater. Anno 1796.
Boris von Poser hat den Text wiederentdeckt und bearbeitet. Denn auch in unsere Zeit paßt solch' Geschichte, meint er: Ein wenig Schauer. Tragik. Liebe. Ein wenig vom Glück. Und überhaupt ist's vom alten Autoren Ludwig Tieck hin zu uns nicht sonderbar weit. Tieck hat in Dresden gelebet und gilt als "König der deutschen Romantik". Gegen die Modebücher schrieb er an und hat Bleibendes geschaffen. Mit "Ritter Blaubart" schuf er in seinem Sinne neue Kunst und Märchen. Und damals wie heute: Auch in derzeitigen Horrorfilmen knistert's in Schlössern. Attraktive Heldinnen bangen ums Leben. Und böse die Mächte, die beschworen werden können. Insofern erwartet uns mitnichten eine gewöhnliche Rittermär oder ein Theaterschinken.
Mit dieser Inszenierung macht Boris von Poser in Leipzig das Triple seiner Arbeiten voll. In seiner Regie sahen wir bereits "Gier" und "Vorher/Nachher". Stoffe der Gegenwart. Doch einengen lassen möchte sich Boris von Poser nicht. Deswegen Romantik. Deswegen auch Oper in Berlin. Deswegen Projekte, Experimente in München, Leipzig, anderswo. Geboren 1967, ist Boris in Heidelberg aufgewachsen unter der romantischsten aller deutschen Ruinen. Theater hat er im Heimatort gespielt. Bereits als Schüler inszeniert. Studiert hat Boris von Poser Regie in Wien, am Reinhard-Seminar. Erste Praxiserfahrungen hat er bei Peter Zadek gesammelt. Seit 1991 ist er freiberuflich Regisseur. Vornehmlich in Berlin, an den Sophiensälen. Nun in Leipzig zum Dritten. Wir sind gespannt.
Boris von Poser schätzt hier das funktionierende Haus, die Schauspieler und Arbeitsbedingungen. So ist auch "Ritter Blaubart" ein Stück mit großem Ensemble. Carolin Conrad und Thomas Dehler und Torben Kessler - 11 von 32 spielen mit. Katja Schröder zeichnet verantwortlich für Bühne, Kostüme. Zusammenarbeit, die sich bereits bewährte. Im Stück könnt man sich erinnert fühlen an die eigene Kindheit mit ihren Märchen. Aber auch an "Scream" und andere Schocker neuerer Produktion. Und natürlich erfahren wir Neues über Liebe.
"Ich zittre, wenn ich überhaupt an alle die Gefahren denke, die dir bevorstehen; denn wenn du dich nun auch wirklich verlieben solltest, meine Tochter, wenn dir auch die zärtlichste Gegenliebe zuteil würde - ach, Kind, sieh, so dicke Bücher haben weise Männer vollgeschrieben, oft eng gedruckt, um die Gefahren der Liebe darzustellen; eben Liebe und Gegenliebe können sich doch elend machen: das glücklichste, das seligste Gefühl kann uns zugrunde richten; die Liebe ist gleichsam ein künstlicher Vexierbecher, statt Nektar trinken wir oft Gift, dann ist unser Lager von Tränen naß, alle Hoffnung, aller Trost ist dahin." Ludwig Tieck und diese Art von Romantik, gestehen wir's ein, sie paßt zu uns. Herr von Poser, haben Sie Dank.

