www.Crossover-agm.de
Neues aus der Theaterwelt (06.06.2004)
von Henner Kotte

Jörg zieht blank
Schauspieler meinen "Ganz oder gar nicht" und bitten zur "Ladies Night"

Die Tage sind öde, und das Geld ist knapp. Die Geschiedene verbietet den Kindeskontakt. Das Leben kann einen beuteln. Zumal, wenn der Job verloren ging. Und dann sagen sich vor Ort auch noch solche Dreamboys an. Knackige Burschen, die alle Hüllen fallen lassen. Das noch im Kulturhaus der Gewerkschaft. Und die eigenen Frauen sind hin und weg. Was 'ne Schande! Mann steht wieder davor und vor den Trümmern seines Lebens. Das muß anders werden. Es wird anders: Strippen kann jeder.
Klar, die Story haben wir bereits gesehen. Den Filmpreis Europas hat "Ganz oder gar nicht" abgefettet. Völlig zu Recht. Und noch immer scheint's, daß alleinig Englands Künstler soziale Misere ohne Schwermut, Warmherzigkeit ohne Kitsch, Tragik in Komödie auf Bühne und Zelluloid zu bringen wissen. Und so ist es logisch, daß sich deutsche Schauspielhäuser dieser Stücke annehmen. Leipzig zeigt ab 26. Juni "Ladies Night". Es ist die Geschichte einiger Herren, die Frust, Lethargie und sich selbst überwinden. Sie streiten für die eigne Zukunft, die die Gesellschaft ihnen nicht bietet. Sie kämpfen um die Menschen, die sie lieben. Nicht einfach. Und der Erfolg ist ungewiß. Die Männer machen sich nackig ... und gewinnen.
Die Stripper gehören zum Schauspiel Leipzig, heißen Stübner, Schoßböck, Albrecht, Keller, Reik und Malchow, Jörg. Für Letzteren ist's die erste Rolle im Engagement, denn bis dato ist Jörg Student der Schauspielkunst. Er hat seine Prüfungen bestanden. Wir werden ihn sehen. Ganz. Oder gar nicht. Aber wer dieses Sommertheater verpaßt, verpaßt mehr als eine Man-Strip-Show mit Jörg Malchow. Aber auch diese.
Jörg war der erste D-Mark-Verdiener der Familie Malchow. Als Botschaftsschüler in Belgrad anno 1990 ward er von einem Regisseur gesichtet und spielte drauf die Hauptrolle im Kinderfilm "Altes Eisen rostet nicht". Jörg zählte dazumalen zarte zehn und spielte fortan auf Berliner Bühnen: Schülertheater. Improvisationstheater. Tanztheater. Stellte sich nach dem Abitur die Frage: Was nun, Herr Malchow? Mutter hatte den Vorschlag: Schauspiel. Die Bewerbung an Leipzigs Schule funktionierte. Jörg studierte. Jetzt betritt Jörg die Bühnenbretter mit Diplom. Gut. Wir haben ihn bereits am Hause gesehen: "Mein Neger" war die wenig gelungene Abschlußarbeit der Studenten, die im "Freischütz"-Sommertheater des vergangenen Jahres denn doch noch brillieren konnten. Wir sahen Jörg auf großer Bühne und letztmalig auch im Horch & Guck. Wir werden ihn sehen.
Klar ist Jörg stolz, in Leipzig zu spielen. Das Theater hat Ruf. Und die Atmosphäre am Hause hilft dem Eleven. Außerberuflich boardet Jörg Snow. Hiphop ist seine Musik. Er fotografiert. Schwarzweiß, so daß Konturen sichtbar werden. Er sieht hin während der Leipziger Dokfilmwoche. Und verliebt ist er auch. Volles Programm gibt's für ihn auch weiterhin. Jörg wird der "König Drosselbart" im Wintermärchen sein. Er freut sich auf Säle voll mit Kindern. Dort gilt es, Können zu beweisen. Kids zeigen sofort, wenn's ihnen nicht paßt, was auf der Bühne passiert. Die Herausforderung nimmt Jörg an.
Wie auch die der "Ladies Night". Jörg singt Petry. Das ist "Wahnsinn". Jörg bringt sich ins Stück ein mit ganzer Person. Wir schauen hin. Wir werden an ihm unseren Spaß haben. Nicht nur Sommers im Theater. Gewiß.

