|
Die Bücher der Gebrüder Kotte (28.01.2007)
Fuß, Weg, Europa
Jan Balster durchlief den Kontinent
Jeder träumt: Einfach raus! Alles vergessen. Was ganz anderes tun. Jan Balster hat es getan und ist "Zu Fuß von Dresden nach Dublin" (Verlag am Park) gewandert. Henner Kotte sprach mit dem Läufer, Reisejournalisten, Buchhändler.
Wie kamst du auf die Idee, zu Fuß durch Europa zu wandern?
Reisen wollte ich schon immer und möglichst viele Leute kennen lernen, mit ihnen ein Stück Leben verbringen. Nun kamen noch einige Umstände hinzu: ich war damals arbeitslos und damit auch finanziell nicht sehr betucht. Die Idee zu Fuß erwuchs sehr schnell, vier Wochen Vorbereitung und los ging es.
Was sagten die Anverwandten dazu?
Sie hatten keine Zeit zu überlegen oder es mir auszureden. Ich teilte ihnen meine Unternehmung ca. 14 Tage vorher mit.
Wie geht man mit dem Risiko der Nichtversichertheit um? Denn die Krankenversicherung hattest du ja gekündigt.
Man geht immer davon aus, es passiert schon nicht. Darüber habe ich zu Beginn der Reise nachgedacht, doch mit jedem Kilometer schwindet dieses Risiko, man lernt dazu. Clochards sind auch nicht versichert. Und sollte doch etwas passieren, hilfsbereite Menschen sind noch nicht ausgestorben. In Deutschland blieb ich unversichert, weshalb ich dieses Land so schnell wie nur irgend möglich verließ.
Warum Zielort Dublin (wegen dem Biere)?
Auf zum Atlantik, diesen Riesentümpel wollte ich mir schon immer einmal anschauen. Dublin hat sich auf der Reise ergeben. Der Satz: "Ich wandere von Dresden nach Dublin" klingt vertrauter als: "Ich bin zwischen Coswig und Doolin zu Fuß unterwegs".
Warum der Umweg über die französische Mittelmeerküste?
Ich wollte so viel wie möglich von Frankreich sehen und einfach wissen, ob es in Arles wirklich an keiner Ecke zieht und die Wassertemperatur im Mittelmeer höher ist als die des Atlantiks. Ich habe mich treiben lassen, kann also sagen, ich habe mich nie verlaufen.
Was war die schlimmste Nacht?
Im ersten Moment würde ich sagen, als ich in Südfrankreich mitten in der Nacht mit einem Doppelläufigen bedroht wurde. Doch schlimmer waren die Nächte, wenn ich abends vor Hunger nicht einschlafen konnte und morgens immer noch Kohldampf hatte.
Wem möchtest du noch einmal begegnen?
Otto aus Avignon sagte zu mir: "Man sieht sich immer zweimal im Leben." Ich möchte wissen, ob Otto seine Tochter in Kanada besuchte. Ob Jeanne aus Lyon ihr Abitur bestanden hat, Peter, der Tramp, wieder den Menschen vertraut. Ob John immer noch im Obdachlosenasyl in Bristol vorbeischaut, Linda einen besser bezahlten Job fand und ihr Vater seinen Lebensabend genießen kann. Ob Sean von den Drogen runter ist, sein Vater noch der IRA anhängt und Stanley, der Musiker aus Kilkenny, seinen großen Hit landete.
Gibt es reiseliterarische Vorbilder?
Schwierige Frage. Wenn ich jemanden nennen muß, so bleibt Woody Guthrie mit seinem Buch "Bound for Glory". Eine Reise als Tramp und Folksänger durch Amerika. Andernfalls ist es mir gleichgültig, ob ein Autor bekannt oder unbekannt ist, wichtig ist der humanistische Gedanke und die Wahrheit in seinen Büchern, seinen Texten. Es ist leicht, Arbeitslose und Ausländer abzuwerten, wenn man selbst keine kennt. Doch sie zu Wort kommen lassen, ihr Vertrauen zu wecken, ist verdammt schwer.
Wie hast du den Verlag gefunden?
Das kann lange dauern. Kürzer geht es so: wenn man vorn rausfliegt, kommt man von hinten wieder zurück. Ich habe 12 Verlage angeschrieben, davon bekam ich 2 Absagen und 3 Zusagen, der Rest hat sich nie gemeldet. Danach habe ich nach Bekanntheit und Verbreitung entschieden, nach dem guten Gefühl.
Was machst du heute?
