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S!NGEN aus dem BAUCH
Gesang und Gesangsausbildung in der
Rock- und Popmusik
von Wolfgang Haubold
Zum Vorwort geht's hier.
PHÄNOMEN SINGEN
Was wir aus Büchern
über Ursprünge und Grundfragen des Singens erfahren
Über das Singen als Phänomen
menschlicher Äußerung existieren bereits viele - und natürlich
unterschiedliche - Meinungen von Gesangspädagogen, Stimmärzten,
Theaterregisseuren, Musikwissenschaftlern, Psychologen und Anderen. Das
Singen wird z.B., da wir ja im normalen täglichen Leben sprechend
und nicht singend agieren, mit dem Sprechen in Beziehung gesetzt und es
wird gefragt, welche der beiden Äußerungen als die natürlichere
oder ursprünglichere anzusehen sei. So lauten z.B. Meinungen, Singen
entstehe auf dem Weg vom Sprechen zum Singen aus einer Verlängerung
der Haltedauer von Vokalen. Auch wird der Einfluß von Emotionen (aus
Erfahrungen heraus) ins Spiel gebracht und schließlich liest man
auch, daß das Neugeborene eigentlich bereits mit einem voll leistungsfähigen
Singeorgan ausgestattet sei. Dies alles klingt also noch ziemlich unentschieden,
drückt aber gelegentlich den Charakter von Büchern aus, in denen
oft nur die Meinungen Anderer zitiert werden ohne daß diese Autoren
ihre eigene Meinung dazu bekennen und ein verwertbares Konzept für
Sänger daraus entwickeln. Hinzu kommt nicht selten eine ganz spezielle
verklausulierende Ausdrucksweise, die meist mehr verdeckt als offenlegt.
Z.B. habe ich in noch keinem meiner vielen Bücher eine gerade für
Singeanfänger wichtige, eindeutige Handhabung zum Begriff der „Atemstütze“
gefunden. Fragen Sie doch selbst einmal Sänger (mit Gesangstechnikausbildung)
wie und wann sie diese wichtige Funktion - und zwar im Kontext mit dem
Singen - anwenden!
Für mich zeigt sich (siehe
2. Teil dieses Kapitels), daß erst die Erkenntnisse der jüngsten
Gehirnforschung diesen Problemkomplex auf den Punkt bringen.
Eine sehr modern klingende
Antwort auf Urfragen des Singens fand ich erstaunlicherweise in dem 1906
(!) erschienenen Buch „Psychologie der Musik“ von Mario Pilo, in dem es
u.a. heißt, „daß die eigene Kehle das erste musikalische Instrument
des Menschen gewesen ist ..., daß die musikalischen Elemente der
menschlichen Stimme das erste und das ursprünglichste, fundamentale
Produkt der Kehle und naturnotwendig älter sind als jedwedes Wort
mit Bedeutungsinhalt, als jedwede kennzeichnende Geste oder Handlung“ (Große).
Weiter zitiert er eine Theorie von Spencer, „daß der Gesang die letzte
Station einer Entwicklung der Ausdrucksbewegungen sei, deren Ausgangspunkt
in der bewegten Stimme liegt“.
