www.Crossover-agm.de HEINRICHS PLATTENKISTE (28.07.2002)

von Thomas Heyn

Johann Sebastian Bach war einer der Titanen der Musik. Seine Musik ist allgegenwärtig, sowohl im sakralen Bereich, als auch in der profanen Welt von Konzert und Unterricht.
Damals war das Erlernen eines Instrumentes und das Erfinden von Musik noch ein einheitlicher Vorgang: der Vater unterrichtete die Söhne, der Lehrmeister die Gesellen. Man lernte Musik als Handwerk und war danach fit für alle musikalischen Gelegenheiten von der hohen autonomen Kunst bis zum schlichten Begräbnislied. Das "Clavier" - so nannte man alle Tasteninstrumente außer der Orgel - war das allgemeine Basisinstrument für die Musikausbildung.
Bach hatte dafür einen klaren Blick und begann am 22. Januar 1720 mit der Niederschrift des Notenbüchleins für Wilhelm Friedemann. Die 15 zweistimmigen Inventionen und 15 dreistimmigen Sinfonien wurden bis 1722 nach und nach eingetragen. Ein Jahr später verfertigte der alte Bach eine Reinschrift mit dem endgültig-endlosen Titel: "Auffrichtige Anleitung, wormit denen Liebhabern des Clavieres, besonders aber denen Lernbegierigen, eine deütliche Art gezeiget wird, nicht allein mit zwei Stimmen reine spielen zu lernen, sondern auch bey weiteren progressen mit dreyen obliganten Partien richtig und wohl zu verfahren, anbey auch zugleich gute Inventiones nicht alleine zu bekommen, sondern auch selbige wohl durchzuführen, am allermeisten aber eine cantable Art im Spielen zu erlangen, und darneben einen starcken Vorgeschmack von der Composition zu überkommen."
Die 1967 in der Ukraine geborene Alena Cherny, die viele Preise gewonnen hat und auf zahlreichen internationalen Festivals konzertiert, spielt sehr frei im Tempo, manchmal etwas zu manieristisch, insgesamt aber wohltuend zurückgenommen und ohne modernen Selbstverwirklichungs-Schnickschnack.
Felix Friedrich, der ideenreiche Interpret aus Altenburg, präsentiert Werke von Bach und seiner Zeit an der Silbermann-Orgel zu Schloss Burgk, ehemals Hauptstadt einer der zahlreichen Kleinstaaten innerhalb der Grenzen des heutigen Landes Thüringen. Der Orgel aus dem Jahre 1742 werden von Felix Friedrich originelle, unsakrale Klänge entlockt. Denn das Anliegen des Interpreten ist es, heitere und populäre Werke zu präsentieren.
Neben Werken von Bach, seinem Verehrer Georg Andreas Sorge, Händel, Haydn und Mozart verblüffen und erheitern vor allem die "Sechs Präludien für die Orgel" von Bedrich Smetana, die böhmische Volksmelodien und Parodien auf Leierkastenklänge anklingen lassen - es ist sehr vergnüglich, dieses Repertoire auf einer Silbermann-Orgel zu hören. Im "Andante C-Dur" von Felix Mendelssohn Bartholdy krönt Friedrich seine beachtenswerte Leistung durch eine Perle entspannter, abgeklärter Orgelpoesie.
Die englischen Orgeln der Bach-Händel-Zeit waren zum großen Teil ohne Pedal. Händel - in strenger deutscher Tradition geschult - konnte an diesen Instrumenten durch vollgriffige Kontrapunktik überzeugen und wirkte auf die englischen Musikliebhaber wie ein Hexenmeister. Johannes Geffert, Professor für Orgel an der Musikhochschule Köln und als Sohn einer Kantorenfamilie von Kindheit an mit den Traditionen der Kirchenmusik vertraut, präsentiert folgerichtig auch eine ganz andere Art des Orgelspiels an der Byfield-Orgel (1765) von St. Mary's Rotherhithe, London. Opernfragmente, Stücke für die Flötenuhr, Variationen über "Kuckuck und Nachtigall", geistliche Musik: das ganz breite Spektrum wird von Geffert zum Klingen gebracht. Eine teilweise üppige Registrierung, aber auch Humor und viel verspieltes Figurenwerk gehen bruchlos auseinander hervor und ineinander über. Drei vorzügliche Booklets dokumentieren für den Orgelfreund alle technischen und musikalischen Details.

