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Neues aus der Theaterwelt (28.09.2003)
von Henner Kotte


Stummfilm am Seil
Der Krystallpalast dramatisiert die Varietékunst

Irgendwann ist es soweit, und man gedenkt wehmütig der Schule. Vergessen sind Streß, bekloppte Lehrer und schlechte Noten. Nein, was von der Zeit geblieben ist, ist Unsinn, Witz und Heiterkeit. Damit der Schüler über all solch Sachen sprechen kann, braucht es ein Treffen aller Beteiligten, völlig klar. Und diese finden in Regelmäße statt, sind gutbesucht. Auch der Krystallpalast setzt auf den Wiedererkennungseffekt solcher Veranstaltung und lädt ein zum "Klassentreffen".
Alle sind sie gekommen und harren des Programms. Doch Knaller des Abends ist der verhasste Studiendirektor Karl-Heinz Helmschroth, Lehrfach Deutsch. Und der hat auch nix anderes im Kopp, als Unterricht zu exerzieren, Thema Goethe: Faust. Doch haben sich einige seiner Ausgebildeten absolut gut vorbereitet und stehlen dem Alten die Show.
Jay Niemi ist "Der Magie ergeben" und seines Pudels Kern sind weiße Tauben. Auch wenn man nichts sieht, sieht man richtig Zauberkunst. "Blind Date" sind ein Paar auf der Lebensbühne, wo Mephisto Svetlana Dementiev heißt und Gatte Konstantine Artistik in aller Unbeholfenheit zeigt: Equilibristik, Frauen werfen, fangen. Toll. Katrina verbiegt sich dermaßen, um dem Lehrer zu gefallen, daß es schwer fällt hinzugucken. Bei der Gretchenparade gewinnt Philipp Klumpp und läßt, hulahopp, die Reifen um den schönen Körper rollen. Zusammen mit Partnerin ist er der "Prolog im Himmel". Als Putti Engel und Teufel erzählen sie eine bezaubernde Mär. Und dieser Engel Romy Seibt zeigt letztlich Gretchens Untergang als Mixtur von Video-, Vertikalseil-, Schauspielkunst. Das beeindruckt echt und seelisch tief und erinnert an die Dramen der Stummfilmzeit und Kindesmord und Goethe. Natürlich.
Herr OStR Helmschroth hat seine Schulstunden mit künstlerischer Lust und Akribie konzipiert, und er läßt auch seine Schüler bei seinem Unterricht nicht außen vor. Dann liegt's am Publikum selbst, die Prüfungen zu bestehen (alle am Premiereabend taten's mit Bravour). Und wir sagen: Was war die Schulzeit doch vergnüglich. Und wie unterhaltsam das Programm. Klasse! Getroffen!

Nicht ohne meine Handtasche!
Anne-Kathrin Gummich kennt Theater aller Lebenslagen