Unsichtbare auf großer Bühne
Halle zeigt Deutschland zum Ersten Theater

Ehrlich: Meist werden im Theater die alten Schinken gezeigt. Muß ja auch sein. Ab und zu. Aber besonderen Nimbus haben doch stets die aller ersten Aufführungen eines Stückes. Die städtischen Bühnen zeigen Neues: Das Thalia präsentiert seit dem 25. Februar Christoph Pellets "Giraffenkind". Das nt zeigt ab März, dem 27ten, Bengt Ahlfors' "Asche und Aquavit". Da dann allen alles Neue auf den Brettern sichtbar ist, zeigen wir Personen, die die Bühne zum Applaus nicht entern. Und doch: Ohne sie würd' kein Stück funktionieren. Wir sähen nix. Kein neues Stück. Kein altes. Die Aufführungen grottig, die Häuser leer, täten nicht die Regisseure und Souffleusen Arbeit tun, deren Resultat wir sehen.
Das Ding mit der Lieb' - Carlos Manuel, Regisseur
Christoph Pellets Stück verfolgt die Liebe. Nicht immer ist sie nur Gefühl. Andere Interessen spielen Rollen: Geld, Befriedigung und Arbeitskraft. "Das Giraffenkind" legt Ringe an, die den Hals verlängern, ihn immer zerbrechlicher machen. Pellet zeigt die privaten Verwicklungen dreier Menschen über Jahrzehnte. Auch das Kind wird Liebesopfer und verweigert erst das Essen, dann das Leben. Carlos Manuel hat das Gefühlstheater im Großen Thalia inszeniert.
Carlos Manuel ist Halle kein Unbekannter. "Das Giraffenkind" ist Arbeit No. 6 am Hause. Das Stück hat ihn sofort interessiert. In einer Werkstattwoche hatte man es vorgelesen. Auch die Intendanz fand "Das Giraffenkind" publikumswert. Wir stimmen zu ob Hallenser Stückwahl und Kunst des Franzosen (deutsche Autoren schreiben so Stücke eher im Kleinen oder doch eher nicht). Wir sind fasziniert: Ob der visuellen Bühnhensprache. Ob der drei Stunden Theaterleidenschaft. Ob der Schauspieler und ihrer Leistung (besonders Christian Sengewald!). Ob der Kunst des Regisseurs.
Geboren ist Carlos Manuel in Angola, Afrika. Bürgerkrieg ließ seine Familie gen Brasilien ziehen. Dort errang Carlos ein Stipendium des deutschen Goethe-Instituts und konnte Theater machen. Später Studium in Paris. Jetzt seßhaft mit Familie in Hamburg. Und stets wieder woanders die Arbeit als Theatermacher: Halle, Chemnitz, Potsdam. Für Diskussionen hat der Mittdreißiger gesorgt. Wir werden diskutieren. Auch über "Das Giraffenkind". Christoph Pellet & Carlos Manuel geben uns Antwort nicht: Wieviel Ringe legen wir uns an? Wieviel werden uns abgenommen?
Das Ding mit der Leich' - Simone Guder, Souffleuse
Wenn's doch immer nur Sage wär mit den Erben, die um jüngst Verstorbene schleichen. Nicht nur Kriminalliteratur weiß darob Geschichten zu erzählen, auch Theater. Jedenfalls Bengt Ahlfors. "Asche und Aquavit" nennt er seine Komödie, worin Frau Oberst nicht nur um den Gatten trauert, sondern auch um ihre Kinder. Doch Komödien haben es in sich, daß sie uns das Leben lachen machen. Andreas Knaup wird diese Deutschland erstmals inszenieren. Ihn sahen wir zur Premiere am 27. März. Simone Guder sehen wir nicht. Das ist ihr Job. Und trotzdem kennt sie Requisiten, Gänge, Text und alles. Simone Guder ist Souffleuse.
Der Job ist kein Lehrberuf, Souffleuse wird man meist aus Zufall. Simone Guder hatte stets die große Liebe zum Theater. Getanzt hat die Hallenserin. Kleine Bühnenrollen hat sie der Heimatstadt gegeben. Uhrmacherin ist sie geworden. Zehn Jahre hat sie Chronometer produziert, repariert, getragen. Dann eine Vakanz am Neuen Theater und ... den Job erhalten. Seitdem sitzt Simone Guder neben der Bühne (nur in Bad Lauchstädt im Kasten) und harrt, daß die Akteure ihre Worte kennen. Und eigentlich ist die Souffleuse mehr Beruhigung denn Stichwortgeber. Aber wenn: konzentrierte Blicke, liebenswertes Lächeln, leise Hilferufe: Dann spricht Simone Guder, oft unbemerkt vom Publikum.
Lampenfieber hat eine Souffleuse wie alle am Theater ob sichtbar oder unsichtbar. Am März, den 27ten, war es wieder soweit. Toi. Toi. Toi.

