www.Crossover-agm.de Die Bücher der Gebrüder Kotte (04.03.2007)

Leipzig ist Buchstadt - ja sicher. In den Messetagen werden Tausende in Kneipen, Bibliotheken, Hallen sitzen und aller Literatur lauschen. Rekorde sind avisiert. Ich mache mir kaum Gedanken, daß "Leipzig liest" Europas größtes Lesefest bleibt. Bleibt Leipzig auch Buchstadt? Skeptisch darf man außerhalb der tollen Tage sein. Leipziger Literatur kommt in der großen Leipziger Zeitung kaum vor. Die Stadtbilbliothek leistet sich Leipziger Autoren nur fürs Archiv und hofft, daß Verlage ihr die Bücher spenden. Das Kulturamt läßt sich nur bei Preisverleihung oder Eröffnung auf Literaturveranstaltungen sehen. Leipzig macht offiziell mit dem Namen Buchstadt viel her - tut aber wenig. Wenn das Interesse der Bürger und der Enthusiasmus kleiner Verlage nicht wär, wäre die Literatur wie manch großer Name aus der Stadt längst verschwunden.

Die Geschichte ist umgeschrieben!
Leipzigs Autor No. 1 Erich Loest hielt es für angezeigt, sein "Frühwerk aus der Schublade zu ziehen, kräftig zu bürsten und wieder unter die Leute zu bringen, dass sie sich erfreuen möchten". Anläßlich des Endspiels 1966 kommt es zum Showdown, denn "Der Mörder saß im Wembley-Stadion" (Steidl). Der Krimi ist eine gute Mischung aus Edgar Wallace und Francis Durbridge. Doch nun stellte der Autor fest, London hat ja nie so ausgesehen wie in seiner Fantasie (wir haben doch eh nicht geglaubt, dass er vor Ort recherchierte). Und "politisch erwünscht formulierte" Loest "'Westdeutschland' und 'westdeutsche Spieler'". So geht das nach der Wende natürlich nicht, also lesen wir nun die alte Geschichte bereinigt auf einheits-deutsch. Wenn das so weitergeht, fürchten wir, auch die anderen Krimis Loest'scher Feder werden umgeschrieben. "Die Westmark fällt weiter" (1952) hat's da im Titel schon schwer. "Der demokratische Sektor von Berlin ist ein großer Bauplatz. Die Sporthalle in der Stalinallee geht ihrer Vollendung entgegen ..." Werden diese Sätze dann gestrichen? Im Buche "Mit kleinstem Kaliber" (1973) wird einem Leipziger Mädel das Angebot gemacht, sie "über die Grenze der CSSR nach Westdeutschland zu schleusen". Vereinigt existiert der Straftatsbestand nicht mehr. "Das Spiel BRD gegen DDR begann 19.30 Uhr, es war möglich, während dieser Zeit hundert Kilometer nach Süden zu jagen", steht bei "Rotes Elfenbein" (1975). Heißt das jetzt, wir spielen mit uns selber? Literatur ist Zeitdokument. Sie umzuschreiben ist keine Kunst, sondern Fälschung. Deshalb empfehlen wir die Loest'schen Krimis in sozialistischer Machart zu lesen - antiquarisch sind die zu haben. Und manche Bibliothek hat sie noch immer im Bestand, denn "es war früher nicht alles schlecht". Auch nicht die Krimis.

Kleiner Tip: Jubiläen. Jubilare
Leipzigs Altmeister der Literatur heißt Erich Loest. 2006 ward er 80, dementsprechend ward gefeiert. Ehrungen, Gespräche, Nachauflagen. So kam auch Loests Roman No. 1 wieder auf uns: "Jungen, die übrig blieben" (dtv). Autobiografisch gefärbt ist dies die Geschichte Walther Uhligs, der kurz vor der deutschen Kapitulation noch einberufen wird. Wir erleben Drill und Solidarität, Fanatismus, Sehnsucht und Schrecken. Erschütternd ist der Roman ein Dokument verlorener Zeit, die uns im Bewußtsein bleiben sollte. Auch ein anderer Künstler deutscher Sprache ward im Jahre 80: Siegfried Lenz. Auch er seit 1950 freier Autor und ein Autor, der das Lesen lohnt. "Das Vorbild" (ebd.) suchen Sachverständige fürs Lesebuch. Darüber geraten sie in harte Diskussion. Auch wir, denn mit wem sollt man sich als Deutscher identifizieren wie und wann. Neben dieser aktuellen Frage macht solche Lektüre Riesenspaß. So war das Leben, so ist's. Ja, der Blick in alte Bücher lohnt und fordert: Weiterlesen. Nicht nur Lenz und Loest, die aber auch. "Oakins macht Karriere", "Heimatmuseum", "Nikolaikirche", "Der Mann im Strom" (soeben verfilmt), "Die Westmark fällt weiter", ...