Jawohl, das Leben ist öd! "Bonny und Clyde", tja, die hatten's voll drauf. Und die "Natural Born Killers" erst. Aber von Anneke der Alltag ist Einerlei: Bank, Fernsehsessel, Donnilein, der Liebe. Und desderwegen sagt sich Anneke: Schluß! "Der totale Kick" muß rein. Gesagt, getan. Als Reiseverkehrskauffrau hat Anneke Wissen und ist sicher, daß die alte Frau Schregele zur Erholung weilt. Und so ist es einfach Ding, ihr die Bude auszuräumen. Nur so. Das Leben gönnt einem ja sonst nix. Doch dann stehen Anneke und Donnilein, alias Dr. Donald Stuckenschmidt, in der Scheiße voll drin. Die Olle ist gar nämlich nicht verreist, sondern feiert mit drei anderen Tucken Geburtstag. Da hilft nur eins: Kidnapping der alten Schachteln!
Solch Story hört sich sehr schrägele an. Ist sie auch und nennt sich Farce. Das heißt, die Geschichte ist so was von übertrieben übertrieben, daß einem das Lachen aus dem Halse rutschen muß. Es kann: Premiere ist am 26. September 2003 im nt. Verfasst hat diesen Theatertext Kristof Magnusson, Jung' (Jg. '76) aus Hamburg, Student in Leipzig. Auf die Bühnenbretter bringt die Nummer Anne-Kathrin Gummich, Mädchen aus Berlin (Jg. '64). Und, verspricht die Regisseurin, es wird ein lustig Ding mit dem Kick.
Bekannt ist Anne-Kathrin Gummich Halle, stand sie doch gute 13 Jahr auf der Bühne des nt. Doch Neues sollt man wagen, und so nahm die Schauspielerin 1999 eine Dozentenstelle an der Leipziger Theaterhochschule an (gemeinhin schätzt unsereiner ja solch Lehrkräfte auf Ende der Fünfzig). Ihr Matrikel Nr. 4 muß nächstens Schauspielkunst beweisen. Sie werden bestehen, sagt Anne-Kathrin. Halle aber hat sie nie Adé gesagt. Sie hat hier Wohnung, Kind und Mann. Dieser Partner namens Hendrik Duryn hat gleiche Profession. Ihn sahen wir als jugendlichen Helden in letzten Defa-Filmen, nunmehr kommt er uns knallhart als "Cobra 11" via TV.
Schauspielerin wollte Anne-Kathrin schon werden. Verwandte und Bekannte mussten ihre Vorführungen bereits ab ihrem Alter vier ertragen. Dann hat sie mehr als ein Dutzend Jahr mitgespielt im Berliner Haus der Jungen Talente bis zur Eignungsprüfung an der Theaterhochschule. Berlin lehnte ab, Leipzig sagte sofort: Ja. Mittlerweile ist Anne-Kathrin an diesem Hause junge Lehrkraft, die ihr Handwerk in allen Positionen beherrscht. Wir sahen sie in Kinofilmen und TV und als Star der Comedy. Der Bühnendauerbrenner "Die singenden Handtaschen" ist ihr eigen Produkt. Zwei der Folgen hat es davon gegeben. Preise gab es dafür auch. Doch am wichtigsten: Handtaschen und Funke sprang zu uns Publikum über. Immer noch einmal. Und er spränge auch wieder, sollt es Teil drei von auf den Brettern geben.
Anne-Kathrin hat Hand und Gespür fürs Heitere Fach, sie selbst findet für sich das Wort "Komödientante" keineswegs schändlich. Gut, daß es sie gibt, meinen wir. Der Abgrund zwischen ernst und heiter ist wirklich nicht groß, aber tief. Verantwortung trug Anne-Kathrin auch für die Inszenierungen "Das Fenster zum Flur" oder "Das Phantom der Operette" Irgendwie schon recht, diese Tante.
Klar, daß "Der große Kick" voll auf Anne-Kathrins und unsrer Wellenlänge liegt. Und natürlich ist die Arbeit auch der Regisseurin wie stets Herausforderung. Die gestandenen Miminnen Monika Pietsch, Hannelore Schubert, Barbara Zinn und Marie Anne Fliegel treffen auf die Newcomer Anja Pahl und Tobias Schulze. Wir sehen dem Generationencrash mit Erwartung entgegen. Und hoffen, daß die Fetzen fliegen und uns Tränen des Lachens in den Augen stehen. Die Voraussetzungen dafür sind bestens. Wir geben uns den großen Kick ganz gewiß. Und wenn ihn schon das Leben nicht bietet, wozu wären Theater und die Komödientanten denn da?