Halle zeigt Deutschland neues Theater. Auch die Theatrale führte grad eben "Dynamit" urauf. Die Stücke präsentieren die Bandbreite europäischer Theaterkunst und das Engagement der Theatermacher vor Ort. Welcher anderen Stadt wird im Monat soviel internationale Dramatik neu geboten?

Frau Wirtin will jeder
Das nt räumt den Hof für Petra Ehlert

Sie hat gekämpft für Hausstand und Kneipe, nun macht die Frau, was sie will. Mirandolina ist eigener Herr hinter eigener Theke. Alleinige Chefin im Unternehmen ist so Usus heut noch nicht, und dazumalen war's beinah unvorstellbar. Theater-Autor Carlo Goldoni ist sagenhaft und lebte im 18. Jahrhundert von 1707 bis 1793, vor Aufklärung und Revolution. Selbstbewußte Frauen sorgten männlicherseits damals wie heut' für Verwirrung, Neid und Mißgunst, doch zum Anderen stimulierten sie stets sexuell. Logisch, daß sich aus Manneslust und begehrter Fraulichkeit lustige Verwicklungen ergeben. Und deshalb ist "Mirandolina" ein Klassiker der Komödienkunst.
Geht so nicht und schon gar nicht mit so einem Happy Ende, fand der Gegenwartsautor Peter Turrini. Der ist bekannt für seine bös-spitze Feder und machte aus der alten "La Locandiera" gegenwärtig "Die Wirtin". Da ist dann nach viel Witz und Liebesgehändel Schluß mit lustig. Das Leben schlägt zu und Aus.
Regisseur Reiner Heise zeigt uns die schöne Mär als Sommertheater im Innenhof des nt. Und die Frau Wirtin heißt Petra Ehlert. Die ist Schauspielerin am Hause seit 1990, und wir sahen sie bereits als "Der gute Mensch von Sezuan", als die Seeräuber-Jenny, als Marthe im "Zerbrochnen Krug". Jetzt ist sie Wirtin, und nicht nur Männer sitzen ihr zu Füßen. Rein bühnentechnisch gesprochen.
Zweifel, was sie werden wollte, hatte Petra Ehlert nie: Schauspielerin. Sicher, in der Familie lag ein Grund. Vater Fritz war Erich der Dresdner Herkuleskeule in jenem legendären Duo zusammen mit Gustav, das weit mehr als die DDR Lachen machte. "Nu, mei Erich" ist noch heut geflügelt' Wort. Was heißt, Petra ist in Dresden aufgewachsen, besuchte die Schule, betrieb Rudersport auf der Elbe. Geboren allerdings wurde Petra in Eisenach. In Mitteldeutschland hat sie auch studiert. In Leipzig an der Schauspielschule. Vorgesprochen hatte sie mit Texten von Liesel Karlstadt und Gerhart Hauptmann. Lohnt das Wagnis, sagte dazu die Aufnahmekommission. Je nun, vollkommen in Vaters Fußstapfen wollte Petra Ehlert nicht treten. Und dann per Zufall ein Angebot aus Halle, ein Vorsprechen, ein Engagement. Das war anno 90. Seitdem sehen wir Petra Ehlert im nt, und wir werden sie auch weiter auf den Hallenser Bühnen sehen. Nicht nur als Wirtin.
Theater kann nicht alles sein, obwohl dieser Job kaum Raum zu anderem noch läßt. Petra sahen wir im Film. "Die Stille nach dem Schuß" zeigte die Illegalität der RAF im Exil der DDR. Der "Superstau" ist noch heut' ein heiterer TV-Quotenhit. Und wir hören Petra, ohne daß wir ahnen, daß es ihre Stimme ist: im Trickfilm. Besonders lieblich ist ihr die Beschäftigung als Maus. Und wann kann man die schon sein, ohne blöde Assoziation: Du bist 'ne nette, kleine Maus. Solche Sprüche verbieten sich "Die Wirtin" und Petra Ehlert sowieso.
Auch L'art pour l'art ist nicht Petras Art von Kunst. Auch deshalb schätzt die Aktrice den Autor Brecht. Bei aller Didaktik, da werden die existenziellen Fragen des Lebens zum Thema. Und welches Stück sagt mehr übern Krieg als "Mutter Courage und ihre Kinder"? Das wäre, wenn man sie fragte, schon die Traumrolle im Leben. "Kindertransport" ist Stück, das Petra mehr als der Beruf nur ist. Es freut sie, daß es auch Hallenser Publikum so sieht und die Vorstellungen besucht. Daß nicht jede Inszenierung uns Publikum vom Sockel reißt, wußte die Schauspielerin bereits vor ihrer Berufswahl.
Vielleicht sehen wir sie demnächst auch mal solo an einem Abend. Zarah Leander? Lene Voigt? Aber solch Vorhaben fordert neben aller Lust auch die Zeit. Und diese fehlt Petra Ehlert meist irgendwie. Andrerseits ist's ja ein Kompliment, daß einen Regisseure besetzen und Publikum einen auch sehen will.
Das ist möglich immer wieder. Auch im "Faust" in der Moritzkirche zu Halle erleben wir Petra Ehlert. Diesmal als Geburt der Hölle. Das hat was. Doch zunächst sehen wir sie als "Die Wirtin". Die hat alles, was man sommertheaters so braucht: Lacher, Geschlechterkampf und tiefere Bedeutung. Und manchmal geht auch das Sommertheater nicht so zu Ende, wie man's gern hätt. So ist das Leben. Und schön, daß es Theater doch gibt.