Wechsel ist Beständigkeit
Im nt putzt und tippt die Tasten: Carmen Birk

Sie ist jene mit den großen Augen. Sie ist jene mit dem langen Haar. Sie scheuert die Flure und trägt unterm Kittel ein güldenes Kleid. Und am Ende fällt das Mädchen dem Helden in die Arme und wird glücklich. Logo, ist nicht das Leben, ist Schauspiel. Carmen Birk spielt im diskussionswürdigen "Oberst Schädel Hirn Dings" gegen die Statik der Inszenierung und etabliert Charakter mit wenigen Worten. Es sind ihre ersten auf der Bühne vom neuen theater. Wir werden weitere hören. Carmen Birk hat am Hause ihren ersten Vertrag nach dem Studium: Schauspielerin.
Dabei: Schauspielerin war nicht Carmens Berufswunsch. Malen wollte sie, Architektur studieren war Plan. Im Theater ist sie bislang kaum gewesen. In der Familie keine Künstler. Aber dann fragte ein Regisseur in der Klasse: Wer will Theater spielen? Carmen hatte kein Interesse. Doch es hoben die Hände all jene, mit denen Carmen gern in Clique und Gesprächen wär. Und was tut man, wenn man dazugehören möchte? Carmen hob die Hand und war dabei. Sie blieb es, tourte durch die Städte, spielte. Auch als die Zahl der Enthusiasten schrumpfte. Auch als die Schule Abschlußzeugnisse verteilt hatte. Carmen bewarb sich zum Schauspielstudium. Carmen erhielt die Zusage: Eine von Dreien.
Temesvar liegt in Rumänien. Temesvar ist Carmens Heimatstadt. Mutter und Schwester leben vor Ort. Heute. Der Vater verstarb. Deutsch ist Carmen Muttersprache. Auch am Theater sprach man deutsch. Christian Bormann hieß der angereiste Regisseur, der sie und Kinder an die Temesvarer Bühne holte. Er lehrte Carmen Kunst. "Mein Schauspielpapi" sagt sie heute. Außergewöhnlich und doch nicht: Siebenbürgen hat Geschichte, die mit der unsren eng verbunden. Autoren kennt man und andere Rumänen mit Nationalität: deutsch. Heimat BRD war nicht Carmen Birks Hoffnung und Ziel. Nein, daß sie hier studierte - Zufall. Die Temesvarer Studenten waren eingeladen zum Treffen deutscher Schauspielschulen: Rostock. 1999. Und hier beschloß Carmen den Wechsel. Es täte ihr und Sprache gut, in Deutschland zu studieren. In Leipzig hat sie die Theaterhochschule erfolgreich beendet. In Chemnitz hat sie erste Bühnenerfahrungen gesammelt. In Halle hat Carmen Birk ihr erstes Engagement. Gesehen hat man Carmen Birk auch vordem. Bei besagtem Treffen der Studenten anno 1999 fiel Carmen Connie Walter auf, Kino-Regisseurin. Carmen wurde Ostberliner Punk. "Wie Feuer und Flamme" titelte der Film. Eine Geschichte Ost und West und Liebe auch. Erfahrungen, die Carmen nicht missen möchte. Auch derzeit hat sie Film und Fernehen im Blick und in Verträgen. Hallenser Bühnenbretter hat die Aktrice bereits vorm nt schon gesehen. Beruflich. Bei "Buddy Holly" stand Carmen auf der Opernbühne. Dort wird sie auch wieder stehen.
Für Halle und das nt hat sich Carmen intuitiv entschieden. Nicht zu klein, zu groß die Stadt. Das Theater besitzt guten Ruf. Und spannend derzeit die Phase, wo Peter Sodanns Intendanz gewechselt wird. Das Ende einer Ära. Der Beginn von neuer Zeit. Spannend und Herausforderung für alle, auch uns Publikum. Im Wechsel liegt Beständigkeit, und Carmen spielt unter der Theaterführung alt und neu. Sie bringt sich ein. Es bringt Berufserfahrung. Ihr Vertrag endet 2006. Und Verträge können verlängert werden. Doch, wie gesagt, im Wechsel ...
Ab 19. November sehen wir Carmen Birk singen. "Sekretärinnen" heißt das Erfolgstheaterstück, das nunmehr in Halle an der Saale spielt. Neun Sekretärinnen tippen sich musikalisch die Sehnsucht vom Leib. Es ist kein Nummernprogramm, sondern erzählt Geschichten persönlich. Die mit den großen Augen und dem langen Haar heißt Carmen Birk. Sie ist neu in Job und Hause und heimisch. Wir haben's bemerkt. Toi. Toi. Toi.