Seit 1996 bin ich publizistisch tätig, vor allem als Bild- und Reisejournalist für in- und ausländische Zeitungen und Zeitschriften. Ich schreibe unter anderem viel für Russland und eine kasachische Zeitung. Meine Bilder werden über nationale Agenturen und eine internationale Fotoagentur vertrieben. Und wenn ich nicht gerade globetrotte, arbeite ich als Buchhändler in Dresden.
Wann steigt die nächste Tour?
Nächstes Jahr. Wohin, kann ich noch nicht genau sagen.
Geheim und immer dabei
"Die Prostitution mag der älteste Beruf der Welt sein, aber der Beruf des Spions ist nicht viel jünger." Ohne die arbeitenden Menschen im Geheimen kann kein Staat existieren, macht er uns wissen. Außerhalb und innerhalb der Grenzen verschaffen die Agenten den Staatsmännern top secret Informationen, wenden Schaden von der Heimat ab und dürfen außerhalb der Gesetze handeln. Gut, dürften sie nicht, aber was man im Geheimen tut, weiß ja keiner. Blöd nur, wenn's rauskommt. Grade eben hat der BND wider Recht Journalisten bespitzelt. Wir hörten von CIA-Affären, Secret Service, Mossad, KGB, Dreyfus, Watergate, Guillaume, natürlich von der Stasi und und und - es nähme Wunder, hätten Autoren das Sujet nicht längst schon entdeckt.
Die Welt diskutiert, kann Daniel Craig wirklich Bond, James Bond sein? Realität und Fiktion gehen ineinander über. Lawrence von Arabien existierte und auch der "Spion des Lawrence von Arabien" (Aufbau). Richard Andrews zeichnet das Bild von Aaron Aaronsohn: Bauernkind, Forscher, Spion und Friedensdelegierter 1919. Ein Mensch und sein Beitrag zur Weltgeschichte, nicht länger geheim. "Florence von Arabien" (2001) ist eine Fantasiegeburt von Christopher Buckley, und dieser Autor denkt tatsächliches Geschehen weiter. Über Irak, Golf und Öl wird selten verhandelt, Weltmächte schaffen Tatsachen und vernichten die Achsen des Bösen. Florence Farfaletti hat die Idee, Frauenrechte in den arabischen Staaten via Fernsehfunk zu stärken. Das gelingt, TV Matar schafft Explosionen, und das Team hat's schwer, die Demokratie auf diesem Wege einzuführen. Das Buch "ist eine schonungslose Attake gegen die amerikanische Unfähigkeit und arabische Intoleranz. Es ist Christopher Buckleys witzigster und zugleich ernsthaftester Roman, eine scharfe Satire darüber, wie Amerika seine guten Absichten in den Wüstensand setzt." Zimperlich geht Buckley mit Personen, religiösen Gefühlen und internationaler Politik nicht um. Ob die Präsentation dieser Lächerlichkeit zu realem Dialog führen kann, bleibt zweifelhaft. Festzustellen bleibt jedoch, je absurder die Geheimdienstaktionen, desto entspannter der Leser.
Fettarsch ist kein schöner Name. Ganz und gar nicht. "Jaime Bunda, Geheinmagent" (Unionsverlag) versucht ihn mit Würde zu tragen. Bunda sitzt als ewiger Praktikant im Bunker, der sekretesten aller Polizeien in Angola. Und dann bittet ihn der Chef um Aufklärung eines Mädchenmordes. Jaime macht sich begierig an die Recherche und macht alles falsch. Das aber führt zu ungeahnten Erfolgen. Autor Pepetela heißt im wirklichen Leben Artur Carlos Maurício dos Santos und weiß, wovon er uns berichtet. Er war Kämpfer, Sieger, stellvertetender Minister und ist Professor für Soziologie an der Universität in Luanda. Pepetela gibt ungewohnten Einblick in die Unterwelten des schwarzen Kontinentes und dessen Politik. Im sicheren Mitteleuropa sind die Macht-, Wirtschafts- und anderen Verhältnisse der Staaten Afrikas kaum der Rede wert. Manchmal übernimmt Literatur solche Aufklärungsarbeit. Sie hat den Vorteil, dass sie nicht die Fakten trocken liefert, sondern in einer spannenden Geschichte. Hier jedenfalls. Wer hat denn wirklich was von Angola gehört, außer dass sie dort auch Fußball spielen und sich für die deutsche WM qualifizierten?