Liebes wispern, Alpen glühen
Kitsch meets Klassik im Theater der Christiane Hercher

Ach, es ist schon herzig in den Bergen. Manch Stadtkind, das dort Frust vergißt. Manch Reicher, der dort Steuern spart. Und gar politische Helden waren droben aktiv: Wilhelm Tell einte einst das Volk der Eidgenossen. Vor 200 Jahren schrieb Schiller das Drama. Rossini machte die Geschicht zu Oper. Und Johanna Spyri erfand eine andre unvergeßliche Alpen-Figur: Uns sagenhafte Heidi. Zum 175. Male jährt sich heuer der Geburtstag der Autorin. Und wir erkennen: Auf Bergesgipfeln spielt genauso das Leben, wie's Leben drunten so spielt. Das ist immer ein Grund, solches auf die Bühne zu bringen. Und deshalb präsentiert uns diesjährig die Moritzbastei/Theatrale als Sommertheater "Der Vogt, sein Mörder, Heidi und ihr Liebhaber". Da ist dann alles drin von Liebe, Politik und Apfelschuß. Logo, solch heitres Stück gab's bislang nicht. Christiane Hercher hat's für uns geschrieben und setzt es auch in Szene, auf daß wir sommers Lachen können. Aber nicht nur das.
In diesem umfassenden Umfang ist's Christianes erste Arbeit am Theater, doch bei Bühnenkunst hat sie bereits mitgewirkt: In Salzburg. In Genf. In Chemnitz. Sie kennt Dramaturgiestühle, die Aufgaben der Regieassistenz, schuf Bühnenbilder. Folgerichtig nun der Schritt zur Verantwortlichen in Wort, Bild und Ton. Dabei war Christianes Weg zur Bühne so klar nicht. In Jena geboren, gewohnt, gebildet, lernte und arbeitete sie zunächst buchhändlerisch. Abitur im Abendstudium. Dann Hochschule in Weimar: Musikwissenschaft und Italianistik. Praktikum am Theaterhaus Jena. Hospitanz bei Achim Freyer, große Oper. Und nun selbst abendfüllend mit dieser "Schweizer Geschichte", die hat live Musik und vier Spieler. Wir sind gespannt.
Ab 15. Juli / 4. August 2004 sehen wir Vater und Sohn Tell sowie den Vogt und uns liebliche Heidi auf dem Dach der Moritzbastei / im Burghof zu Giebichenstein. Wir erkennen Schiller, Trickfilm, Peter Greeneway, und doch ist alles anders. Denn solche Geschichte haben wir niemals vordem gesehen. Dank Christiane Hercher erfahren wir nun vom wirklichen Leben der Heldinnen und Helden. Und Christiane weiß, wovon sie schreibt und inszeniert, sie kennt Schweizer nämlich auch privat und privatim. Und nicht nur das mit dem Apfel auf Kopf und dann Schuß ist ganz anders gewesen. Und uns Heidi, das städtische Mädel, fand Wilhelm Tell jr. und begann, auf den Gipfeln Lust zu empfinden. Wie? Nicht nur das werden wir sehen auf den alpenländischen Höhen. Gar die werden rot und beginnen zu glühen. Schon schön, diese Schweizer Geschicht.