Gehirn stand by
Eine grandiose Tour de Farce wird Knallerbse im nt

Jawoll: Patient atmet. Herr Doktor setzt das Messer an und ... Scheiße: Nato-Bomber nehmen Ziel in Jugoslawien. Da löscht man besser auch in Bulgarien alle Lichter, denn wer weiß, ob die Piloten richtig zielen. Stadt ist Stadt. Zuviel ging schon an Kollateralschaden drauf. Vor allem Menschen. Und Bulgarien liegt ja nun mal nahe bei. Lieber im Dunkeln als im Jenseits. Nun gut, daß der Patient mit offner Wunde auf dem OP-Tisch ... aber im Kreiskrankenhaus kriegt man sie wieder hin, die Patienten. Wir sind bei der Behandlung dabei. Im nt. Und haben gut Lachen. Oder besser Erschrecken. Schwarzen Humor nennt man das.
Einer liegt drin, der weiß gar nix. Contusio cerebris heißt die Diagnose: Gedächtnis weg nach schlimmen Vorfall. Den Patienten fand man neben einem Bomber, der stürzte ab ins landwirtschaftlich genutzte Feld. Den Bewußtlosen schleppte man ins Krankenhaus. Auch die Ärzte: Keine Ahnung. Aber das lustige Völkchen der Mitpatienten weiß: Der mit nix in der Birne ist Pilot. Ist Oberst. Ist Amerikaner. Contusio Cerebris der werte Name. Und langsam beginnt Oberst Cerebris sein neues Leben. Mit Nato und Würde, mit Rente und Frau. Seine Zukunft gesichert übers Lebensende hinaus.
Wow, Herr Hristo Botchev schrieb "Oberst Schädel Hirn Dings" und faszinierendes Theater mit Themen, die man sonst nicht sieht und sehen möchte: Krieg und Krankheit, Alter, Militär, Gesundheits- und Spitzelwesen. Aber Botchevs schräge Figuren stimmen im Irrsinn optimistisch. Zwar sind sie beschissen dran: Einer weiß alles über die Schweiz, bis hin zur Häufigkeit der Diarrhoe. Eine putzt und putzt und hat unterm Kittel ein güldenes Kleid. Ein andrer hat Appetit auf Butterstulle mit Sprengstoff. Trotz alledem! Im Krankenzimmer geht die Lebenslust niemals flöten. Da ist was los.
Auf offener Bühne erleben wir zumindest den Wortwitz. Zumindest sieht man die Lust den Schauspielern an. Sie mühen sich redlich und zeigen im Kleinen, was sie im Großen nicht zeigen dürfen. Dem Regisseur Dietmar Rahnefeld ist es wahrlich gelungen, das Feuerwerk absurden Humors in Langerweile zu ersticken. Keine Spur von Balkan-Witz und -Tempo. Dabei hätt's so schön sein können wie die Filme Emir Kustoricas. Die Ideen liegen doch im Text schon drin und auch eigne könnt' man haben. So zieht sich die Farce endlos in beinah drei Stunden. Da ist die Luft raus. Auch wenn der Patient noch atmet.
An den Akteuren liegt's nicht. Hilmar Eichhorn, Reinhard Straube, Joachim Unger, Peer Uwe Teska und Karl-Fred Müller lassen oft richtige Kunst im Schlafanzug blicken, das ist lustig anzusehen. Die Damen Hannelore Schubert und Elke Richter machen aus Minutenauftritten wirksame Szenen. Und Aschenbrödel Carmen Birk kann herrlich putzen. Und tatsächlich hat die Schauspieldramaturgie ein glückliches Händchen bewiesen. Wer zeigt denn heut' bulgarisches Theater. Doch dieses ist es wert, entdeckt zu werden. Klasse! Daß der Abend im Gedächtnis bleibt, ist in erster Linie dem Text zu danken. Schräg und nahe dran am Weltgeschehen. Daß es eine sehenswerte, aber lahme Nummer wird, liegt nicht am Ensemble und der Schauspielkunst. Hier hat ein Regisseur keinerlei Gespür bewiesen. Das hatten wir schon und erinnern: Das "Hysterikon" war eine von sowas grottenschlechte Inszenierung. Herr Rahnefeld, bitte, lassen Sie die Hände vom Humor. Fürs Theater haben Sie offensichtlich keinen.
Die Wahrheit kommt am Ende. Natürlich ist Oberst Cerebris ... wirklich, trotz aller Schicksalsschläge gibt's ein happy end und echte Liebe. Krankenhaus kann schon schön sein. Und wenn man dann wegen der Bomber das Licht löscht, wird's 'ne echt geile Nacht.

