www.Crossover-agm.de HEINRICHS PLATTENKISTE (24.02.2002)

von Thomas Heyn

"Sobald es Weihnachten wird, kriegen die Menschen eine grosse Appetitlichkeit, weil Ihnen alles auf den Magen schlägt", schreibt Julie Schrader in ihrem Weihnachtstagebuch "Weihnachtspralinee mit Likör" und Gina Pietsch, die bedeutende Diseuse aus Berlin legt all ihre hedonistischen Verlockungskünste in diesen und in ähnliche Sätze. Auf ihrer CD "Jesus macht nicht mehr mit" vereinigt sie Kitsch, Kunst, Ironie, und Bitternis, aber sie versetzt uns auch etliche Ellenbogenschübe zum Denken und Nachdenken. Die Weihnachtsgeschichte auf Tirolerisch findet ihren Platz auf der Scheibe neben Texten von Robert Gernhardt, Bertolt Brecht, Erich Kästner und Wolfgang Borchert, von dem die Titelzeile stammt.
Die Pietsch serviert das vielgängige Menü mit Freiheit, Frechheit und mit ihrem ganz eigenen Berliner Charme. Und sie singt uns dazwischen Weihnachtslieder, die etwas ahnen lassen vom ursprünglichen Sinn des Festes. Obwohl sie doch laut Booklet-Text "eine Heidin" und ihr Begleiter Dietmar Ungerank "kein eifriger Kirchgänger" ist.
Weihnachten 2001 ist vorbei. Das nächste Fest droht als Wiedervorlage zum gleichen Termin. Deshalb den Langzeitmarker auf 24-12-02 und auf:
Musikverlag Burger und Müller
Kriegstraße 181 / 76133 Karlsruhe (Tel. 0721 - 830 41 48)



Der Berliner Komponist Kurt Schwaen kannte Brecht noch persönlich. Der heute in Hellersdorf lebende und nach wie vor rastlos tätige Künstler hat das Glück zu erleben, wie eines seiner zentralen frühen Werke, das Lehrstück mit Musik "Die Horatier und die Kuriatier" vom Deutschlandradio Berlin produziert und unlängst veröffentlicht wurde. Von Michael Dasche sorgfältig redaktionell betreut und von Axel Bertram vorder-hintergründig graphisch ausgestaltet, offenbaren Schwaens tonkarge Musiken in Verbindung mit den grausam-dialektischen Texten Brechts die Erinnerung an eine Zeit, die in ihre Bedrohlichkeit heute wirkt wie eine Sage aus der Nibelungenzeit. Sie finden mein Urteil übertrieben für so ein kleines Lehrstück? Schon vergessen, die irrwitzige Militarisierung unseres Alltages, die in der 10. Klasse mit dem ersten Wehrlager anfing und mit dem "Ehrendienst" und den ständigen Bedrohungen durch Reservisteneinberufungen bis weit in die Berufstätigkeit hinein anhielt? Dabei ist es gerade ein Dutzend Jahre her.
Die Chöre der jugendlichen Laiendarsteller (Leitung Mirijam Sohar) offenbaren das heute übliche interessierte Nichtwissen der Nachgeborenen. Die jungen Leute kommen mit ihrer kollektiven Erkenntnis nicht hinter und nicht zwischen die Zeilen des vieldeutigen Textes. Sie singen die richtigen Noten, mehr nicht. Aber das ist der einzige kleine Makel. Denn in Schwaens Musik drückt sich quasi von allein alles aus, die Lakonie, die Verzweiflung, aber auch die Hoffnung dieser kaum lebbaren Zeit.
Kreuzberg Records
Grabbeallee 15, 13156 Berlin (Tel. 030 – 61 69 810)


Jazz, zur NS-Zeit noch als "Niggermusik" verfolgt, wird heute meistens als richtige Musik akzeptiert. Und wahre Experten sind nicht nur in den USA, sondern auch in unserem Landstrich zu finden. Dazu gehören Norbert Gottschalk (Gesang) und Frank Haunschild (Gitarre), Niemand kennt sie, aber sie bieten auf ihrer CD "Bridges" hinreißenden, perlend leichten und perfekten Jazz auf Swing- und Standart-Basis. Wie weiland Ella Fitzgerald und Barny Kessel musizieren sie alles aus, was das Genre so verlangt und hergibt. Eine Extraempfehlung für Jazz-Fans!
Acoustic Music Records
PF. 1945
49009 Osnabrück


Das mittlerweile weltberühmte KRONOS-Quartett muss Musikinteressierten nicht vorgestellt werden. In der Besetzung David Harrington (1. Violine), John Sherba (2. Violine), Hank Dutt (Viola) und Joan Jeanrenaud (Violincello) erkunden sie immer wieder den Mikrokosmos der Kammermusik für Streicher. Ein Streichquartett, so ließ uns Meister Goethe vormals wissen, müsse sein "als wenn vier vernünftige Personen sich unterhalten". In dieser Kunst ist das KRONOS-Quartett weit gekommen, unübertroffen aber ist es darin, die ausgetretenen Pfade des Kammermusik-Betriebes mit Mozart, Haydn, Beethoven und Debussy immer wieder zu verlassen und neue Terrain zu erkunden. "Pieces of Africa" räumt mit Vorurteilen auf, dass es in Afrika keine E-Musik-Komponisten und keine ernstzunehmende Kammermusik gäbe. Dumisani Makaike (geb. 1943 in Zimbabwe), Hassan Hakmoun (1963, Marokko), Foday Musa Suso (1950, Gambia), Justinian Tamusuza (1951, Uganda), Jamza El Din (1929, Sudan), Obo Addy (1936, Ghana) und Kevon Volans (1949, Südafrika) bieten dem Hörer eine ungeheure Fülle interessanter musikalischer Eindrücke von einem Kontinent, der für viele nur eine schwarzes Loch bzw. ein weißer Fleck ist. Besonders interessant dürfte für Klassikfans der 1. Satz aus dem Zyklus "Ekitundu Ekisooka" sein, eine witzige und gleichzeitig vertrackte Kombination aus europäischen Harmonien im Stile von Dvorak mit afrikanischen Rhythmen, die in allen möglichen Spielarten pochend und klopfend den Streichinstrumenten entlockt werden. "Afrika ist kein Land" - diese Scheibe beweist es und dem KRONOS-Quartett sei dafür gedankt.
Die CD ist bei Elektra Nonesuch (7559-79275-2) erschienen.


Bleiben wir bei den Saiteninstrumenten. Das Open Strings Gitarrenfestival fand im Mai 2000 zum vierten Male statt. Hunderte von Teilnehmern aus der ganzen Welt hatten sich beteiligt, die fünf Besten bestritten das Finale in Osnabrück. Dass sich die Gitarrenkunst von Karim Baggili (Belgien), Bob Bonastre (Frankreich), Ulf Müller (Deutschland), Double Talk (Deutschland) und Timo Nieto (Argentinien) auf professionellem Niveau abspielt, setzt man voraus. Die CD "NEW STRINGS 2000" präsentiert musikalisch rasante Stücke, die mit technischer Brillanz ebenso gespickt sind wie mit verhalten-melancholischen Titeln ganz unterschiedlicher Couleur. Dabei reicht die Spanne der Stücke vom Jazz über Flamenco-Elemente bis zum argentinischen Tango.
Acoustic Music Records
PF. 1945
49009 Osnabrück


Früher hatte Michael Jackson eine millionenfache Fangemeinde. Mittlerweile taumelt der mutmaßliche Kinderschänder oder Nichtkinderschänder von Krise zu Krise. Sein durch zahllose Operationen bis zur Weißlichkeit entstelltes Gesicht, meist tief unter einem breitkrempigen Hut verborgen, wird nur noch selten in Videoclips präsentiert. Die neue CD "Invincible" (you can change the world) wurde gnadenlos niedergeschrieben oder völlig ignoriert. Sie enthält auch erst mal etliche Songs, die nur aus Dance-Floor-Floskeln, aus Aufguss vom Aufguss und aus kaltem Kaffee von gestern bestehen. Doch dann in der Mitte der Scheibe erklingen tiefempfundene, schwarz-soulige, melancholische Songs von großer Gefühlstiefe, individuelle Lieder, wenig populär, aber von großer Ehrlichkeit. Das lohnt dann schon wieder. Die bei EPIC erschienene Scheibe wird der Schnösel vorrätig haben. Deshalb folgen hier keine weiteren Angaben.


Günter Wand, der bedeutende Dirigent und verantwortungsvolle Sachwalter der alten und neuen Sinfonik, wurde im Januar 2002 90 Jahre alt und verstarb im Folgemonat. Der 1912 in Elberfeld geborene Kaufmannssohn gehörte ebenso zur Reihe der "berühmten" großen alten Männer des Taktstockes wie Solti, Karajan und Celibidache. Zahlreiche Wiederveröffentlichungen und Neuaufnahmen hat er sich und uns Hörern noch auf den Geburtstagstisch gelegt. Insbesondere die Gesamt-Aufnahmen, die ab Mitte der 70er Jahre mit dem Kölner Rundfunksinfonie-Orchester entstanden sind, erweisen sich als besonders gelungene Belege für das präzise Zusammenwirken sowohl zwischen der Prägnanz des Klanges als auch für die ursprüngliche Freude am Musizieren gleichermaßen. Beispielhaft sei hier auf die Bruckner-Edition und die Schubert-Einspielungen hingewiesen. Aber auch die Studioproduktionen mit dem NDR-Sinfonieorchester, dessen Ehrendirigent auf Lebenszeit Wand war, bestechen durch die Brillanz ihrer Klangqualität und editorische Sorgfalt. Die mittlerweile "legendären" Beethoven- und Brahms-Zyklen werden selbst anspruchsvollste Hörer zufrieden stellen.
Hier einige besondere Leckerbissen: Beethoven, Sinfonien Nr. 4 (op. 60), Mozart, "Posthorn"-Serenade D-Dur KV 320 (NDR-Sinfonieorchester) und: Bruckner, Sinfonie Nr. 8 c-Moll (Berliner Sinfoniker). Beide CD wurden im Jahre 2001 live aufgenommen.
Für Kenner und Liebhaber empfohlen sei "The Essential Recordings". Diese 10 CDs enthalten Werke von Beethoven, Brahms, Bruckner, Mozart, Schubert, Schumann, Strawinsky und Tschaikowski, eingespielt mit einigen der besten Orchestern der Welt.
Alle Aufnahmen: RCA/BMG


"Die Musik wird gebraucht", schrieb der bereits einige Absätze zuvor erwähnte Berliner Komponist Kurt Schwaen in einer seiner zahllosen Schriften. Das ist kühn gedacht für einen mittlerweile 92jährigen Künstler, der in seiner Kindheit und Jugend und auch danach alle Höhen und Tiefen des vergangenen Jahrhunderts miterlebt hat. Selbst der tiefe Einschnitt der Nachwendezeit konnte von Schwaen mit schöpferischen Rastlosigkeit aufgefangen und positiv verarbeitet werden. Bei ihm liest sich das so: "40 Jahre lang hatte ich mitgesungen und mitgedacht: 'Um uns selber müssen wir uns selber kümmern.' Jetzt musste ich bescheidener bleiben: 'Um mich selbst muss ich mich nun selber kümmern.'" Ein achtzigjähriger Mann fängt in einem vollkommen veränderten gesellschaftlichen Umfeld neu an, und zwar fast von vorn. Er arbeitet einfach weiter mit alten und auch mit neuen Partnern. Der vielfach ausgezeichnete Pianist Falko Steinbach, der derzeit an der University of New Mexico als ständiger Professor für Klavier lehrt, ist so ein "neuer" Partner. Seit vielen Jahren setzt sich der Künstler in seinen Konzerten für die Werke Schwaens ein und auch die nunmehr dritte CD mit Klavierwerken Schwaens ("Miniaturen") ist ihm zu danken. In Gegenwart des Autors und in reiner Röhrentechnik unter Verwendung der Bürki-Kugel aufgenommen, entsteht ein Klangbild von eindrucksvoller Transparenz.
"Es wird wenig Leute geben, welche die lustige und wahrhaft edle Musik Kurt Schwaens nicht schön finden. Aber das Einstudieren dieser Musik wird vielleicht nicht ganz leicht sein. Von solchen Schwierigkeiten darf man sich nicht abhalten lassen." Das schrieb Brecht über Schwaen. Und Falko Steinbach hat sich zum Glück an diesen Ratschlag gehalten. Insbesondere das "Nocturne lugubre", eines der besten Werke von Schwaen überhaupt, die "17 Intermezzi" und die "Lyrischen Stücke", die scheinbar allesamt leicht zu spielen sind, erfahren durch ihn eine eindringlich-knappe, überaus bündige Interpretation.
Schwaen zieht seinen Schaffensimpuls aus dem Wunsch zu wirken, aus dem Eingebundensein in eine Gesellschaft, die für ihn vielleicht noch ganzheitlicher ist, als sie uns Jüngeren erscheint. Wir erwarten zumeist, dass der Staat die Rahmenbedingung für Kunst und Kultur vorgibt, sie möglichst verbessert. Schwaen versucht mit Hilfe seiner Frau und seines Freundeskreises selbst etwas zu tun, auf die Position des aktiven, des Handelnden zu gelangen. Immer wieder riskiert er entschlossene Schritte in die Öffentlichkeit, weg vom blossen Verteilungs- und Konkurrenzdenken, hin zum Netzwerk der Ähnlichgesinnten und gleichermassen Betroffenen; dies ist viel im zunehmend sinnentleerten Kultur-Business.
In Schwaens Sprache klingt das so: "Noch immer bin ich nicht bereit aufzuhören. Eine Wende ist erfolgt. Was hat sie mir gebracht? Ich bin unruhig und neugierig wie eh und je. Ich will das Vergangene nicht vergessen, aber hinter mir lassen, um bereit zu sein für neue Aufgaben." (Stufen und Intervalle, S. 10)
Und gleich noch ein O-Ton, made by Kurt Schwaen hinterher: "Dass ich berühmt bin, merke ich daran, dass die Briefträgerin weiß, dass mein Name mit ae geschrieben wird."
Dittrich-Verlag, Blücherstr. 10 / 50733 Köln
Tel. 0221 – 97 62 914



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