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Neues aus der Theaterwelt (26.10.2003)
von Henner Kotte


Fakt: Das Theater geht über Leichen

Die Frau ist lebensmüde! Da steht sie am Bahndamm, da braust der Verkehr, da will sie ihr Leben weg werfen und sich vor den Zug. Nein! Ein männlicher Held reißt die Frau zurück vorm Sprung. Und die heult ihm ihr elendes Dasein vor. Was sei denn bitte lebenswert? Partner? Job? Kinder? Der Mann hat ein Einsehen: Nee, eigentlich ist am Leben wirklich nichts dran. Also: Sprung und aus.
Das allerdings ist noch nicht das Ende der grauslichen Mär, dort setzt Autor Aldo Nicolaj noch einen drauf. Diese Geschichte erinnert ob der Pointe an Henry Slesar, Roald Dahl und Ray Bradbury. Und solch Lektüre ist uns lieb. Zumal die Abende kälter und heimlicher werden, da sind die Stunden gut für bösen Spaß. Das Theater Fact hat die Zeitzeichen erkannt, gesucht und bestes Stückgut gefunden: "Bühne frei - die Leichen kommen". Das sind sieben dieser tödlichen Geschichten. Ein Madel hängt nicht mehr am Alten und macht drei junge Burschen draus. Ein Schloßherr überzüchtet sich an Mäusen. Eine Dame macht lecker Seife aus dem Gatten. Eine Invalidin kann wieder laufen, aber nicht lange. Gut gewählt aus den Werken des Autors, ganz unser Geschmack. Wir empfehlen.
Regisseurin Ev Schreiber hat die Szenen ohne Bombast und Action auf die Bühne der Kleinen Komödie gesetzt. Das hat Wirkung, wir konzentrieren uns aufs Wort und hören zu. Die makaberen Texte interpretieren die neuen Darsteller des Hauses mit Verve. Maja Chrenko, Simone Danaylow und Tom Seidel gelingt der Einstand so, daß ihre Stimmen haften bleiben. Und wirklich herzig begleitet Engel Stefan Senf das Sterben. Vielleicht hätte mehr Spiel den Abend lebendiger gestaltet. Aber möglicherweise wär das angesichts der vielen Leichen eher peinlich. Wir jedenfalls haben den Geschichten vom Sterben andrer Zeitgenossen mit echter Freude gelauscht. Und eingedenk, daß die Abende länger werden und tödliche Stories den Geschmack schön treffen, fühlen wir uns bestens unterhalten. "Es ist ungewiss, wo uns der Tod erwartet. Erwarten wir ihn überall!" Auch im Theater. Fakt.

Jung auf Berg und Bühnenbrett
Andreas Guglielmetti legt der Theatrale die Karten

Es hat was von Klischee: Weiße Gipfel, Holzhütten und -feuer und glückliche Kühe im Glockenklang. Andreas Guglielmetti ist Schweizer Kind, im Appenzeller Land geboren, tatsächlich verbrachte er all seine Freizeit im Bergparadies, was so keines ist. Er beschritt Gipfel und Täler, hütete Schafe und nach der Schulzeit, was dann? Lehrer vielleicht oder nee, erst mal raus aus den Alpen, den Geist gelüftet. Andreas zog's höher, weiter: Himalaja und andere Weltanschauung war ihm Herausforderung. Andreas malte, überdachte und wusste um seine nächsten Lebensschritte. Er bewarb sich auf der Schauspielschule Bern, bestand und zeigt sich und "Kunst" in unseren Breiten.
Wir kennen sein Gesicht in Berlin, Jena, Halle. Festlegen lassen auf ein Genre möcht' sich der Mime nicht, auch musikalisch gibt er Stimme. Mit den Highlights der Inselbühne haben wir ihn in Erinnerung. Er stritt mit Freunden um die wahre "Kunst" im schon modernen Klassiker von Yasmina Reza. Er war Star Charlton Heston der Farce "The making of Ben Hur". Letztens sahen wir Andreas als antiken Helden im Sommertheater "Troja". Und er hieß mit Namen "Tiny Tim". Ein Spiel, daß er sich selbst in den Leib schrieb. Musik von Lutz Schlosser. Regie: Andreas Guglielmetti.
Am 16. des Oktober 2003 sehen wir die nächste Arbeit des Regisseurs: "Pique Dame" - Klassischer Klassiker der russischen Literatur aus der Feder ihres zarten Genies Alexander Puschkin. "Pique Dame" - Klassische Oper von Peter Tschaikowski. Und nun "Pique Dame" mit "Freien Komödianten" auf der Bühne der Theatrale.
Ist es möglich? Können Karten wirklich über Leben ganz und en detail entscheiden? Einer Gräfin, alt und "die Venus von Paris", wird die Erfahrung und die Kunst des Kartenlegens nachgesagt. Einem Paar, verliebt in ihrer Nähe, kommen nicht nur die Gefühle, sondern auch der Ehrgeiz, das Geheimnis der Gräfin zu entschlüsseln. Held Hermann steht letztlich vor der Alternative: Wissen oder Liebe? Lover Hermann trifft seine Entscheidung. Die Katastrophe ist nicht aufzuhalten.
Es ist eine alte Geschichte, und sie ist ewig neu. Andreas Guglielmetti kam seine Deutung des Geschehens auf Tournee in den heißen Tagen des Krieges um "Troja" (selbstverständlich meinen wir das diesjährige Sommerspektakel). Historische Stoffe beschreiben Konflikte, die uns auch heute nicht fremd, meint der Regisseur. Und es ist ein Kunststück, uns scheinbar Altes zu zeigen, doch mitten im Gegenwärtigen zu stehen. Genau dies möchte Andreas. Die Schauspieler Anne Osterloh und Heike Ronniger, die Herren Morton Gensch, Tom Wolter und Andreas selbst spielen "Pique Dame" von Puschkin, aber sie spielen auch die Personen, die die Schauspieler sind. Das Stück im Stück sozusagen. Und nicht nur der Putzfrau ist das Geschehen zunächst unbegreiflich.
Es ist schon eine schöne Erfahrung im Regiestuhl zu sitzen, sagt Andreas. Sonst handelt er ja von Berufs wegen nach Anweisung andrer. Solch Positionswechsel ist im Off-Theater Programm. In seiner Freizeit malt Andreas, kocht. Wohnsitz ist ihm Berlin, wo er in der "Bar jeder Vernunft" erfolgreich als Operettenheld des "Weißen Rössl's" seinen Einstand gab. Heute gehört er zu den Gesichtern, die das freie Schauspiel unsrer Gegend bereichern. Berlin - das ist ihm "Zu Hause", denn, wenn andre Leute feierabends auf ihr Sofa sinken, steht Andreas' Bett meist im Hotel. So heißt für ihn "Daheim", Heim und nicht Abschluß eines Arbeitstages. Und der seltne Name Guglielmetti? Herkunft ungeklärt, doch Ähnlichkeit zu ital. Wilhelm ist nicht zu bestreiten. Und der Held der Schweizer Berge hieß Guglielmo Tell: "Daß meines nächsten Schusses erstes Ziel Dein Herz sein sollte" (Schiller). "Pique Dame" handelt von Liebe und Glück und dem Spiel. Unsere Herzen sind in Erwartung.



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