Wir hatten Spaß und Unterhaltung und wissen, geheime Bücher stehen auch weiterhin auf unserem Lektürezettel. David Baldacci zum Beispiel erzählt ungemein spannend. "Im Bruchteil einer Sekunde" (Bastei Lübbe) stirbt Sean King. Nicht wirklich, er konnte den ihm anvertrauten Politiker nicht schützen. Nun soll er wieder undercover Leben retten, kann er's, will er's? Was Bond, James Bond als Mann, ist Modesty Blaise als Frau im Gewerbe. Bei der "Operation Säbelzahn" (Unionsverlag) geraten sie und ihr Partner in den internationalen Strudel von Kunstbetrug und an viele Orte dieser Welt. Geheimdienste operieren außerhalb der Grenzen und darinnen. Allen gemeinsam aber ist, dass ihr Tun nicht nur zu besten Geschichten Anlass gibt. Tatsachen allerdings machen selten Lachen. Die Bücher von Opfern, die wirklich in die Fänge der Dienste gerieten, schockieren. Andere berichten von den fehlgeschlagenen Aktionen, die Demokratie und guten Absichten zutiefst widersprechen. Die Dienste im Geheimen, ewiger Anlass und stete Vermutung. Unser Misstrauen überwiegt. Wie war das mit dem BND und parlamentarischer Kontrolle? Doch lesen wir die Geschichten immer und immer wieder. Die guten und die schrecklich wahren.
Worte, um es zu sagen
"Die schöne list, uns schönstes zu verbieten, / hat unser fleisch erst wirklich aufgeweckt." Der Sündenfall vertrieb uns aus dem Paradies, und doch gelingt es, es manchmal wieder zu erlangen: Wir können lieben. Schlager und Pop, Sonaten, Sonette, Romane, ... Liebe bleibt Thema Nummer eins. Gar mancher saß am Pult und ihm fehlten die Worte. Sie gerieten banal und in den Kitsch, sie trafen die Gefühle nie. Schreiben über die Liebe eigene Kunst. Andreas Reimann ist einer, der diese Kunst wahrhaft beherrscht. Seine "Liebesgedichte" (Edition Wörtersee) beschreiben uns und unsre Emotionen besser, als wir es je könnten. Vor der Liebe und danach, die Einsamkeit, die Suche, das Finden, die Angst zu verlieren: "Hätte ich keinerlei not, / wär ich am end." Reimann ist einer der Wenigen, deren Lyrik wir wirklich lesen und lesen wollen. "Und Rotwein rauscht an meiner Seele Süden" (dr. ziethen) sind Reimanns italienische Reisen. Diese Sonette sind nicht nur Wort-, sondern auch Formkunst, solche uns der Lehrplan kaum noch nahe bringt. All die Großen schrieben nach den strengen Regeln. Lesen wir Reimann, verschwindet das enge Korsett des Gedichtes und dieses des Lebens, und doch ist es da. Wir lassen uns gehen und fallen, vergessen "Ich weiß kein wann, kein wo und kein warum ..." Gebt euch die Lyrik! Zeiget die Liebe!
Darüber sprechen wir nicht! Beate Lakotta und Walter Schels brachen das Tabu. Sie interviewte. Er fotografierte. Eine Ausstellung zeigte "Noch mal Leben vor dem Tod" (tacheles). Auf der CD geben die Autorin und Matthias Brandt diesen letzten Worten Ausdruck. Ein Booklet zeigt Bilder des Sterbens und die danach. Wir sind berührt, beeindruckt und haben Hoffnung. Tod gehört zu jedem Leben, auch dem unseren. Der natürliche Umgang damit fällt uns schwer. Kein Weg führt daran vorbei. Der Tatsache müssen wir uns stellen! Es kommt die Zeit. Die Helden des Buches sind nicht mehr, wir haben sie kennengelernt, ihr Leben, ihren Kampf, ihren Mut. Der Tod ist kein Tabu. Warum das Sprechen darüber?
Die Experten rätseln und rätseln: Wer war Jack the Ripper? Hendrik Püstow und Thomas Schachner sezieren jetzt die Legende und nennen die Männer hinter dem Namen des Grauens. "Jack the Ripper" (Militzke) schlitzte anno 1888 fünf Damen des Gewerbes zu Tode und entnahm menschliches Material. Plötzlich endete die Mordserie so schnell wie sie kam. Einen Täter konnte Scotland Yard nie überführen. Generationen von Detektiven und Autoren haben es seitdem versucht. Die große Unbekannte bleibt unbekannt. Prüstow und Schachner sammeln die Fakten, sie vermuten nicht. Wir können uns die Meinung bilden. Wer steckt hinter dem Namen? Ein Rätsel besser als die von Agatha Christie, nur am Ende die Erkenntnis: Wir lösen es nicht.