Schon gewußt? Ernst Jünger war anerkannter Insektenforscher. Alexandre Dumas' Memoiren umfassen 22 Bände. Hunter S. Thompson erschoß sich während eines Telefonates mit seiner Frau. Jürgen Neckam hat gesammelt und berichtet allerlei Amüsantes, Erschreckendes, Verblüffendes über "Das merkwürdige Leben der Literaten" (Residenz). Georg Lichtenberg war das 17. Kind seiner Eltern. Sigmund Freud wurde 33 mal am Kiefer operiert. Gut, muß man nicht wissen, aber wenn, kann man beeindrucken, selbst Professoren und die Dame im Café.

Fritz Rudolf Fries ist ein Fabulierer erster Güte und beeindruckt uns diesmal mit der Geschichte von "Blaubarts Besitz" (Faber & Faber). Jener sagenhafte Weiberheld, machte auch im Sozialismus von sich Reden. Er nimmt sich jene, die er möcht', und die will auch. Logo. Neben dieser wunderschönen Liebesmär präsentiert uns der Autor Wohl und Wehe unserer ehemaligen DDR. Über die haben wir ja schon manches gehört (und hören müssen). Fernab aller Klischees lohnt dieser Roman jedoch das Lesen. Wir meinen: Schade, zu kurz.

Siv ist mit ihrer Ehe fertig. Raus muß sie, aufs Land und endlich selbst im Leben stehn. Da die alte Tante gerade verstarb, zieht Siv in ihr Haus und in Schwedens hohen Norden. Dort sind Menschen selten und das Klima frisch. Nun könnte man meinen, einen Frauenroman á la Hera Lind zu lesen, auch der Titel "Solange das Herz noch schlägt" (Bastei Lübbe) läßt nix Gutes vermuten. Doch schafft Autorin Aino Trossel allmählich so beängstigende Atmosphäre, daß wir über Seiten hetzen und erstaunen, was für einen spannenden und politisch diskussionswürdigen Roman wir in den Händen halten.

David Hunter zieht nach Schicksalsschlägen in die englische Provinz. Der Arzt hat schwere Stellung im Dorf, denn die Einheimischen haben eigenen Charakter und seltsame Vorstellungen. Justament findet man eine bizarre Frauenleiche und noch mehr furchtbar Hingerichtete. Da sind die fachlichen Qualitäten David Hunters gefragt, und er findet sich mittendrin im Alptraum wieder. Irre spannend, die Geschichte. Autor Simon Beckett hat stets noch eine Wendung parat, so daß wir's bis zum Ende kaum aushalten können. "Die Chemie des Todes" (Wunderlich) stimmt.

Günter Kunert ist ein Mann der knappen Worte. Kaum ein anderer Literat kann uns mit kurzer Prosa so beeindrucken. "Irrtum ausgeschlossen" (Hanser) vereint Bekanntes, Unbekanntes und Geschichte damals, heute. "An der Saale hellem Strande" stehen die Türme von Saaleck. Diese Burg hat tödliche Vergangenheit. "Das bestätigt, daß man häufig an obskuren Plätzen außerordentliche Denkmäler findet." Doch nicht nur diese Story ist nah an uns dran. Kunert beweist, daß es die Meister deutscher Erzählkunst wirklich noch gibt.

Auch das sind hiesige Geschichten mit Geschichte. Rolf Krohn berichtet vom "Grundstein an der Saalefurt" und mutmaßt über die Entstehung unsrer City Halle an der Saale. Doch im Band "Tod auf tausend Hufen" (mdv) stehen noch mehr der historischen Begebenheiten. Ritter, Krieger, Römer, ein diebischer Rabe sind die Protagonisten. Die Schauplätze sind uns bekannt und Heimat. Das Buch ist beste Vorleselektüre. Und nächste Wanderungen werden uns den historischen Boden anders betreten lassen, Rolf Krohn sei Dank.

Der Umschlag ist schwarz. Das Buch heißt "Blacklist" (Goldmann). Auch hier wirft die Vergangenheit tödliche Schatten. Diesmal sind's die USA und deren Ausschüsse zur Untersuchung unamerikanischen Verhaltens. Da standen viele plötzlich im Verdacht, dem Vaterlande Böses zu wollen. Spannungsexpertin Sara Paretsky verknüpft kunstvoll alte Handlung mit der Gegenwart. Die Leichen liegen nicht im Keller, sondern im Archiv. Wenn auch lädiert, gewohnt taff meistert Heldin V.I. Warshawski alle Unwägbarkeiten des Geschehens. Und deshalb lieben wir sie.

Ja, wer schreiben will, der kann. Auch ohne Agent, Manager und Beziehung finden sich Erzähler im Buch. Zum Beispiel in der Anthologie der Autoren IV. "Mörderisch" (Web-Site-Verlag) ist kurzweilig Lesen. Und mancher der Krimis macht Lust auf mehr. Ganz nebenbei stellen wir fest, auch unsre Heimat hat Krimischreiber mit Niveau. Sachsenburg: Ruth Borcherding-Witzke läßt uns "Italienische Momente" erleben. Leipzig: Uwe Schimunek zeigt uns "Die Rache der Wortwart Liga". Da sage noch einer, wir hier hätten nix zu erzählen.

Der Fußball wirft seine Schatten. Daß er Grund für allerlei böses Geschehen, beweisen uns die Nachrichten beinahe täglich. Bessere kriminelle Geschichten erzählen jedoch gestandne Autoren. Die "Blutgrätsche" (Grafit) führt von Qualifikation hin bis ins WM-Finale und vereint die Namen und Preisträger der Szene. Gunter Gerlach. Krystyna Kuhn. Roger M. Fiedler. Tatjana Kruse. Diese Mannschaft hat für uns bereits die Wettkampfstätten untersucht und 'ne Menge Widerwärtigkeiten zu Tage gefördert. Schön. Sehr schön. Das Buch zum Fest, böses Erwachen inklusive.

"Samuel Beckett" (rororo) ward 100. Doch nicht nur aus diesem Anlaß sollten wir uns dem Autoren widmen. "Warten auf Godot", "Endspiel", "Glückliche Tage" zeigen absurdes Theater und unser Dasein aus nüchternem Winkel. Manche Inszenierung wurde zur Legende. Doch nicht nur mit seinen Stücken schuf Samuel Beckett Weltliteratur. Nobelpreis 1969. Friedhelm Rathjens Monografie erleuchtet manche Stelle im Leben und Werk. Als Einführung bestens geeignet. Vertiefung bei angeführten Quellen möglich. Das alles enthebt uns aber nicht der Pflicht, Beckett zu lesen!