Das für Gesangspädagogen
wohl noch immer wichtigste wissenschaftliche Buch der Nachkriegszeit (erschienen
1965) von Husler/Rodd-Marling unter dem Titel „Singen - Die physische Natur
des Stimmorganes“ beschäftigt sich auch mit den letztgenannten Thesen,
teilweise noch mit Fragezeichen: „Die Singstimme wird hervorgerufen durch
eine gewisse urtümliche seelische Verfassung und durch eine lange
Reihe körperlicher Funktionen ... In Vorzeiten war der Mensch , aller
Wahrscheinlichkeit nach, durch endlose Zeitläufe hindurch ein mit
einer singenden Stimme Begabter (was nicht das geringste mit Musik zu tun
hatte), aber lange noch kein Sprechender. Das Kleinkind zeigt hier noch
genauestens den Werdegang: erst gefällt es sich (zwischen seinen Unlustschreien)
in melodischen Ausströmungen (ein primitiver Gesang), mit erwachender
Intelligenz dann erlernt es langsam und mühevoll, die Stimme zum Sprechen
umzubilden. ... Daß das Kehlorgan als Gesangsinstrument geplant und
angelegt ist. ... Zum Sprechen hätte ein weit weniger komplizierter
Mechanismus genügt. ... Der Geist, der die Sprache schuf, bemächtigte
sich dieses Organes. ...Und damit geschah wohl der erste hemmende Einbruch
in seine ungemein irritierbare Substanz. Die Lautsprache - sagt die Wissenschaft
- ist nicht Ton, sondern modifiziertes Geräusch.“
Die Stimmärzte Seidner/Wendler
binden in ihrem Buch „Die Sängerstimme“ (1978) „das Singen wie andere
menschliche Tätigkeiten an die grundlegenden psychischen (seelischen)
Prozesse wie Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedächtnisleistungen, Einbildungskraft,
Denkvermögen, Aufmerksamkeit, Emotionen u.a. ... Jede stimmliche Äußerung
ist psychisch bestimmt, der Stimmträger ist zugleich Stimmungsträger
... in allen lautsprachlichen Kommunikationsvorgängen (Sprechen),
... besonders aber in jenem gehobenen Stimmgebrauch, den wir Singen nennen“.
Sie sprechen vom „Mitteilungscharakter des Singens“, daß „Leid, Freude
oder Erregung im stimmlichen Ausdruck oft unmittelbar hervortreten, manchmal
entstehen erotische Wirkungen“ und daß „die Wirkung von Gesang ...,
in einer uns nicht verständlichen Sprache gesungen (oder auch, wenn
man den Text ganz einfach nicht versteht/Anm. W.H.) sicher zum Teil auf
Ausdruckslauten beruht, die unabhängig von der gesungenen Sprache
existieren“.
Der Regisseur und Musiktheater-Reformer
Walter Felsenstein hat sich ebenfalls sehr fundamental zu Grundfragen des
Singens geäußert, und zwar innerhalb der von ihm unter dem Begriff
„Musiktheater“ geprägten Institution. Zentrales Thema seiner Argumentation
war, das Singen auf der Opernbühne als eine völlig natürliche,
dem Emotionalen entspringende menschliche Äußerung zu definieren.
Die Bedeutung seiner Erkenntnisse und Forderungen geht über Theater
hinaus (1963): „Das Musizieren und Singen auf der Bühne zu einer überzeugenden,
wahrhaften und unentbehrlichen Äußerung zu machen ist die Kernfrage
... Das dramatische Geschehen muß sich auf einer emotionalen Ebene
vollziehen, wo Musik das einzige Ausdrucksmittel ist. Der Darsteller darf
nicht als Instrument, Figurine oder Bestandteil einer bereits vorhandenen
Musik wirken, sondern als ihr schöpferischer Gestalter“. Er kritisierte
die zu einseitig auf Gesangstechnik orientierte Sängerausbildung,
die der Erfüllung dieser Forderungen meist zuwiderlief. So forderte
er, daß eine „Stimmübung immer zugleich auch eine Ausdrucksübung
sein müsse“ (das weiß eigentlich jeder Gesangspädagoge,
bei Übungen wird aber der Ausdruck zumeist erst am Schluß von
Technikübungen mit der Aufforderung „und jetzt noch mit Ausdruck“
ins Spiel gebracht- wenn alle Abläufe der Muskelkoordination schon
so eingespurt sind, daß diese Ausdrucks-Hinzufügung dem Sänger
dann oft nicht mehr gelingt/Anm. W.H.), „daß der Sänger sich
eine Scheu vor jeder Tonbildung anerziehen soll, die nicht etwas Bestimmtes
meint oder sagt“. „Die Erlebnisfähigkeit des Schülers sollte
intensiver entwickelt und geübt werden, um sie in die Stimmbildung
einbeziehen zu können“. Viele interessante Gedanken könnten noch
zitiert werden, die für Sänger von Klassik wie auch Rock/Pop
prinzipiell gleichermaßen gelten. Felsensteins Forderungen nach einer
Reformierung der klassischen Gesangsausbildung hat aber kein großes
Echo bei den Gesangspädagogen gefunden. Und selbst in solch profunden
Büchern wie in dem oben zitierten „Die Sängerstimme“ wird in
dem Abschnitt „Ohne Felsenstein zu widersprechen“ die starre Position der
traditionellen Gesangspädagogik eingenommen und mit Formulierungen
wie u.a. „ergeben sich Gefahren ... , die zu ... Stimmschäden führen
können ... Künstlerisches Singen als stimmliche Höchstleistung
erfordert immer eine gewisse bewußte Kontrolle (gemeint ist das Danebenstehen
der Gesangstechnik neben der Ausdrucksgestaltung/Anm. W. H.) der Grundfunktionen
Stimmsitz, Registerausgleich, Atemtechnik u.a.“ Felsenstein letztlich also
doch widersprochen. In meiner Erinnerung an Aufführungen oder Verfilmungen
Felsenstein´scher Inszenierungen ist - knapp formuliert - folgendes
hängengeblieben:
1. sie waren optisch-bühnenmäßig
außerordentlich fantasievoll und poetisch gestaltet;
2. Personen- und Handlungsführung
waren von großer Genauigkeit, Charaktere wurden sehr differenziert
und detailliert gezeichnet;
3. es wurde vorgeführt,
daß man auch in der Oper den gesungenen Text weitgehend verstehen
kann (außer bei einigen ausländischen Gesangsinterpreten);
4. die „Sängerdarsteller“
agierten darstellerisch und singend - durchgängig und permanent
- mit einem Höchstmaß an Intensität.
Einzig zum letzteren Punkt
möchte ich kritisch vermerken, daß ich das Interpretationsprinzip
des Wechsels von Spannung und Entspannung (was ja auch ein elementares
Lebensprinzip darstellt) vermißte oder als zumindest stark ignoriert
empfand. Spannung läßt sich aber nicht unendlich steigern (mehr
dazu im Kapitel „Interpretation“). Singen unter ständiger „Hochspannung“
a) selbst physisch (körperlich) durchzuhalten und b) dennoch für
den Zuhörer zum Genuß werden zu lassen vermögen ohnehin
nur einige wenige Ausnahmesänger, wie z.B. im Rockgesang Tina Turner.
Erkenntnisse und Schlußfolgerungen
aus moderner Gehirnforschung und Psychologie
Obwohl es auf den ersten Blick
keinen direkten Bezug zu Gesang und Gesangsausbildung aufweist, faszinierte
mich die Lektüre des 1997 erschienenen Buches „Die Entdeckung der
emotionalen Intelligenz - Über die Macht unserer Gefühle“ ganz
außerordentlich. Der Psychologe Fritz Stemme erklärt darin (laut
Vorwort des Verlages) „anhand der neuesten Erkenntnisse der Neuro(=von
Nerven ausgehend)psychologie und Gehirnforschung, was eigentlich
in den verschiedenen Bereichen unseres Gehirns geschieht, wenn wir denken,
fühlen, wahrnehmen usw. und wie die vielfältigen Beziehungen
zwischen Verstand und Gefühlen aussehen. Entwicklungsgeschichte und
Funktionsweise unseres Gehirns beweisen eindeutig, daß die Gefühle
die Basis unserer Gehirntätigkeit sind. Ohne sie gäbe es kein
Bewußtsein. Rationale Prozesse sind zwar auch ohne Emotionen möglich,
sie haben dann aber jegliche Beziehung zur Realität konkreten Handelns
verloren. Auch unser gesamtes Lern- und Erinnerungsvermögen ist mit
emotionalen Vorgängen verbunden und von ihnen abhängig. Die scharfe
Trennung oder gar Entgegensetzung von IQ und EQ erweist sich als unhaltbar,
rationale Intelligenz und Gefühle sind vielmehr dicht miteinander
verflochten.“
Stemme beschreibt, wie aus
1989 in den USA durchgeführten Experimenten mit PET-Scannern (Computer-Tomografie)
neue Erkenntnisse über Funktionsweisen unseres Gehirns gewonnen wurden.