Liebesrutschen im Walde
Das nt träumt sich in Sommernächte

Es könnt' doch so schön sein: Lysander liebt die Hermia und diese ihn. Aber Demetrius möchte Hermia freien und hat deren Vaters Einverständnis. Und Helena wiederum ist diesem Bräutigam verfallen und hat bei dem doch no Chance. Überirdisch Macht kann da nur helfen, daß sich Herz zum Herzen findet. Und, ei der Daus, während des Liebesversteckens im Walde tröpfelt der Elf Aphrodisiaka auf die Augen und macht alles noch schlimmer. Noch schlimmer, das geht.
Von der Geschichte schon gehört? Ja? Passiert immer wieder. Auch im wirklichen Leben. Grad wieder im Neuen Theater. "Der Sommernachtstraum" spielt sich einfach jeden Sommer gut. Weil er halt ein Klassiker ist. Weil wir von Liebe sehr gern hören, noch besser sehen wollen. Und weil er einfach bezaubern kann, "Der Sommernachtstraum" an sich. Also setzt uns Herr Harald Fuhrmann die Mär nochmals vor und gewinnt. Seine Inszenierung ist locker, ist leicht, und sie hat die Akteure, die allen Spaß am Erzählen haben. Zuvörderst die Jungen, die zueinander nicht finden. Daniela Schober und Anja Pahl leiden gewaltig und vehement (gemeinhin nennt man solch Aktricen Rampensäue). Ihre Nichtlover und Lover namens Tobias Schulze und Martin König haben um die Damen echt zu kämpfen und erhalten später den Liebeslohn wie im Märchen. Liebe ist ja auch eins. Und Sommer ist auch. Doch von der Realität in den Traum ist's ein größerer Schritt. Deshalb ist zu Beginn das Bühnenbild von Okarina Peter und Timo Dentler staatsmännisch unterkühlt, um danach in den Elfenwald zu geraten. Klasse der Umbau, der viel Spielfläche und Phantasie hergibt. Und wahrlich haben die Paare Runde um Runde zu rennen, eh sie sich in bereite Arme sinken können. Logisch: Der Wald gehört der Jugend nicht allein. Zum Einen leben dorten auch Elfen. Und deren Oberelf Oberon liegt grad mit Gattin Titania im Streite. Desweiteren nutzen auch Handwerksmeister die Waldflur zur Probe für ein Stück, das sie ihrem Fürsten darbieten möchten. Das Stück ist reichlich banal, aber das Engagement der Herren läßt die dramaturgischen Mängel gern übersehen. Und grad den Oberspieler der Dilettanten sucht sich Oberon aus, um seine Gattin zu demütigen. Handwerker Niklaus Zettel mutiert zum Esel, in den sich Titania verliebt und wüst verführt. Seltsame Spiele, die sie da treiben. Am Morgen können alle (auch die Obengenannten) nicht glauben, was ihnen nächtens widerfuhr. Und wahrlich, es war ein Traum, "Der Sommernachtstraum".
Klar müssen wir auch alle andren Mimen loben. Hilmar Eichhorns Zettel gibt den weitren Handwerksmeistern schweres Los und weniger Lacher. Aber die Aufführung ihres Liebesspiels auf kleiner Bühne ist wirklich herzig. Ja, da macht aller Hof und Staat weniger her, aber Lutz Teschner und Elke Richter zeigen unter der Königspflicht Temperament. Und Wolfgang Boos als Puck löst die Liebeshändel aus und tut dies mit Athletik und Gefühl. Was bliebe noch zu sagen?
Ehrlich: Wir wollten ja Shakespeares Klassiker nimmer sehen. Rauf und runter spielen die Laien und Theater das Stück jeden Sommer. Und nun wagt Intendanz und Regisseur genau diesen wieder vor uns hinzusetzen. Und sie taten mit ihrer Entscheidung Recht. Harald Fuhrmann lotet im Ensemble ungeahnte Möglichkeiten. Er fordert von seinen Akteure nicht nur Kopf, sondern auch deren Körper. Und ihm gelingt, was ich als Kritiker nicht wahr haben wollt: Ein richtig entspannter Theaterabend. Der macht die Zeit vergessen. Und gibt zum Glauben Anlaß, daß es wirklich Liebe gibt. Auch wenn man dem Glück ab und an nachhelfen muß. In diesem Sinne fordere ich auf zum nt-Theaterbesuch und wünsch schöne Träume. Und die wiederum werden manchmal auch wahr.