Unform, aber voll der Liebe
Die stillen Bühnen des Enrico Lübbe

Frau Wirtin hält's Bier. Der Herr Lehrer frisst's Würschtl. Eheleut stricken. Und Fotzi hebt's Röckchen, aber da ran an den Schlüpfer will grad keiner nicht ... Es ist eine eigenartige Klientel Mensch, die sich in der Gaststätte des Bahnhofs trifft. Und während sie allesamt ihren Problemen, Perversionen und Plaudereien frönen, kommt sie herein die wirkliche Liebe. In Gestalt eines Paares, dem man das Glück förmlich ansieht. Doch sowas passt nun überhaupt nicht ins Leben der Kleinstadt-Chaoten. Wahre Liebe lässt solch Platz wirklich nicht zu. All die Lackel der Provinz nehmen Rache und lassen's sich weiterhin schmecken.
Gut, jedermanns Geschmack war der Abend "Übergewicht unwichtig: Unform" vielleicht nicht. Aber für 'ne Masse Publikum war genau der der Hit des letzten Theaterspektakels. Ganz zu Recht. Und wir hätten am Verstande gezweifelt, hätt es das gute Stück von Werner Schwab nicht in den Spielplan geschafft. Verantwortlich für die Art der Inszenierung, diese Theaterkunst: Regisseur Enrico Lübbe.
Der Mann ist jung und Fischkopp, geboren 1975 in der Platte von Schwerin. Und eigentlich hätt's im Leben des Herrn Lübbe auch immer anders kommen können. Im Alter elf wird Enrico vom DDR-TV entdeckt. Sechs Folgen lang ist er unser aller "Alfons Zitterbacke", Titelbild der FF-Dabei, auf der Straße ein Gesicht, das jeder kennt. Doch Star blieb man nicht im Sozialismus, nach dem Ruhm ging's zurück in den Alltag Schule. Das war richtig, und der Traum Schauspieler wurde für Enrico gar keiner. Weil Gitarre jeder wollte, spielte er Akkordeon. Und wenn nicht '89 eine Zäsur gesetzt hätte, hörten wir Enrico heut vielleicht in Konzertsälen mit diesem Instrument. Er hätt Musiker schon werden wollen. Doch dann Studium der Wissenschaft von Kommunikation, Medien und Theater in Leipzig. Und unerwartet ein Ruf ans hiesige Schauspielhaus, dort wurde ein Regieassistent gesucht und Enrico vorgeschlagen. Er nahm an und assistierte. Er übernahm nach Ausfall des Kollegen die Regie im schrägen Stück "Das Schmürz". Seitdem wird ihm nun assistiert, u.a. bei "Romeo und Julia", "Bash" und "Die Glasmenagerie". Laut sind Enricos Inszenierungen nicht, er verzichtet auf das gegenwärtig übliche Crash, Boom, Bang eines gewollten Skandals. Enrico zeigt die menschlichen Tragödien unterm Outfit. Auch das zeitgemäß und an uns Publikum nah dran. Die Liebenden von Verona können die Liebe nicht leben im kalten Beton. Die zarte Schwester wird dem Jungen nicht gehören, ihre Beziehung zerbricht noch bevor sie begann. Und schockierend normal erscheinen die Monster in "Bash", echt unter aller Sau, aber Klasse die Inszenierung. Regisseur Enrico Lübbe vertraut den Geschichten und seinen Akteuren. Wir Publikum schauen hin und weg, weil uns diese menschlichen Tragödien unter die Haut gehen. Beifall will man da nicht immer schenken. Zu sehr ist man von der Kunst getroffen.
Enrico Lübbes "Liebelei" hat am 30. Oktober 2003 Premiere. Dabei nehmen die einen das Thema Liebe sehr ernst, für andere sind Zweierbeziehungen voll der Spaß. Christine will lieben, doch Fritz kann das nicht, bis er, das Ende vor Augen, sein Spiel gnadenlos durchzieht. Irgendwann dann hat's Christine begriffen, doch da ist's zu spät ... Nein, Angst vor Klassikern hat der Regisseur nicht. Arthur Schnitzlers Stück ist nur beim ersten Anblick nicht der Reißer. Bei diesem Autor sitzt der Schock nicht offensichtlich sondern drunter und trifft die Psyche knallhart. Insofern ist die "Liebelei" genau ein Schauspiel nach Enricos Maß. Die Menschen in der Liebeshölle werden u.a. sein: Daniela Holtz, Julia Berke, Michael Schrodt und Stefan Schießleder. Wir harren dieser Katastrophe mit Vergnügen. Ehrlich.
Pläne? Träume? In Leipzig würd der Regisseur gern noch länger bleiben. Die Stadt hat's und auch das Schauspielhaus. Höchstselbst will Enrico nicht die Bühne entern, lieber läßt er spielen auch in Köln und Magdeburg und demnächst Stuttgart. Autor Werner Schwab ist einer der seine Nerven trifft, und Ödön von Horváth bleibt "Ein Kind unserer Zeit" und gehörte nach Enricos Meinung wieder auf große Bühne. Finden wir auch. Dann vielleicht mal Film? Auch Oper würde Enrico reizen. Wir werden sehen, das ist gewiss.
In der Bahnhofsspelunke haben die Liebenden keine Chance, und Fotzi hebt's Hemde vergeblich. Enrico Lübbe zeigt uns die Vergeblichkeit der ehrlichen Gefühle auf daß wir sie zulassen. Das sollten wir tun und nicht nur im Theater betrachten. Das aber auch.

Ritterliches aus Leipzigs G'schicht

1165 ward Leipzig gegründet, nimmt man an. Und eben in diesen Jahren müßt es gewesen sein, daß Ritter Unkenstein die Pleißenburg beherrschte. Sicher sind sich da die historischen Quellen nicht ganz. Unkenstein zur Seite stand der Recke Heinrich, jagte Bären und säuberte die Burg. Und Kunigunde, ein lieblich Töchterlein, war dem Ritter geboren. Doch die junge Dame wollt halt nicht so, wie es ihr Alter wollte. Schwanger ist die Kleine. Auch noch vom Erzfeind. Da bleibt dem Ritter nur eins: Kopf ab! Ja, die Zeiten waren damals hart in unsrer Metropole.
Solch Mär hört sich nicht nur hanebüchen an, sie ist es auch. Karl Valentin (sprich F wie Vater) hat sich solch Geschicht von der Geschichte ausgedacht, und wir können sie erleben. Am 3.10.2003 ist an historischer Stätte Premiere. Maximilian Reegs "Große Komödie" lädt uns ein zur Weiterbildung dokumentarischen Charakters. Wir sehen: Anja Burkhardt (ja die 9live vom Sender), Steffen Lukas (eben den), Herrn Reeg persönlich und Johannes Ackner. Und da es die Tage der Lachmesse sind, sind wir gewappnet, ob des tragischen Ritterspiels als Geschichtsunterricht.
Ein wahrlich deutsches Stück ist "Ritter Unkenstein", verbindet genial bayrische Art mit sächsischem Humor. Denn Karl Valentins Mutter stammte aus hiesigen Gefilden. Und solch völkerübergreifender Idee fühlt sich auch Regisseur Max Reeg verpflichtet. Man spricht sächsisch, hochdeutsch und die Wahrheit. Endlich mal wieder frönt Max, der Komödiant, seiner Theaterlust. Zwar steht er oft mit Opa Unger auf der Bühne, doch Zeit für wirkliche Schauspielkunst bleibt selten. Also Freizeit geopfert, Sponsoren gesucht und Kollegen und den Ort des Spektakels. Und was ist da dafür besser geeignet als die finsteren Keller der Moritzbastei. Denn an Stelle des wahren Ritterhauses zu Unkenstein steht ja heut unser Rathaus. Dort spielt man ehrlich und richtet nicht hin.
Ob Kunigundes Kopf letztlich rollt, weiß mein Geschichtsbuch der Stadt Leipzig nicht. Ich werde mich vom Ritterteam belehren lassen wollen. Und solch Geschichtsunterricht ist mir wirkliche Freud. Das meine ich ernst.
Mehr unter: www.ritter-unkenstein.de
Termine: 6./7./13./14.10.2003 Moritzbastei



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