Liebe zu Vergangenheit und Wort

"Durch die Geschichte begreifen wir erst die gegenwärtige Ordnung der Dinge und können so unserem heutigen Dasein eine bestimmte, größere Bedeutung und Würde geben." Dies Wortlaut eines gelehrten Gespräches zweier Herren anno 1839. Deren einer mit seinen Bildern 165 Jahre später zum Forschungsgegenstand der Wissenschaft mutiert. Anselm nämlich ist Doktorand und dem malerischen Werke des vergessenen Künstlers Oluf Braren auf der Spur. So findet er zurück auf seine Heimat, die Nordseeinsel Föhr, und recherchiert deren frühere und jüngere und die Geschichte des Provinzgenies. Der Leipziger Olaf Schmidt ist Kenner der Literatur und Kritiker. "Friesenblut" (Eichborn) ist des Autors erstes und ein vielschichtig Werk über Vergangenes, Verdrängtes, Schuld und Erkenntnis. Sprachlich gekonnt verbindet es Zeitebenen und Schicksale, die dem Helden und Forscher Anselm näher sind, als er sich zugestehen will.
Vergangenheit literarisch. Das Genre des historischen Romans ist älter, als wir meinen möchten. "Ilias", "Artus", "Die vier Musketiere" - bereits die Antike griff mit ihren Werken auf lang Geschehenes zurück. Sonst hätte man gar Troja nie entdeckt! "Im historischen Roman sind geschichtliche Figuren oder Ereignisse Gegenstand der literarischen Gestaltung. Im Unterschied zur Historiografie zielt er auf den oft gleichnishaften Sinn einer Begebenheit ... wobei zumeist die geschichtlichen Fakten, Charaktere usf. als individualisierende Einkleidung zur Darstellung eines aktuellen Anliegens dienen." Anders haben die obengenannten Herren nicht argumentiert. Und ein Blick in Buchregale und Neuangebote läßt eine Unzahl von Historienschinken erkennen. Neben Päpstin, Medicüssen und Quacksalbern gibt es eine erklecklich Anzahl Bücher dieser Provenienz, die das Lesen durchaus lohnen (siehe oben).
Simon Winchester ist Meister im Erzählen alter, schrecklicher Geschichten. Er berichtete vom Untergang der Insel "Krakatau" (btb), vom Untergang der City San Francisco im "Riss durch die Welt" (Knaus), und Simon Winchester kennt den "Mann, der die Wörter liebte" (Knaus). Dieser hieß W.C. Minor und sitzt wegen Mordes in der Psychiatrie, ist aber dem Herausgeber des Oxford Dictionary der wichtigste Mitarbeiter. Man glaubt es kaum! Wörter sind Minor die einzig verbliebene Verbindung zur Außenwelt. Ein Portrait von Genie und Wahnsinn und nebenbei ein Buch, das den Duden anders lesen läßt. Welche Geschichten von Menschen stecken hinter den Stichworten in Lexika und Enzyklopädien?
"Die Gräfin Cosel" (Piper) hat nicht nur den Sachsenkönig fasziniert, oft ward ihr Schicksal kolportiert. Nun legt uns Katja Doubek ihre Sicht auf "Liebe und Intrigen am Hofe August des Starken" vor. Von Leidenschaft und bösem Willen, Prunk und Hader, Mutterliebe, Haß ist da die Rede. Und diese Fakten hat die Autorin sorgsam recherchiert. Wer die banalen Kapitelüberschriften überliest, kann durchaus seine Freude ziehen. Dem Geschichtskundigen wird sich nicht viel Neues offenbaren. Andrerseits, wer Dresden liebt, liebt alle Bücher über Elbflorenz und Sachsenkönig ... oder?
"Leipzig würde da der Mittelpunkt sein" - Hans Joachim Köhler verfaßte eine "aphoristische Biografie" zu "Robert und Clara Schumann - Ein Lebensbogen" (Kamprad) und erfindet nix hinzu. Entstanden ist kein trockener Datensalat, sondern ein lebendiger Einblick ins Leben einer großen Liebe. Heiratsverbot und Männerbünde, Wunderkind und elendes Sterben ... Sicher liest sich Köhlers Buch nicht wie manch flott verfaßte Belletristik, doch gewiß, diese Fakten sind sämtlich belegt von Hausnummer bis Uhrzeit, und manches, das uns in Bild und Dokument gezeigt wird.
Noch einer, dessen Leben legendär: Fjodor Dostojewski. Leonid Zypkin rekonstruierte den "Sommer in Baden-Baden" (Berlin). Junge Ehe, Leidenschaft, Exzesse, Spiel, kreativer Schaffensrausch. Neben den Fakten ist Zypkins Roman ein Abbild sowjetischer Drangsal und Verweigerung. Der Autor hat zu seinen Lebenszeiten nie veröffentlicht, war Pathologe. Dieser Roman begeistert, da sind wir mit Susan Sontag einer Meinung, die dem Werk ein intelligentes Vorwort verfaßte. Lesen!
Ob nah am Fakt, ob weiter weg - der Roman, der Vergangenheit zitiert, ist oft besser als sein Ruf. Thomas Mann, sein Bruder Heinrich, Peter Härtling, Erich Loest, ... die Arten des Schreibens über Historie sind vielfältig. Wir haben gelesen. "Durch die Geschichte begreifen wir erst die gegenwärtige Ordnung der Dinge und können so unserem heutigen Dasein eine bestimmte, größere Bedeutung und Würde geben." Die Autoren werden davon nicht lassen. Was uns da für Bücher noch ins Haus stehen!

Kleiner Tip: Künstlerisches Wortschaffen
Schreiben Sie Ihre Gedanken zu diesem Kunstwerk auf! So oder ähnlich lauteten die Aufsatzthemen in der Schule. Rubens. Mattheuer. CDF. Tübke. Böcklin. Wir standen davor, und es in Worte zu fassen fiel schwer. Gerhard Pötzsch hatte die Idee, Autoren ins Museum zu bitten und über Gesehenes zu schreiben. Das können wir hören: "Hoerbilder - Museum der bildenden Künste Leipzig" (Hörwerk) Lyrik wechselt mit kunstvoller Prosa, Prägnanz mit essayistischer Betrachtung. Andreas Reimann, Ralph Grüneberger, Manfred Jendryschik, Wilhelm Bartsch, Kerstin Hensel, Volly Tanner, ... es sind hier verortete Autoren, die in stilistischer Vielfalt nicht nur die Bilder beschreiben, sondern aus dem Museum ins Leben führen. Bilderklärungen anderer Art, gelesen von Christa Gottschalk, Griseldis Wenner und Axel Thielmann. Die "Promenaden" des Komponisten Steffen Schleiermacher bieten Assoziationsraum und Pausen. Vorschlag: Museumsbesuch mit der CD im Kopfhörer. Man sieht mit anderen Augen. Gedanken kann man spielen lassen. Ob das ehedem die Lehrer auch von uns forderten?