Das Atemberaubende besteht darin, daß ein solcher PET-Scanner „mit
äußerster Präzision eine Landkarte vom lebenden Gehirn
herstellt“, was vordem nicht möglich war. Darstellbar wurde „über
markierte Stoffwechselvorgänge im Gehirn, wo ... Energie verbraucht
wird, wenn wir sehen, hören, denken, traurig werden oder in Panik
geraten, wenn wir uns freuen, ekeln o.a. ... Emotionen haben ihren Sitz
im Gehirn..“ Es wird sichtbar, „wo im Gehirn gearbeitet wird, wenn wir
sprechen, lesen oder uns sprachlich erinnern. Und man entdeckt auch emotionale
Zentren ... Kein Mensch weiß, wer das so gut organisiert ... Insgesamt
sind z.B. 3 verschiedene Zentren beteiligt, wenn wir sprechen ... Laute
Töne werden in einem ganz anderen Teil des Gehirns verarbeitet als
leise ... Die Erkenntnisse dieser Experimente stellten alles auf den Kopf,
was man bis dahin angenommen hatte.“
An anderen Stellen seines
Buches äußert sich Stemme über das Lernen sowie über
Trainingstechniken von Kosmonauten wie auch von Sportlern, bei denen Emotionen
bewußt einbezogen werden. (Hier lassen sich Bezüge zum Singen
durchaus herstellen)
Fritz Stemme setzt sich natürlich
auch mit dem internationalen Bestseller des amerikanischen Psychologen
Daniel Goleman „Emotional Intelligence“ („Emotionale Intelligenz“, 1995)
auseinander, der - laut Goleman - „entstand aus der unmittelbaren Erfahrung
der Krise in der amerikanischen Zivilisation, mit erschreckender Zunahme
der Gewaltverbrechen, der Selbstmorde, des Drogenmißbrauchs und anderer
Indikatoren für emotionales Elend, besonders unter der amerikanischen
Jugend ... Die Neurowissenschaften klären auf, daß die Zukunft
hoffnungsvoller sein kann, wenn wir der emotionalen Intelligenz mehr Aufmerksamkeit
zuwenden: um das Bewußtsein von uns selbst zu vertiefen, um mit schmerzlichen
Emotionen besser umgehen zu lernen, um die Kraft zu Hoffnung und Ausdauer
zu bewahren und um unsere Fähigkeiten zur Empathie (Einfühlungsvermögen)
und Fürsorge für Andere, zu Kooperation und sozialer Bindung
zu stärken.“
Stemme gibt zum Goleman-Konzept
u.a. zu bedenken, „daß Appelle oft zum Scheitern verurteilt sind,
daß es der Selbstschutz dem Menschen verbietet, sich selbst und andere
ständig zu beobachten ... Es darf nicht ... zu einem neuen modischen
Management der Emotionen werden. Damit kann man weder soziale Betriebsstrukturen
ändern noch die Natur des Menschen. Der Wert des Konzepts liegt aber
in der Motivation zum Nach- und Umdenken“.
Als wichtig erscheint mir,
daß Goleman (laut Umschlagtext des Verlages) „die bislang gültige
Erfolgsformel IQ vom Sockel geholt hat: Nicht nur unsere Rationalität,
der sprichwörtlich »kühle Kopf«, bürgt für
beruflichen wie privaten Erfolg, mindestens ebenso wichtig sind die emotionalen
Fähigkeiten. EQ, der »emotionale Quotient«, meint diejenige
Intelligenz, die sich in unserem Verständnis und unserer Handhabung
menschlicher Gefühle zeigt - einer komplexen Skala zwischen Angst
und Wut, Liebe und Aggression, Verzweiflung und Freude. Seine Botschaft:
Ohne ein intaktes Gefühlsleben taugt der beste Intellekt nichts, denn
beide Systeme, das emotionale und das rationale, stehen in beständiger,
hochkomplexer Wechselwirkung, deren Erforschung neue spannende Perspektiven
für uns alle bietet.“
Meinen Leserinnen und Lesern
kann ich die Lektüre dieser beiden sehr allgemeinverständlich
geschriebenen, hochinteressanten und thematisch breitgefächerten Bücher
nur wärmstens empfehlen. Ich selbst habe jedenfalls eine Fülle
an Dingen erfahren, die in den Vorlesungen während meines eigenen
Hochschulstudiums in den Fächern Psychologie, Stimmphysiologie und
Gesangsmethodik (noch) nicht vorkamen, über die ein Sänger oder
Gesangspädagoge in unseren Tagen als Basiswissen aber durchaus verfügen
sollte. (Ich werde in weiteren Kapiteln meiner Schrift noch auf Aspekte
aus beiden Büchern zurückkommen.)
Fazit
Den Aspekt, daß sich
Singen aus dem Sprechen heraus entwickelt, sollte man wohl schnell vergessen
(dies hat nichts zu tun mit Nuancierungen zwischen Sprechen und Singen,
die bei betont textbezogenem Interpretieren vorkommen). Die Erfahrung,
daß die Ursprünge des Singens, über das übrigens nur
die Spezies Mensch verfügt, aus den Tiefen der menschlichen Empfindungen
kommen, führt da bereits näher ans Ziel und wird schließlich
durch die moderne Gehirnforschung bestätigt. Es ist schon ein fantastischer
Gedanke, daß der Uransatz unseres heutigen Singens in seinen auf
der ganzen Welt so vielgestaltigen Formen wohl in den zum Überleben
und zur Arterhaltung notwendigen emotionalen Lautäußerungen
unserer Vorfahren zu suchen ist. Und dies also noch vor der Entwicklung
unserer Sprache(n)! Folgerichtig muß dann auch jegliches Singen primär
aus dem Emotionalen her erfolgen (und ausbildungsmäßig auf dieser
Grundlage trainiert werden), auch wenn wir natürlich überwiegend
auf Sprach-Text singen. Unsere Gesangstexte wiederum sind jedoch auch nicht
emotionslos sachlich-nüchtern abgefaßt, sondern inhaltlich -
auch poetisch - gestaltet, verdichtet, überhöht, stellen also
künstlerische Objekte (Texte von Walther von der Vogelweide ebenso
wie die Texte eines Rap) dar. Sie wurden und werden erfunden aus Emotionen
heraus und um Emotionen zu transportieren. Hinzu kommen der Reim sowie
die von der Musik vorgegebenen Strukturen. Wie überhaupt die Sprache
der Musik - von den schlichten Volksgesängen bis hin zu den künstlerischen
Formen - mit ihren Bestandteilen Melodie, Harmonie, Rhythmus und Form auf
langen kulturell-künstlerischen Traditionen der Völker stehen.
Und nicht zuletzt stellt der individuelle Stimmklang jedes einzelnen Menschen
einen weiteren gewichtigen emotionalen Faktor dar.
Die Ergebnisse der modernen
Gehirnforschung seit etwa 1989 ermöglichen, daß die in den zu
Anfang dieses Kapitels zitierten Beiträgen noch enthaltenen Fragezeichen
bezüglich der emotionalen Grundlagen des Singens annulliert werden
können. Darüber hinaus lassen sich weitere Schlußfolgerungen
ableiten. Folgende Thesen stelle ich zur Diskussion :
1. Unser heutiges Singen fußt
letztlich auf den Fähigkeiten unserer Ur-Vorfahren, sich im alltäglichen
Lebens- und Überlebenskampf zu behaupten und die Arterhaltung zu sichern.
Das urzeitliche Gehirn war entsprechend konstruiert, emotionale Situationen
in zweckmäßige Körperreaktionen umzusetzen. In lebensbedrohlichen
Situationen wurden z.B. die Beine besser durchblutet und das Herz bekam
einen Adrenalinschub, so daß die Flucht blitzartig bewerkstelligt
werden konnte. Die Stimmbänder verkürzten sich, was ermöglichte,
daß hohe und markante Laute zur Abschreckung artikuliert werden konnten.
Gleichzeitig wurde das Denken lahmgelegt, um diese Aktion im Zeitablauf
nicht zu bremsen – Schnelligkeit war überlebenswichtig. Auch beim
heutigen Menschen funktioniert dies in extremen Gefahrensituationen noch
genau so. Goleman definiert Emotion als „Gefühl mit den ihm eigenen
Gedanken, psychologischen und biologischen Zuständen sowie den ihm
entsprechenden Handlungsbereitschaften“. Daraus leite ich für das
Singen ab, daß die bei einer Gesangsinterpretation (bewußt)
geweckten Emotionen im Körper des Sängers auch die entsprechenden
biologischen und körperlichen Reaktionen auslösen. So wird z.B.
die richtige Situationsempfindung auch die „richtige“ Atmung verursachen.
Auch der Grad der Intensität, die Mimik und überhaupt die Darstellung
wird so herum (also aus der präzise nachempfundenen Emotion heraus,
nicht umgekehrt) erst das, was wir auch als „natürlich“ empfinden.
(Schlußfolgerungen daraus in den Kapiteln „Sängeratmung“, „Interpretation“
sowie „Aufgaben eines Gesangslehrers für Rock/Pop“)
2. Singen entsteht nicht aus
dem Sprechen heraus. Die Entwicklung des Sprechens, der Sprache(n) hat
sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte des bereits vorhandenen Organes
Kehlkopf bedient. Der Zeitpunkt des Sprechbeginns beim Neugeborenen ist
(laut Desmond Morris in „Das Tier Mensch“ - siehe Literaturverzeichnis)
genetisch vorprogrammiert.
3. Die Aussage „Singen ist
Ton, Sprache ist modifiziertes Geräusch“ halte ich für falsch.
Vielmehr sind beim Singen wie beim Sprechen Vokale sowie klingende
Konsonanten stets Ton, die Konsonanten stets Geräusch. Nur die Zeitdauer,
hervorgerufen vor allem durch das Aushalten der Vokale, ist beim Singen
länger.
4. Sprache ist ein Produkt
des menschlichen Geistes, der sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte
immer weiter herausgebildet hat. Dennoch steht Sprache nicht nur für
Ratio, sondern auch für Emotion, besonders in Kommunikationssituationen,
in denen wir emotional und gleichzeitig sprachlich reagieren, hier vor
allem natürlich im künstlerischen Gebrauch, in Poesie und Dichtung.
Man kann es vielleicht knapp so formulieren, daß die Sprache – nicht
nur in der Kunst - dazu beiträgt, Emotionen konkreter, diffiziler,
sensibler und differenzierter zum Ausdruck zu bringen.
5. Singen bekommt besonders
in den Interpretationen und Kreationen der progressivsten Künstler,
ich denke hier vor allem an Rockmusiker und Liedermacher, auch eine gesellschaftliche
Dimension, wenn sie sich zu den Fragen des menschlichen Zusammenlebens,
zu den sozialen und emotionalen Fragen und auch zu den Defiziten unserer
Zeit äußert. Sagte doch Daniel Goleman noch bei der Einführung
seines Buches „Emotionale Intelligenz“ in Deutschland: „... daß deutsche
Kinder ... weniger gewalttätig und aggressiv sind ... aber auch, daß
Depression als Krankheit beständig zunimmt ... vereinzelte Gewaltverbrechen
und das Auftreten von Skinhead-Gruppen mahnen, ... auch in Deutschland
das emotionale Alphabet zu beherrschen“. Dies war im Jahr 1997! Inzwischen
gibt es auch bei uns eine von einem Schüler ermordete Lehrerin - und
das an einem Gymnasium! Gewaltverbrechen, Übergriffe aus rassistischen
Motiven sowie Verbrechen aus sexueller Perversion heraus nehmen ständig
zu. Amerikanische Verhältnisse etablieren sich also leider mehr und
mehr auch bei uns.
Für mich als Gesangspädagoge
von Rockinterpreten, Liedermachern und überhaupt von Interpreten mit
stark inhaltlichen Anliegen (wozu natürlich gleichermaßen auch
die freud- und lustvollen Begebenheiten unseres Lebens gehören) bilden
solche Aspekte den Ausgangspunkt jeglicher gesanglicher Arbeit. Das heißt:
Die interpretatorische Ausformung von Inhalten, Aussagen, der Ideen- und
Emotionen-Übermittlung steht prinzipiell vor der gesangstechnischen
Formung von Tönen, Vokalen, Stimmfluß, Stimmsitz und weiteren
rein gesangstechnischen Details. Letzteres ist Ersterem zugeordnet, nicht
umgekehrt. Gesangstechnik muß der Ausdrucksgestaltung dienen, sie
muß diese ermöglichen!
Hier geht's zu Teil
3 der Ausführungen.
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