* J. S. Bach: Inventionen und Sinfonien V-H-1999
valve-hearts im Dittrich Verlag Köln

* Felix Friedrich an der Silbermann-Orgel zu Schloss Burgk / VKJK 0119
* Händel in London / VKJK 0115
Beide CDs: Querstand (www.querstand.de)



Nun tobt er wieder durch Berlin, der "Karneval der Kulturen": ein unüberhörbares Multi-Kulti-Spektakel, grob, laut und vulgär. Wenn wir die menschliche Grundsehnsucht nach Glück, aber auch nach der Erfüllung des eigenen Daseins mit sinnstiftenden Inhalten voraussetzen, liegt der Schluss nahe, dass hier und bei anderen ähnlich gelagerten Events dieses menschliche Streben benutzt, scheinbar restlos gemeinschaftsstiftend erfüllt, in Wirklichkeit aber in eine allumfassende, aber für den Einzelnen völlig bedeutungslose "Party" kanalisiert wird. Das richtige Leben im falschen suchen, nannten frühere Kritiker der Pop-Musik die heute immer noch vorherrschende Ersatzbefriedigung junger Leute, die keinen Bock auf Bildung und Karriere hatten und lieber im Rock'n'Roll-Zirkus mittaumelten.
Spaß und Entspannung gehören aber natürlich auch zum Leben und deshalb folgen hier einige Tipps für musikalische Alternativen:
"American Polka (old tunes & new sounds)" vereint 25 Edelsteine dieser Musikrichtung von ganz brav bis unglaublich schräg. Polka ist in den Staaten eine Chiffre für das ganze Spektrum der Tanzmusik der Einwanderer aus Zentraleuropa. Und für echte Fans ist Polka noch mehr: ein Seelenzustand, eine Gemütsverfassung, ein Stück imaginärer Heimat im multikulturellen Babylon von Amerika. Es ist ein Sound, der den Wurzellosen ein Gefühl von Herkunft und Geschichte vermittelt, und damit eine Spur von Identität. Bevor die Polka in Amerika Triumphe feierte, hatte sie schon in Europa eine steile Karriere absolviert. Der flotte Paartanz war um 1830 in Böhmen entstanden, wobei das Wort POLKA schlicht "polnisches Mädchen" bedeutet. Bald befand sich ganz Europa im Polka-Rausch. Die Auswanderungswelle spülte im 19. Jahrhundert die Begeisterung nach Amerika.
Bands mit sonderbaren Namen beherrschen die Szene, so z.B. DAS FÜRLINES, eine amerikanische Frauenband im "teutonischen" Outfit, die schrille Garagen-Polka-Sounds erzeugen oder die POLISH MUSLIMS aus Detroit, eine Anarchoband der (un-)feinen Sorte. Nicht zu vergessen POLKACIDE, die Motörhead der amerikanischen Polkaszene, wüst, laut und hässlich!
Aber es gibt auch Polka-Größen zu hören wie THE POLKAHOLICS, eine Heavy-Rock-Band um den Polka-Guru Don Hedecker, die BRAVE COMBO von Carl Finch, die einen wilden Rock-Mix aus Cha-Cha, Twist, Salsa und Polka anrührt und vor allem Frankie Yankovic, dem Erfinder des legendären slowenischen "Cleveland-Stils".
Trikont / Bestellnummer US – 0289 / www.Trikont.de


"Lucian Plessner - folklore virtuoso" heißt die neue Scheibe von Acoustic Art Records (Fax: 0541-70 86 67) und der Titel ist gleichzeitig Programm, denn Plessner geht voller Respekt vor dem Geist der Komponisten und den stilistischen Besonderheiten folkloristischer Musik zu werke.
"Folklore virtuoso" besteht aus drei Teilen. Die "Canti Napoletani", ein Arrangement-Zyklus des venezolanischen Gitarristen Alirio Diaz, stecken voller technischer Herausforderungen, sind aber noch ganz herkömmlichen Formen verhaftet. Die brillanten "Canciones Populares Mexicanas" von Manuel Maria Ponce geben Plessner die Gelegenheit, viele Facetten seines Könnens zu zeigen. Bei den neun Bearbeitungen der "Folklore Argentine" des argentinischen Gitarristen Eduardo Falú geht die musikalische Post richtig ab. Lucian Plessner ist ein klassischer Gitarrist, der seine Fähigkeiten immer in den Dienst der Musik stellt und es konsequent vermeidet, effektbeladen und vordergründig zu spielen. Er bietet dem Hörer blitzsauber gespielte, stimmungsvolle und wunderschöne Gitarrenmusik ohne alle karnevaleske Einlagen.


"Tanguedia" – auch dieser Titel ist Programm, denn dem Tango Nuevo des legendären Astor Piazzolla widmet sich das Ensemble Tanguedia. Piazzolla gilt als DER Tanguero der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der unvergleichliche Siegeszug des Tangos während der letzten zwei, drei Jahrzehnte geht in erster Linie auf ihn, seine Konzerte, seine Kompositionen und seine Platten zurück. Aber das war nicht immer so. Piazzolla wurde beschimpft und bedroht und lebte einige Jahrzehnte außerhalb seiner Heimat. An seinem enormen Erfolg beim Publikum änderte das zum Glück nichts.
Piazzollas erklärtes kompositorisches Ziel war nicht der getanzte Tango aus den Kneipen und Night Clubs von Buenos Aires, sondern eine Kunstform, die ihre Wurzeln und Einflüsse prägnant wiederspiegelt. Von diesem Grundgedanken liess sich Jochen Roth bei seinen Transkriptionen inspirieren, als er die Kompositionen für Violine, Akkordeon, Gitarre und Kontrabass umarbeitete. Die vier brillanten Musiker – Winfried Grabe (Violine), Andrea Carola Kiefer (Akkordeon), Jochen Roth (Gitarre) und Pál Sanda (Kontrabass) - erweisen sich des übermächtigen Vorbildes durchaus würdig, insbesondere die virtuose Gitarrenarbeit von Jochen Roth setzt überzeugende Akzente auf einer rundum zu empfehlenden, auch im Booklet außergewöhnlich gelungenen Veröffentlichung des innovativen Altenburger Labels Querstand des Verlages Klaus-Jürgen Kamprad
VKJK 0126 / www.querstand.de


