www.Crossover-agm.de HEINRICHS PLATTENKISTE (04.05.2003)

von Thomas Heyn

Schwer und leicht zu hören (oder: Jenseits der Sicherheit): Vokalmusik der Extraklasse
Eine Passion hat Maria Kowollik, die international renommierte Altistin aus Bremen schon immer gepflegt, nämlich ihre Vorliebe für die allerneueste, schwer zu machende und schwer zu hörende Musik. Solche Gesangssoli sind naturgemäß riskante Gratwanderungen ohne Netz und doppelten Boden. Da ist kein Klavierbegleiter zum Anlehnen und kein Orchester zum Verstecken, da ist eine Stimme - die eigene - und sonst nichts. Maria Kowollik geht das Wagnis ein und besteht es mit Bravour. Ihre wandlungsfähige Stimme ist von dem extrem tiefen Register bis in die lichten Höhen voll ausgereift, satt und überzeugend. Auch all die vielen Effekte und speziellen Tricks, die zeitgenössische Autoren ihren Interpreten so abverlangen, präsentiert sie mühelos und die Klänge der vereinzelten begleitenden Rhythmusinstrumente spielt sie auch noch selbst. Respekt!
Reinhard Febel benennt den langen Weg ins Innere des eigenen Ichs mit dem Schubert'schen Begriff der "Winterreise". Biographisches von Robert Walser, aus dessen Feder die 13 vertonten Gedichte stammen, verdichtet der Komponist zu einem dramatischen Psychogramm am Rande des Verstummens. In seiner "Passion" versucht Hartmut Jentzsch ganz tief in das Innere der Sprache einzutauchen. Alles, was erklingt, wird vom Komponisten als "Abbild der Seele" mit Sinn belegt. Klaus Hinrich Stahmer vertonte vier Gedichte des Amerikaners Edward Estlin Cummings, die er zu dem Zyklus "Now" und damit zu größeren Sinnzusammenhängen verbunden hat. Hier findet die Sängerin zu einer besonders fesselnden Interpretation. "Jenseits der Sicherheit" von Vinko Globokar ist ein Stück imaginäres Musiktheater und somit in erster Linie Rollenspiel. Insgesamt schwere Kost, zugegeben. Aber lohnende Mühe! (kreuzberg records, Fax 02232-969366).
"Just a Concert" heißt ein Konzert-Mitschnitt von Brigitta Borchers und Bernd Steinmann. Der einfallslose Titel sollte aber Freunde der Gesangskunst nicht vor dem Kauf zurückhalten, denn der musikalische Inhalt ist exzellent. In den beiden einleitenden Balladen von John Dowland, dem Klassiker altenglischer Lautenmusik findet die Borchers Töne voll lyrischer Anmut, schwebender Leichtigkeit und unaufdringlicher Eleganz. Matyás Seiber, ein nahezu unbekannter Komponist aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts steuert vier heitere Weisen im typisch französischen Chansonstil bei, die ausgesprochen wohlklingend sind und einen besseren Platz im Konzertleben verdient hätten. In den vier Liedern von Federico Garcia Lorca kann Bernd Steinmann seine Rolle als exzellenter und ebenbürtigen Musikpartner voll ausspielen. Der Gitarrist, ein ausgewiesener Flamenco-Fachmann, ist auch mit Solostücken zu hören; die hierbei unvermeidliche Malaguena aus dem Repertoire des Flamenco wird bei Bernd Steinmann zu einer brillanten und rasanten Nummer voller Kraft und Verve. Ein Vertriebshinweis war auf der CD nicht zu finden. Daher sei hier die angegebene Kontaktnummer weitergegeben: Bernd Steinmann, Fon und Fax 0201-494677.

Das international bekannte Duo Veronica Kraneis und Gerlad Handrick hat in der letzten Zeit einige bemerkenswerte CD-Einspielungen vorgelegt. Unter Einbeziehung dreier verschiedener Flöten (Konzert-, Alt-, Bassflöte) schaffen es die beiden Interpreten, eine Fülle unterschiedlicher Klangfarben zu erzeugen, wobei das Repertoire vom Frühbarock bis in die Gegenwart reicht. Die vorliegende 3. CD ist betitelt "gradito" und erschien im Opal-Verlag (www.upala.de, Bestellnummer: 99014). Das Duo wird hier dem berechtigten Wunsch vieler Hörer gerecht, Musik eher als Entspannung denn als intellektuelle Herausforderung zu präsentieren. Die CD wird eingeleitet durch sechs Fantasias für Altflöte und Gitarre des 1953 geborenen Komponisten Jaime M. Zenamon ist ein Autor, der in gitarristischen Fachkreisen weltweit Bekanntheit genießt. Astor Piazzollas erklärtes kompositorisches Ziel war nicht der getanzte Tango aus den Kneipen und Night Clubs von Buenos Aires, sondern eine Kunstform, die ihre Wurzeln nicht leugnet, aber auch Einflüsse der Klassik und des Jazz verarbeitet. Die Tangostudie für Flöte allein zeigt all diese Elemente und Wurzeln auf.