Auch die Fette wird gevögelt

Es ist schon ein Kreuz mit der Familie. Dad gelähmt und ohne Reaktion im Rollstuhl. Mam braucht Liebe und Lover im Bett. Was bleibt da dem Töchterchen außer Zusehen und Fressen? Nichts. Also kocht Jill und kocht und frißt sich den Frust auf den Leib. Sieht nicht gut aus. Zweifellos. Aber Mams Stecher besorgt's auch dem Fettklops einmal. Aber das macht Jills Frust nur noch größer. Da hilft nicht mal Papa als Elvis.
Die Geschichte hört sich reichlich schräg an, und sie ist es auch. "Kochen mit Elvis" nennt sich die Farce, die uns die Neue Szene bietet. Und ehrlich: Sie ist das Highlight letzter Jahre. Der gute Geschmack kriegt eins drüber. Das feine Familienleben dergleichen. Und die Schauspieler brillieren allesamt. Bettina Riebesels Mam will alles vom Leben, nur nicht die Tochter und Dad. Julia Berke im dreifachen Umfang leidet und kämpft ums Stückchen eigene Glück. Papa Tobias J. Lehmann hälts nicht im Stuhl, und er schmettert King Elvis bravourös und verblüffend. Und Torben Kessler kann ficken, mehr eigentlich nicht. Und alle zusammen machen uns den Spaß, der im Hals stecken bleibt. Wahrlich, das hat Klasse. Das macht Mut.
Chefdramaturg Michael Raab übersetzte das schräge Stück von Lee Hall. Und dieser begeisterte uns bereits mit dem Drehbuch zu "Billy Elliott - I Will Dance". Auch hier sitzen die Pointen tief, und das Mitleid trifft, ohne mitleidig zu werden. Lee Hall schafft es spielend, soziale Realität in der Kunst zu besorgen. Das ist nicht eben häufig. Deutschen Autoren fehlt's an Humor oder dem wirklichen Blick. Es freut, daß das Schauhaus und Regisseur Matthias Huber den Mut bewiesen und mit diesem Elvis kochen. Solch Experiment würden wir uns öfter wünschen. Genau dies Theater hat Leipzig verdient. Nachschlag, fordert Henner Kotte.