"Spirit of Shakespeare" benennt der österreichische Gitarrist und Lautenist Stephan Stiens seine bei Col Legno (WWE 2CD 20104) erschienene Solo-CD, auf welcher er Werke des englischen Altmeisters John Dowland (1563-1626) mit der zweiteiligen Royal Winter Music von Hans Werner Henze (*1926) verknüpft.
Gleich einem musikalischen Reflex auf Shakespeare-Prosperos letzte Worte "... Und in Verzweiflung muss ich enden ...", eröffnet die chromatisch absteigende Linie der "Forlorn Hope Fancy" von Dowland die Gegenüberstellung der Tänze und Fantasien der Elisabethanischen Epoche satzweise mit den hochvirtuosen Klangkühnheiten Henzes, der diese beiden Zyklen auf Anregung des englischen Gitarristen Julian Bream in den Jahren 1975/1976 und 1979 komponierte. Nach Henzes eigenen Worten bestand der Anspruch, "eine Art Hammerklaviersonate" für die Gitarre zu schaffen, im Sinne einer äußersten Forderung an das Instrument und seine Interpreten.
Die beiden Gewaltfiguren Gloucester und Lady Macbeth bilden die unerbittliche musikalische wie ideelle Klammer der Royal Winter Music. Es sind die Machtmenschen, die das Rad der Geschichte bewegen, aber der Komponist gestaltet nicht nur den äußeren Verlauf, sondern vor allem die innere Entwicklung der Shakespearschen Charaktere. In diesem Sinn schuf Hans Werner Henze ein singuläres Werk der Gitarrenmusik des 20. Jahrhunderts. Stephan Stiens bleibt nicht hinter den berühmten Vorbildern zurück und gelangt zu einer bravourösen, teils zurückgenommenen, teils hochdramatischen Interpretation, die keine Wünsche offen lässt.


Unter dem Gesamttitel "Laudate Ninive" legt das Label Querstand (VKJK 0116) einen Überblick über das vokalsinfonische Werk Günter Neuberts vor. 1936 in Crimmitschau als Sohn eines Lehrerehepaars geboren, lebt der Autor seit 1961 in Leipzig. "Seine Biographie erscheint nur allzu 'normal', spiegelt kaum den kompositorischen Werdegang zwischen Erfolg und Verkennung wider" (Dr. Ulrike Liedtke im Booklet-Text).
Die 1975 entstandenen 5 Orchesterlieder "Gewaltig wie der Tod" für Mezzosopran, Bariton und groes Orchester nach dem Hohen Lied Salomons enthalten die hebräischen Liebesgedichte "Frühling", "Liebesnacht" und "Gewaltig wie der Tod" (in den Übersetzungen von Manfred Hausmann), gesungen von der wunderbaren Ute Trekel-Burkhardt und dem seriösen Wolfgang Hellmich. Sie werden durch zwei teilweise eruptive Zwischenspiele gegliedert und kontrastiert: "In jeweils nur anderthalb Minuten setzen die orchestralen Interludien ernüchternde Kontraste zur vermeintlichen Spätromantik. Neubert interessieren die Brüche, musikalisch ebenso wie im Fühlen und Denken, auf Lebenswegen oder in historischen Prozessen.
In dieses gedankliche Konzept passen die geradezu derb-grotesken fünf Gesänge 'Von menschlichen Schwächen' (1984) hinein: 'Von der Menschen Unruhe', 'Vom Geiz', 'Vom Stolz', 'Vom Saufen' und 'Von der Uneinigkeit' heißen die Einzelsätze. Und nichts haben die zu DDR-Zeiten so brisanten Lutherischen Texte heute an Aktualität verloren" (Dr. Liedtke). Neubert findet hier zu einer virtuos-lustvollen Tonsprache von großer Überzeugungskraft, die der Solist Andreas Scheibner mit viel Sinn für Wortdetails umsetzt.
In dem abschließenden Oratorium "Laudate Ninive" (1989) für Bass, Chor, Kinderchor und Orchester nach Texten aus den Büchern Amos und Jona und aus dem Gebet des Manasse, mit Hermann Christian Polster, der Meissner Kantorei und den Dresdener Kapellknaben hochkarätig besetzt, zieht Neubert ein Resümee seiner musikalischen Erfahrungen. Dem orchestralen Inferno des Werkbeginns stehen am Ende nur noch menschliche Stimmen gegenüber, die in einer Schlussmotette bereuen und um Vergebung der Sünden bitten. Die zeitlose Schönheit dieses Satzes beendet die respektable Werkschau eines unbeirrt schaffenden Künstlers, der seinen Prinzipien treu geblieben ist. (www.querstand.de)



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