Klänge aus Afrika und Europa
Weltmusik (bzw. Ethno-Musik) ist eine Art der Musik, die vor 20 Jahren unbekannt und auch kaum vorstellbar war. Das damalige musikalische Weltbild war vollkommen auf Europa ausgerichtet. Es begann bei Bach und Vivaldi und endete bei Schönbergs Zwölftonmusik.
Der Zusammenbruch der Kolonialreiche in den siebziger Jahren führte allmählich zu einem Bewußtseinswandel. Und mittlerweile ist die Weltmusik ein selbstverständlicher Bestandteil der Musikkulturen vieler Länder. In der nächsten Rezension soll es deshalb um eine besonders interessante Aufnahme aus diesem Bereich gehen.
FYNBOS ist ein Wort, welches etwa mit "Kultur der Unterschiedlichkeit" übersetzt werden könnte. Die CD markiert einen Weg, den vorher in dieser Konsequenz niemand zu beschreiten gewagt hat. Musikalische Sätze aus dem "alten" Europa (danke, Mister Bush, daß Sie uns an unsere jahrhundertelange kulturelle Stärke erinnert haben), gespielt auf Originalinstrumenten der Barockzeit, werden zusammen mit modernen "westlichen" Kompositionen in eine innere Beziehung gebracht mit traditionellen Klängen aus Uganda, Simbabwe und anderen Ländern. Aber auch afrikanische Originalkompositionen erklingen.
Die spannende punktuelle Berührung von westlicher und afrikanischer Musik differiert am stärksten im musikalischen Umgang mit der Zeit. "An der unterschiedlichen Auffassung von Zeit läßt sich die große Gegensätzlichkeit der Zielrichtung von afrikanischer und westlichen Kulturen verdeutlichen. Es ist gerade dieser Begriff, der die europäische Geschichte spätestens seit der Neuzeit mit am entschiedensten geprägt hat. Ohne ihn gäbe es nicht die Auffassung von Geschichte als Möglichkeit dynamischer Entwicklung, keine vorausschauende Planung, keinen Fortschrittsglauben."
In den afrikanischen Sprachen gibt es gar kein Wort für "Zukunft". Entscheidend ist immer der gelebte Moment der Gegenwart. Man sorgt sich nicht um Morgen, und wenn das manchmal bittere Konsequenzen hat, so nimmt man sie in Kauf. Es ist nun ein außerordentliches Charakteristikum afrikanischer Musik, dieser Lebenshaltung einen unmittelbaren Ausdruck zu verleihen. Er findet sich in den immer wiederkehrenden "patterns", die zwar tatsächlich unendlich oft wiederholt werden können, die aber dennoch auch Platz für Spontanität und musikalische Interaktionen lassen" (Hans Huyssen).
Zwei verschiedene Ensembles präsentieren das rundum überzeugende Konzept: das Münchener Ensemble REFUGIUM, bestehend aus Stefan Temmingh (Blockflöten), Aninka Harms (Barockvioline), Uwe Grosser (Laute, Chitarrone), Hans Huyssen (Barockcello) spielt in hoher Qualität und vielen feinen Verzierungen, Varianten und ungeglätteten Eigenheiten die barocke europäische Musik und die modernen Kompositionen. Die DIZU KUDUHORN BAND, besetzt mit Dizu Plaatjies (Mbira, uhadi, horn, voice), Mantombi Matotiyona (mrhube, voice), Lungiswa Plaatjies (akadina, voice, horn), Khaya Vara (akadina, voice, horn) und Zwayi Mvimbi (akadina, voice, horn) bringt in gleichwertiger Qualität die patterns der afrikanischen Musik zu Gehör.
Dem innovativen jungen weißen Komponisten Hans Huyssen, der aus den deutschsprechenden Kreisen Südafrikas kommt und der unerschrocken und voller Leidenschaft an der Vereinigung des Unvereinbaren weiterarbeiten wird, ist diese außergewöhnlich gelungene Produktion zu danken, die aus dem musikalisch weißen Fleck Afrika eine etwas besser bekannte Klanglandschaft macht. Denn Afrika ist kein einzelnes Land, es ist ein Kontinent voller Reichtümer und verborgener Schätze. Die CD, die mit einem graphisch aufwendigen und sehr informativen Booklet ausgestattet wurde, ist bei afrimusik (www.afrimusik.com) erschienen.



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