Schwärme in und von der Nacht

Sie brennen wieder im Krystallpalast, die Lichter und die Menschen. Nach jenem ungeklärten Silvesterfeuer, das Saal und Technik zunichte loderte, sind Renovierung und Instandsetzung abgeschlossen. Der Vorhang wieder offen. Wir Publikum froh, diesen Palast ganz wieder zu haben.
Bert Callenbach führt ins Leipziger Nightlife und zeigt uns "Die schillernde Vielfalt der Nacht". Er trifft "Nachtschwärmer" und andere Leut: sexy Politessen, attraktive Herren, angetrunkne Dämchen, Musiker angeführt von Enrico Wirth, er trifft Roboter gar. Ganz schön was los hier. Callenbachs sanglicher Esprit begeistert und die zeitbezogenen Texte Anja Busses und Tom Reichels. Sie werfen den Blick auf die einsamen Verkäuferinnen, junge Dinger, und mitnichten sind des Nachts alles Katzen grau. Wir begegnen Henrik Lüderwaldt als selbstvergessenen Disco-Prinzen, der à la Studio 54 mit seinen Bällen und Keulen spielt, sich in besten Trance jongliert. Klappt nicht immer, wissen wir auch. Die Ladies nennen sich Ulali, kommen aus Amerika und haben ein Faible für die 20er Jahre und Luftnummern. Unter Alkohol schwingen sie sich in schwindelnde Höhen und meistern das obere Leben stets ohne den Absturz. Charme, Verve und Witz nötigen uns Hochachtung ab und den Wunsch, die Zwei wieder auf ebene Wege zu führen. Marcel Peneux hat seine Beine nicht im Griff oder zu gut. Seine Schritte klingen treppauf, treppab im Rhythmus, das Publikum muß mit und tut's. Wautsch, kann das Wandern durch die Nacht euphorisch machen, sei es mit den Händen oder gerade diesen. Daniel und Reynald zeigen, was zwei Männer miteinander anstellen können. Sieht herrlich gut aus. Und einen treffen wir ohne Gefühl, und der hätte gern welches. Dann später - "Nothing else happend" - hängt er wieder am Seil und möchte fliegen. Bitte tu's nicht, das Leben lohnt jeden Traum, möchte man rufen. Aber das hat Mikhal Stepanov verstanden und gleitet himmlisch auf den Boden der Tatsachen zurück. Schad nur, daß einem selbst solch über den Dingen schweben unmöglich. Typen gibt's, man möcht's gar nicht glauben. Ins Herz geschlossen haben wir sie. Und wir gehören dazu. Im Krystallpalast. Aber sonst auch. Wer schwärmt denn nicht aus ins nächtliche Leben? Und schwärmt danach von mancher Nacht? Wir tun's. Keine Frage.

Traumhafte Primetime

Agnes heißt die Tochter Gottes. Sie "ist auf die Erde herabgestiegen, um sich zu vergewissern, wie es den Menschen geht, und sie muß erfahren, wie schwer alles ist. Das Schwerste ist: anderen weh zu tun, wozu man gezwungen wird, wenn man leben will". So begegnet die Lebensunerfahrene Menschen, denen auch wir begegnen: Offizier und Rechtsanwalt, Magister, Sängerin und Vater, Mutter. Ein Kaleidoskop. Leben.
August Strindberg fasziniert seit je Publikum und Regisseure. Der Autor gab/gibt dem Theater neue Sichtweisen. Auch wir in Leipzig sahen Strindberg und diskutierten. Nunmehr erleben wir "Ein Traumspiel". Regisseur Markus Dietz hat sich des als kaum spielbaren Textes angenommen und gewinnt. Bildgewaltig ziehen Menschen an uns und an Agnes vorüber. Wir und auch sie werden gebannt. Zum einen bietet Franz Lehrs Bühnenbild einfach geniale Variationen und zeigt die Magie des Lichts. Zum anderen ist Oliver Iserlohs Videokunst nicht Beiwerk und nicht Illustration. Und klar bleiben die Akteure im Gedächtnis. Alle. Carolin Conrad als Agnes erschrocken, zerbrechlich, im besten Sinne naiv. Die Offiziere ziehen in Lebensphasen vorüber: Michael Schrodt, Michael Schütz, Dieter Jaßlauk geben die Hoffnung aufs Glück niemals auf. Und stets mit eigenwilliger Individualität alle die andren: Dichter, Wächter, Kind und Kegel. Tiefenpsychologisch gefeilt. Surrealistisch. Lebendig. "In allen Dramen kommen Szeneveränderungen und auch Personenwechsel vor, aber im letzten Akt tauchen sie alle wieder auf." Auch der letzte Akt wird gespielt, weil er gespielt werden muß. Von uns allen. Das Leben - "Ein Traumspiel"?
Das Schauspiel zu Leipzig beweist Mut zur Spielzeiteröffnung. Es ist an uns, aufs Angebot einzugehen. Sicher: Bühnenkunst á la Schenkelklopf und Lachen ist dies nicht. Allerdings ein schöner Gegensatz zur seichten Fernsehunterhaltung. Dort sieht man Kunst beinah ausschließlich von Mitternacht bis gegen vier. Das Schauhaus zeigt sie zur Primetime. Angenehm.

Stimmen gegen den Virus
Zum Welt-AIDS-Tag: Benefizgala in der Moritzbastei

Wer den HIVirus hat, kann nicht mehr wählen: Ihm steht das Ende klar vor Augen. Uns anderen wohl auch, doch nicht in diesem Maße grauenvoll und drastisch. Die Immunschwäche AIDS bleibt der Horror, selbst wenn die (heimatlichen) Zahlen weniger beängstigend und Medikamente wirksamer erscheinen. Und längst ist AIDS nicht mehr die Geißel, die ausschließlich Schwule trifft. Tag eins im Monat Dezember ist seit Jahren ein Datum, das an Krankheit und den Kampf dagegen erinnert und im Dienste der Sache Gelder sammelt. Am 1. Dezember 2004 geht auch in Leipzig die Show ab. In der großen Tonne der MB. Wir sehen Künstler, die auf Gage verzichten. Wir zahlen für den Zweck, der (fast) alle Mittel heiligt.
Organisatorisch die Herrschaft zum Ereignis übernahmen: Sabine Töpfer. Dozentin der Musikhochschule und als Solistin der MuKo eben als Heidis Großmutter im Gespräch, Martin Reik der Stimme mächtig und Schauspieler am Schauspielhause in der Stadt und Christian Hornef. Ihnen zur Seite Sangeskünstler, Musiker, Tänzer. Kein wahllos Medley allbekannter Melodeien erwartet uns. Doch Musenfreude insbesondere. Christian Hornef gibt MuKo-Musikern vom Klavier aus Takt. Mehr als die Protagonisten der Rocky-Horror-Show geben Stimme und zeigen, was sie drauf haben. Auf künstlerische Überraschungen allerlei Art sollte Publikum gewappnet sein. Norman Stehr und Michael Kneese (der hatte als Allererster die Idee vom Abend), Katja Kriesel, Anne-Kathrin Fischer und Sabine Töpfer zeigen Sangeskunst und Lieder, die außer Hit noch mehr: Something stupid? Anja Niemann und Tobias Lehmann führen durch Programm. Und das wird bunt, tragisch, heiter, optimistisch. Wir werden den Spaß haben. Herzlich willkommen.
Dieser 1. Dezember führt Kunsthäuser zueinander: Gewandhaus, Schauspiel, MuKo und MB. Die Idee kam den Kollegen spätabendlich, früh halber fünfe sind Geistesblitze eher selten. Gut, daß sie zusammensaßen, das Datum im Gedächtnis hatten, Plan und Vorstellung schmiedeten. Diese wird ansehnlich am 1. Dezember und trägt den Namen "Benefiz". Ob schwul oder nicht, wir sollten ehrlichen Herzens dabeisein. Nicht nur aus Gründen der Bussi-Bussi-Gesellschaft und des Gesehen-Werdens für den guten Zweck. Die Künstler sind's um den Preis des Eintritts wert. Die Sache hat's nötig.

Eisberg voraus!
Der Krystallpalast läßt die Titanic sinken

Jetzt ist's raus: John Smith ließ die Titanic sinken! Der dicke Käpt'n stand am Bug wie weiland Kate und Leonardo, und so ist's kein Wunder, daß der Luxusliner kopfüber kentert von wegen dem Übergewicht. Tja, das war's dann. Oder eben nicht. Der Krystallpalast präsentiert uns das Leben auf den Planken. Nach zwei und einer halben Stunde sind die Schotten dicht oder das Wasser auf der Bühne. Aber bis dahin ...
Maitre Willi führt über Bord und erzählt Großvaters Geschichten aus dem Rockbuch. Gut Willis Anmachen sind nicht neu, aber nicht nur das schöne Geschlecht hört ihm zu. Gräfin Caroline hängt elegant an der Takelage und verliert Kleid und Hund. Sie wird sich retten, wir Publikum sind fasziniert. Natalia Bakoun überlebt auch. Sie kann sich dermaßen verbiegen, daß sie um jede Reling schlängelt. Außerdem kann sie sich in mindestens sieben Rettungsringen bewegen. Das sieht auch noch gut aus. Der Passagier vom Unterdeck ist Schotte und ständig besoffen. Dann wird er vorgeführt und muß uns was bieten. Seine Kunst ist lächerlich, aber mit Charme und verblüffender Einfachheit hat Steve Eleky die Lacher auf seiner Seite und auch verdient. Matrose Vladimir Grinik steht auf einer Hand und hält das Gleichgewicht verblüffend. Kollege Alexander Sharkow hält es auch. Auf rollenden Planken bis zu sechs übereinander. Da macht das Zusehen schon schwindlig. Aber der Matrose, er steht wenn auch nicht felsen- so doch fest auf der Titanic. Maitre Willi schmettert noch ein paar Songs unters sinkende Volk, und seinem Schiffssteward Gilles le Leuch gibt er unfreundlich Weisung. Der nimmts gelassen und schmeißt in einer unbeobachteten Minute vom Chef allerlei Dinge durch die Luft. Die Diabolos zischen über Bord, daß einem der Schiffsuntergang aus dem Sinne gerät. Die Gesellschaft hat ihren Spaß. Wir auch.
Daß Publikum am Untergang mittun muß, ist selbstverständlich, schließlich sitzt man in einem Boot. Vier Herren werden auf der Bühne vergessen. Ein anderer sieht stets die Katastrophe: Eisberg voraus! So umschifft die Titanic diesen Untergang. Doch dann spielt der dicke John Smith wie im Hollywoodschinken ... und Aus.



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