Schmalz entfettet
Der Hofstaat singt "Martha". Bravo inklusive

Da hat Halle nun mal den Zappen: Alles, was am Opernhause Rang und Namen, befindet sich auf dem Wege nach Leipzig. Die Sänger sind auf und davon. Der Chor. Der Regisseur. Geblieben sind, nun ja, der Dirigent und vier Puppenspieler. Hofpuppenspieler. Aber selbst wenn, das schöne Rührstück, auf das sich Madam so freute, ist unmöglich aufzuführen. Da müßt der Künstler Stimme haben. Und ein Puppenspieler ... Dann die Idee: Wir machens uns selbst. Madam ist "Martha" und, da sich ihr Hofstaat ziert, geben die Puppen/Spieler (fast) alle anderen Rollen. Nur gesanglich werden Geliebter und Vasall verpflichtet. Auf ihren Stühlen dürfen sie im Publikum weiterhin hocken. Vorhang auf! Wir sehen "Martha oder Der Markt zu Richmond".
Das Stück an sich ist ja nicht so der Hit. In Uromas Zeiten hat man von geschwärmt: "Martha, Martha, Du entschwandest". Friedrich von Flotows Melodien hört man heut á la René Kollo und André Rieu im großen Musikantenstadl. Die romantisch-komische Oper an sich ..., nun ja, besser wär's ... Das Opernhaus hat uns bereits mehrmals bewiesen, daß es auf Vorurteile keinen Wert legt. Und so holten die Inszenateure Marco Misgaiski und Christoph Werner den Schinken aus der Verbannung. Sie taten Recht. Und sie hatten mehr als einen Einfall für die Bühne. Schlechterdings: Diese "Martha" ist genial.
Die Aufführung beginnt mit dem bewährten Kniff und zeigt Theater im Theater. Da nunmehr das Publikum sich selbst den Gassenhauer spielt, verquicken sich die romantisch-opernhaften Konflikte mit den rein privaten. Der 2. Hofpuppenspieler verfällt gefühlsmäßig schnurstracks der Madam. Deren Lover leidet und faßt sich ein Herz. Und des Puppenspielers Gattin läßt verblüffend ihre Puppen spielen. Ganz nebenbei sieht man die originale Rührstory Marthas auch, die sich über gesellschaftliche Grenzen weg verliebt. Und so endet's, wie es enden muß, Madam siegt auf voller Linie, und die Künstler bleiben außen vor. Das Erschrecken ist wie im wirklichen Leben: Die, die schon oben sind, können alles, einfach alles viel besser als wir. Sänge Frau Merkel, und dirigierte Herr Schröder, gäb es Kritik an ihrem Gebaren?
Wir stellen fest: Dieser Opernabend stimmt in jeder Beziehung. Die Ausstattung von Angela Baumgart-Wolf und Atif Hussein. Die Puppen der Weinholds Barbara und Günther. Und die Intonation des Orchesters geleitet von Harald Knauf. Es begeistert der Chor. Und natürlich tragen die Darsteller. Romelia Liechtenstein als Madam und Martha trifft die Nuancen zwischen Despotin, Knallcharge und liebender Frau. Roswitha Müller als Gefährtin weiß eher, was sie will, wonach sie trachtet. Tommaso Randazzo und Jürgen Trekel geben die Stimmen aus dem Publikum, die die Bühne entern müssen, weil ihr privates Glück zu (ver)schwinden droht. Klasse, der Spagat von Sitzpolster aufs Bühnenbrett. Doch ehrlich, die Krönung des Abends sind die (fast) Stummen. Die Puppenspielerinnen Margit Hallmann und Anne-Katrin Klatt wissen durch kleinste Gesten zu überzeugen - diese Verführung des eigenen Mannes verführt uns Publikum gewaltig. Spieler Uwe Steinbach zeigt die Wirren eines Jobs als Impressario und gibt die Ehre schließlich ab. Und Nils Dreschke ist einfach ... einfach überzeugend als Synchronsänger, als Verehrer, als geschundene Puppe. Neidlos: Diese Inszenierung, sie ist hohe Schule, hohe Kunst. Und ich schlage sie guten Gewissens zur Kürung "Beste Inszenierung Deutschlands" vor. Den Preis sollte ihr euch Publikum keinesfalls entgehen lassen. Hin zur Oper. Karte gefaßt!
Daß die Hallenser Künstler nach Leipzig wegmachten, werden sie bedauern (müssen). Die Konstanz in der Qualität der Opernarbeit der Saalestadt besticht. Nicht nur Leipziger sollten wieder ins Haus kommen.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver