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Julie, August und keinen Tag
länger:
Beschissne Lebensperspektiven
nur im Theater?
von
Henner
Kotte
Julie sucht einen, der es mit
ihr tut. Und da das Internet solche Anbahnung erleichtert, wählt Julie
diesen Weg und fragt: Wer bringt sich mit mir um? Nur ernstgemeinte Zuschriften.
Bitte.
August hat Julies Hilferuf
vernommen, auch er hat abgeschlossen mit dem Leben. Und deshalb bezahlt
Julie dem August die lange Reise nach Norwegen, denn dort wollen sie es
beide tun. 600 Meter sind es vom Prekestolenfelsen hinab auf Meeresniveau.
Diesen Absturz hat Julie gewählt, um endgültig zu gehen. August
ist einverstanden. Sie stehen am Abgrund und ...
Igor Bauersimas Stück
vom „norway.today" beschreibt beängstigend Glaube, Liebe, Hoffnung
und alle Enttäuschungen der jungen Jahre, die Leben und Glück
niemals zulassen werden. So ausgedacht wie’s scheinen mag, ist dieses Endspiel
keineswegs. Wirklich haben sich zwei Menschen so gefunden. Wirklich sind
sie auf den Prekestolenfelsen gestiegen. Wirklich sind sie gesprungen.
Igor Bauersima hatte Gedanken, was diese beiden bewegt haben könnte
und die Idee, ein Stück draus zu machen. „norway.today" sind die allerletzten
Stunden zweier Teenies, die nix mehr erwarten und sich am Lebensende sowas
wie sacht lieben lernen. Haben sie und ihre „lost generation" wirklich
eine Perspektive? Geben sie der Todessehnsucht nach?
Diese Frage wird beantwortet.
Vom Autor. Und von Theatern, u.a. von denen in Dresden und Leipzig. In
kürzester Zeit hat sich dieses Stück vom Lebensunmut der Jungen
in heutiger Gesellschaft auf die Bühnen gespielt. Drastik in Thema
und Text. Und bei aller Aussichtslosigkeit des Geschehens, das Spiel gerät
keineswegs zum depressiv verlornen Kunstgenuß. Genießen jedoch
kann man den Abend bei allem Schock. Das Spiel von den Absurditäten
des täglichen Lebens kann selbst in Todesstunde Publikum erheitern.
Denn Hürden hat das Leben selbst an seinem Ende. Natürlich entdecken
die beiden Protagonisten ihre Sympathie füreinander, doch wie sagt
man, daß man liebt? Und welche Worte sind für die Hinterbleibenden
angemessen? Behält man seine Gedanken während des Sturzes im
Griff, oder driftet man weg? Solche Sinnlosigkeit im allerletzten Augenblick
wäre echt tragisch. Aber wenn alles bislang bereits so sinnlos war,
ist’s dann nicht auch ein Selbstmord? Oder? Da zerrt Theater an den Nerven.
Und das ist gut so.
Leipzig setzt ganz auf seine
Protagonisten. Constanze Becker und Stefan Kaminsky sind das Paar am Ende
und auf der Höhe der Schauspielkunst. Wir Zeugen im Saal wagen bei
solchem Psychokammerspiel kaum das Atmen. Die Gesichter der Lebensmüden
verfolgen uns immer und immer, überdimensional werden sie von der
Wand dazu noch gedoppelt. Wir sind nah dran an diesen Leben. Wir sehen
zu, und wir können nicht hoffen. Regisseur Thorsten Duits Inszenierung
erscheint erstaunlich einfach, und gerade weil sie auf große Gesten
verzichtet, sind wir beeindruckt.
In Dresden wirkt die Bühne
eisig. Und dann kommen Karina Placherka und Simon Brusis an den Ort ihres
letzten Tuns. Erst langsam lernen sich die beiden kennen und verstehen.
Wir glauben ihnen, ihren Entschluß und ihre Nähe. Regisseurin
Constanze Kreusch erzählt uns die Geschichte so, wie sie auch mir
und dir passieren könnte: Vom zögernden einander Kennenlernen
und dem Danach. Die Darsteller treffen erstaunlich genau den Ton und Zwischenton.
Auch hier sind wir zum Hinsehen verurteilt.
Eine Geschichte, zwei Lösungen.
Vielleicht ist Leipzig zu intim. Vielleicht macht’s Dresden zu banal. Der
Einsatz der neuen Medien scheint in Leipzig choreografiert, in Dresden
laienhaft. Beides hat Stil. (Nur in Dresden müssen August und Julie
für Augenblicke aus der Rolle fallen und uns Publikum belehren, das
widerspricht der Inszenierung und ist völlig abgeschmackt, widersinnig.)
Festzustellen bleibt: Igor Bauersimas Stück ist starker Tobak, der
uns Besuchern die Gedanken nimmt, aber keinesfalls in eigne Depressionen
führt. Im Gegenteil. Wir verabreden uns gern zum Doppelselbstmord
in beiden Theatern.
Kann man solche Sätze
sagen? Darf man solche Stücke schreiben? – Man muß!
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