Konfuze sagt: "Lernen, ohne zu denken, ist leer, Denken, ohne zu lernen, gefährlich." Reisen bildet. Und Reiseliteratur ist eignes Genre. Die wunderbar "andre Bibliothek" beschert uns die "Weltreise eines Sexualforschers" (Eichborn) anno 1931. Magnus Hirschfeld war Pionier auf diesem psychologischen Gebiet, Nervenarzt und Wegbereiter einer Homosexuellenemanzipation. So lernen wir in diesen Berichten nicht nur Tourismus und die Sehenswürdigkeiten des Nahen und Fernen Ostens, Indiens und Indonesiens kennen, sondern auch Sexualcuriosa: Phallussteine. Liebeszauber. Mystische Sexualsitten. Dies ist kein verschämter Blick auf den Weltsex des vorigen Jahrhunderts, sondern anregende Lektüre.

Diese Männerliebe hat uns cinematografisch tief beeindruckt: "Brokeback Mountain" (Diana). Nachlesen können wir sie auch und sind erstaunt. Die Prosa der Annie Proulx verliert sich nicht in emotionalen Wogen, nein knapp, präzise setzt sie Worte. Diese Unterkühlung läßt in uns Gefühle leben. Diese Geschichten sind einfach großartige Literatur. Und nebenbei erfahren wir, daß die Autorin keineswegs einem Regisseur die Vefilmung zutraute. Ein Glück, daß Ang Lee doch tat. Ein Glück, daß Annie Proulx geschrieben hat.

"Morgens in Mitteldeutschland" (Kamprad) sitzt man bei Frühstück und Kaffee. MDR-Autoren besuchten zu Tagesbeginn Sendegebietsprominente und fragten. Sie besuchten Kirchen, Obdachlose, Fußballfans und fanden frühe Lyrik. Entstanden ist "Eine kleine Philosophie des Aufstehens". Sympathisch. Unterhaltsam. Gut. Die passende Morgenmusik wird per CD gleich mitgeliefert. Manch Tag kann wirklich schön beginnen.

Das "Blaulicht" lag ehedem am Kiosk aus und kostete 0,25 oder 0,45 Mark der DDR. Dann hielt der Käufer eine kurzen Krimi in der Hand und las. Wir glaubten diese Erzählungen vergessen. Nun beschert uns der Verlag Das Neue Berlin "Die besten Geschichten aus der legendären Reihe" unterm Titel "Ein bißchen Alibi hat jeder". Wir lesen wieder all die Namen, die uns lieb: Hans Siebe. Tom Wittgen. Wolfgang Kienast ... Da macht das Lesen Spaß! Wir sind sicher, da lassen sich noch mehr der literarischen Schätze heben! Bitte die noch besseren kurzen Krimis suchen. Wir wüßten sofort eine erkleckliche Anzahl zu nennen.

Matthew Phipps Shiel ist König von Redonda und begründete damit eine literarische Dynastie. Derzeitig übt Javier Marias diese Herrschaft aus und brachte die vergessenen Erzählungen seines Vorgängers zum Druck. "Huguenins Frau" (Klett-Cotta) beeindruckt ob des Schauders, der uns packt. Shiels Name gehört in die erste Reihe der unheimlichen Autoren. Eigentlich können Welt und Menschen grausam sein. Wenige nur können solche Angst in Worte fassen. Shiel ist einer derer, die diese seltene Kunst beherrschen.

Der Gunter Böhnke beschert uns zum Jubiläum "Schonzeit für Ideale" (Hohenheim). Das sind Texte aus vierzig Jahren Kabarett der Academixer. "Nu, was heute wieder bei uns los ist. Überall fehlen die Arbeitskräfte." Mancher Sketch, der legendär. Das Büchlein ist eine heitere Aufarbeitung der Geschichte. Und die ließ öfter gar nicht lachen. Und wer noch zwischen den Zeilen kann, wird unglaubliche Tatsachen wieder erkennen. Durfte man das denn damals öffentlich so sagen? Nein, nur anders.

Manche Autoren muß man gelesen haben. Anton Tschechow gehört dazu. Nachdem uns Artemis & Winkler Tschechows Prosa neu verlegt haben, vereint "Der Kirschgarten" die Dramen. Das ist hohe Kunst. Wir sehen sie wieder, die "Drei Schwestern"; "Onkel Wanja", "Iwanow". Und im Bande auch dabei die weniger bekannten Texte. "Über die Schädlichkeit des Rauchens" diskutiert man bis heute. Tschechow muß man immer wieder lesen! Das sage ich mit heiligem Ernst.

Nein, wir wollten es dem Autoren nicht glauben. Wollten wir nicht. Doch Claudio Michele Mancini meint: So ist es! Vielleicht nicht genau so, denn "Infamità" (Ullstein) ist ein Roman. Aber prinzipiell sind dies die Mechanismen der ehrenwerten Gesellschaft. Politik und Drogenhandel, Kirche, Mißbrauch, Liebe, Schweigen. Ja, so muß er sein, der Roman zur Mafia. Dem Autoren ist ein spannend verwickelt Werk gelungen, doch in uns bleibt der Zweifel. So soll das funktionieren? Andrerseits klingen die Schlagzeilen aus Italien manchmal wie diese im Roman: "Hinrichtung durch die Mafia!".

Aus dem Norden Europas erreichen uns immer wieder die Krimis, die wir lieben. Hakan Nesser erzählt so verblüffende Geschichten, daß wir über die Seiten hetzen. Da kommt es gut, daß btb die Romane gleich im Doppelpack auflegt. Wir empfehlen den Autoren und nicht ein einzelnes Werk. Wie auch das von Frode Grytten. "Die Raubmöwen besorgen den Rest" (Nagel & Kimche) und es zieht wieder Ruhe ein im Städtchen. Doch nicht nur Journalist Robert Bell weiß, daß Korruption, Intrigen, das Verbrechen herrscht. Selten haben wir einen so stilistisch brillianten, melancholischen Roman gelesen. Diesen Helden muß man lieben. Her mit dem nächsten Buch! Wie die das aus dem Norden immer wieder so hinkriegen ...

Es gibt ja Bücher, die fassen sich einfach gut an. Gerade die Bände aus "Manesses Bibliothek der Weltliteratur" lieben wir dafür. Dort erschienen Francisco Ayalas Roman einer Diktatur "Wie Hunde sterben". Luis Pineda sitzt im Rollstuhl und beobachtet die Schlächtereien eines gnadenlosen Regimes. Doch ist er wirklich der, als den er sich beschreibt? "Wie Hunde sterben" ist ein grandioser Roman über Gewalt, Herrschaft, Umsturz und System. Und letztlich steht vor uns die Frage: Halten wir die aufgezwungnen Regeln ein im ungerechten Staate. Was sind wir bereit zu tun? Helden sind selten. Wir spielen mit. Oder?

Auch "Wüste Meere" (Eichborn) bezaubern durchs Outfit. Und wenn die Geschichten hinterm Cover dann auch noch gut sind ... Carlos María Domínguez erzählt uns vom Wasser, Ozean und Johnny Weissmueller. Bevor der Tarzan wurde, schwamm er Rekorde. Klar ist solch Mann Vorbild, und die Jungen erschüttert's, wenn das Idol auch Schwächen zeigt. Aber darüber kann man ja schweigen. Jawohl, solche Geschichten lieben wir, diese kleinen Großen, und was uns das Wasser für Bilder schafft ... Eine Empfehlung.

Clemens Meyer kann erzählen. Er erzählt uns von der Jugend im Leipziger Osten vor und nach der Wende. Ein Staat ging unter. Illusionen machen sich die Kids auch im neuen System nicht. Sie kämpfen ums Überleben, die Frauen, den Alk. Da wird uns das Leben vor die Füße gerotzt. Wir lesen uns fest. Wir mögens kaum glauben, noch nicht mal dreißig ist dieser Meyer. Vergeßt die Adepten der neuen deutschen Literatur! Lest Meyer. "Als wir träumten" (S.Fischer) ist Titel, und Leipzig die Stadt, in der dieses Leben so gnadenlos schlaucht. Wir wissen darum. Endlich zeigt's einer denen, die immer noch träumen. Das ist die Kunst, die uns not tut und gut tut. Danke.

Leipzig - Jubel, Trubel, Depression

Jawohl, die Welt war Gast, und der Ball, der rollte, und die Stadien waren voll. Auch wir im Osten heften uns den Erfolg ans Revers. Leipzig repräsentiert: Neue Straßen und Brücken und Fahnen. Vor allem: Das Zentralstadion gibt es wieder. Das ist so schön. Und desterwegen gibt es zum Fest auch das Buch "Zentralstadion Leipzig" (Das Neue Berlin). Vier kundige Redakteure erzählen uns die Geschichte "Vom Stadion der Hunderttausend zum Fußballtempel". Flott geschrieben. Hübsch bebildert. Der Beigeschmack bleibt. Wer betritt das Stadion nach der WM? Bundesliga I und II wird es (un)absehbar vor Ort nicht geben. Schwimmen, Leichtathletik, Rad ist nicht mehr möglich. Die Massenaufläufe der Turn- und Sportfeste sind gewesen. Und so liest sich das Buch eher als Abgesang auf sportliche Zeiten der Sportstadt. Deprimierend - ein Stadion ohne Perspektive, Betreiber und Chance. Ein Millionengrab? Die OBMs Tiefensee und Jung rufen die schöne Zukunft von berufswegen aus, doch wir sind sicher: Fußball regiert die Welt auch in Leipzig niemals. Da hätten durchaus ein paar mehr der Kritiker dieser Gegenwart im Buche zu Wort kommen können. Aufschwung Ost? Als Fundus für Anekdoten der Vergangenheit ist das Buch bestens geeignet. War ja nicht alles schlecht. Oder?
Ein Tempel ist "einer oder mehreren Gottheiten geweihter Raum". Den Fußball wird's freuen. Die wirklichen Gotteshäuser der Stadt zeigt "Leipzig und seine Kirchen" (eva, dort erschienen auch die Dresdens). Abgerissen, neugebaut auch hier vieles. Bach und Gellerts Gebeine lagen in der Gruft von St. Johannis. Dieses Bauwerk wurde kriegszerstört, und es bestand der Plan, dorten ein Mausoleum für den größten Musensohn der Stadt zu schaffen. 1963 fiel der markante Turm. Die sterblichen Reste Bachs liegen seitdem in der Thomaskirche. Leipzigs Kirchen zeugen von Architektur und Geschichte. Knapp schildern die Autoren das Wesentliche. Was uns nicht der Initiative enthebt vorbeizuschauen, nachzufragen.
Leipzig und seine Künstler ist ein eigen Kapitel. Meist nach deren Tode begreift die Stadt erst dies Kapital. Während die Residenzstadt Dresden ihren Kulturträgern zu Füßen liegt, hat es der Schaffende der Messestadt oft schwer mit städtscher Anerkennung. Wir kennen die Namen, die Programme und Zeitung verschweigen. Das aber, das hat Tradition. "Warum bleiben wir in Leipzig? Warum wandern wir nicht endgültig aus in Gefilde, die uns freundlicher gesinnt sind? Mehr: Warum lieben wir diese Stadt dennoch von ganzem Herzen?" fragte Erich Ebermayer 1929. Literaturgeschichtliche Streifzüge fördern Bedenkliches zutage. "Leipzig - Transit" (Leipziger Universitätsverlag) verfolgt die Jahre 1900 bis 1933. Namen, die den Kennern lieb und teuer: Reimann, Vogt, Hasenclever, Weinert, Kisch. Autor Klaus Schuhmann ist Fachmann, hat gefunden und kann lesenswert berichten. Gar Manches, was wir heute noch nicht besser sagen können: "Warum soll mir Leipzig nicht gefallen? Man darf nur nicht gleich an Paris denken. Oder an die Messe. Denn Groß-Leipzig ist weder ein Klein-Paris, noch ist's nur eine Messestadt."
Apropo: Messe. Da war die Stadt voll von Stasi-Offizieren und IM. Doch neben dem Geheimdienst hatte auch die Kriminalpolizei ihre verdeckten Informanten. IKM - wurden sie im Fachjargon bezeichnet: Inoffizieller Kriminalpolizeilicher Mitarbeiter. Über "Die geheime K1 der DDR" (Militzke) berichten Wolfgang Mittmann und Curt Klausmann, ausgewiesene Kenner der dunklen Seiten des Sozialismus. Und so begegnen wir in diesen Kriminalberichten der Kriminalität made in gdr. Grabdiebstähle auf dem Südfriedhof. Feuer im Centrum-Warenhaus. Einbruch im Grassi-Museum. Gar ein Mord. Angesichts heutiger Kriminalität und Methoden wird man sagen, warum erzählen die uns denn das. Das Buch gibt ein anschaulich Bild vom Leben und Leiden vergangener Zeit. Noch immer ein Paradoxon: 15 Jahre Wartezeit auf einen Trabant. Da ließen sich selbst Behördenleiter vom schnellen Geld überzeugen und fälschten, schoben und verkauften. Die aufmerksamen Mitarbeiter der K1 gaben wertvolle Hinweise. Die Fälle wurden geklärt. Uns drängen sich die Vergleiche zur Jetztzeit auf. In Sachen Zentralstadion sind ganz andere Summen im Gespräch, und Gewinn in absehbarer Zeit unmöglich. Schuld daran hat keiner? Ist's nicht justiziabel wie manch andres auch?
Der Ball rollte. Aus Anlaß blätterten wir durch die Fakten unserer Heimat. Da ist vieles interessanter, spannender als manch Fußballspiel und viele der hochgelobte Romane. Hatten wir vermutet. Ehrlich.

Kleiner Tip: B.schenken
Anlässe gibt es genug: Geburtstage, Muttertage, Hochzeit, Trauer, erstes Rendezvous. Schenken kann man immer. Und Bücher sowieso. Klaus Ender ist Profi und lichtete ehedem Nackedeis ab. Da hat er es zu Ruhm und Ehr' gebracht. Zu Recht, denn Enders Fotos besitzen jene Qualität, die uns hinschaun läßt. "Loslassen" und "Herzklopfen" (art-photo-archiv) vereint die Fotografie mit Text zum Thema Liebe und Tod. "Jedes Herz - / es hat zwei Kammern, / links fürs Glück / und rechts zum Jammern." Über Gefühle zu sprechen fällt oft schwer, man kann es durch die Blume sagen oder eben durch das Buch. "Der Abschied kommt nie ohne Frust, / es ist ein hoher Preis, / der Lebenslauf fragt nicht nach Lust, / es schließt sich nur der Kreis." Worte können helfen. Wem zum Anlaß das Passende fehlt für Mutti, Vati, Omi, Freund und Freundin - dem seien Klaus Enders Bücher empfohlen. Manchmal kann man sich gar nicht recht satt sehen. Außerdem, beschenken kann sich ein jeder auch selber. "Ich weiß nicht, wie es weitergeht, / ich muß dich wiedersehn, / weil mir sich sonst das Herz umdreht, / vielleicht bleibt's sogar steh'n." Wieder so ein Fall von Vergangenheit. Christian von Ditfurth kennt den "Mann ohne Makel" (Audio). Eine erkleckliche Anzahl guter Stimmen sprechen die Worte: Hans Teuscher, Otto Sander, Nina Hoger, ... Norbert Schaeffer hat's auch gut in Szene gesetzt. Aber uns ist's, als hätten wir alles schon mal gehört. Nazis, kranker Hobbydetektiv, Schuld und Judenhatz und die Spur zu eigner Familie und Blut. Ein Gegenwartsroman. Die Täter sind heut über 90 und erfreuen sich des Lebens ... Nein! Solch vermeintliche Aufarbeitung der Geschichte nützt uns nix, die gab es vordem ambitionierter und viel besser. Und nicht nur auf der östlichen Seite der Mauer!

"Seemann, laß das Träumen!" Träumen wollen wir, gerade von euch. Der deutsche Schlager besitzt eine ungeheuerliche Affinität zu Matrosen, Meer, Landgang und winkenden Frauen. "Die andern sind das weite Meer. / Du aber bist der Hafen. / So glaube mir: Kannst ruhig schlafen, / Ich steure immer wieder her." Rainer Moritz liebt das Genre und die Interpeten, und so hat er uns ein wunderbar Kompendium zur Sachlage der "Schlager von Sehnsucht und Ferne" verfaßt. "Und das Meer singt sein Lied" (Piper) nennt die Namen von Paul Kuhn, Aurora Lacasa bis hin zu Heino, Lolita, Freddy Quinn. Vor allem schaut Moritz hinter die Texte. Was wollen sie uns damit sagen? Vielleicht nix? Zum Urlaub an der See das passende Buch. Heiter. Beschwingt. Leider liegt dem Werk keine CD mit Meeresrauschen oder Schlagern bei. Wir bedauern.

John Irving ist ein Großmeister des Erzählens. Umfangreicher als üblich geriet auch sein letzter Roman "Bis ich dich finde" (Diogenes). Jack Burns sucht, sein Vater ist verschollen. Den Hauptheld begleitet eine erkleckliche Anzahl schräger Typen, scharfer Frauen und sexueller Vorlieben. Der Autor nennt sein opus magnum eine "therapeutische Lebensbeichte", und in der Tat weist die Handlung viele Parallelen zu Irvings Biografie auf. Zugegebener Maßen so Fan sind wir nicht vom Großmeister, für uns bleiben Witz und Charme und tiefere Bedeutung auf der Strecke. Spätestens ab zweiten Drittel stöhnen wir: Noch immer kein Ende? Nein, das kommt auf Seite 1140.

Ruth Rendell versprüht im neuen Buch den "Duft den Bösen" (blanvalet). Ein Damenmörder geht in London um, der beißt und klaut den Opfern Schmuck. Justament im Hause von Inez Ferry finden sich die Klunker wieder. Sollte der Mörder? Frau Ferrys Mieter allesamt haben ihre Probleme mit der Welt und mit sich auch. Ruth Rendell gelingt die Sektion der alltäglichen Lebenslügen gekonnt, wenn auch nicht so eindrücklich wie in den Werken davor. Ein bißchen wirkt es wie Panoptikum, und wir fragen uns besorgt, was treibt mein Nachbar im Geheimen ...



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