Die Technik macht's möglich: Per Mausklick geraten schöne Fotos zu Pixelbildern. Verblüffende Reduktionen gelingen da. Man erkennt sich selbst nicht wieder. Craig Robinson hat Prominente auf die Art und Weise verfremdet. Und wir erblicken beim ersten Hinsehen nur bunte Punkte und suchen den Namen. Mit diesem haben wir dann das Vergnügen: Michael Jackson, Pierluigi Collina, Kate Moss, Che, Jesus, gar die Beatles - sie sehen alle nicht anders aus als wir. Wir haben uns gut mit den "Minipops" (Eichborn) unterhalten und schenken sie weiter. Wenn man nicht weiß, was man schenken soll, ist's Buch bestens geeignet.
"Es ist immer heute"
"Wenn der Abend die Herzen trocken legt, vertreibt Heimweh Ungewissheit" - Das Leben bietet Situationen, Abschnitte und Begebenheiten, wo wir nicht anders können, als sie aufzuzeichnen. "Nach dem Sturm im Kopf das Erlebte einfrieren. Verdichtendes Zuspitzen. Merk-Würdiges. Stimmungsbilder. Ohne erkennbare Handlung. Weitestgehend, im weitesten erweiterten Sinne. Wenn es doch irgendwie gepaßt hat. Be- und Umschreibungen von Natur und Gefühl. Außen- oder Innenwelten. Liebe und Beliebigkeit. Bei weitem. - Nein. Und doch: Zartes Entsplittern. Das Aufstellen von Buchstaben wie Härchen auf dem Arm. Augen, Blicke. Regungen be- und erzeugen." Der Dresdner Worthandel : Verlag verschreibt sich solchen "Momentaufnahmen in Dichtung" und präsentiert uns eine "Anthologie junger Menschen", unkonvontionell illustriert von Franziska Müller. Enrico Keydel hat Texte von 21 Autoren ausgewählt und bietet einen Einblick in Seelenlandschaft, Gedanken und Emotionen, der uns einlädt, selber Worte zu finden. Das verpflichtet uns keineswegs, Schriftsteller zu werden. Aber wir erleben, wie Worte in uns wirken können. Schön, daß der Verlag mit dieser Sammlung die Stadtgrenzen sprengt und sich deutschlandweit das Feld der Literatur erobert. Wortwütige braucht dieses Land, um nicht unter den gestanzten Sprachschablonen der Schaumschläger zu ersticken: "vergesst sie alle / diese lügner / die kaum dass sie sprechen / ihre wahrheit des schweigens / verleugnen".
Der Herr Schätzing hat die Bedrohungslage erkannt und über unsere Urängste einen Wälzer geschrieben, der Millionen begeistert: Das ist "Der Schwarm". Wale, Würmer und Getier spielen nicht mehr mit mit uns Menschen und holen aus zum Gegenschlag. Pole schmelzen. Fische mutieren zu Mordwaffen. Und überhaupt, ist die Welt dem Untergang geweiht. Rächt sich da der Schöpfer höchst selbst? Im hörverlag erschien die funktechnisch adaptierte 723-Minuten-Fassung dieses Reißers. Konzentriert und phantasievoll umgeht diese die Längen der Beschreibung, und wir sind gewillt uns auf das Untergangszenario einzulassen. Sprecher und Regisseur sind in Bestform.
Malle ist des Deutschen Lieblingsinsel, da fühlt er sich wohl. Auch Sebastian F. Alzheimer ist vom Paradies fasziniert und präsentiert uns einen "Mallorca-Reigen" unterm Titel "Kreisverkehr". Klar sind alle Klischees darinnen von Discohühnern, Bierbuben, Kamera-Touristen und besorgten Vätern. Doch läßt der Autor hinter die Fassaden des Vergnügens blicken, und die sind bei aller Ablenkung trist. Kinder leiden unter Ehekrisen. Animateure machen Spaß zu lahmem Spiel. Ein bisschen ist das Buch wie Urlaub: In fremder Gegend gewesen. Erholung erzwungen. Liebe gemacht. Der Frust kommt eh wieder. Malle aber auch.
P.D. James ist Jahrgang 1920 und die Queen of Crime. Combe Island liegt vor Englands Küste und bietet der upper class unbeschwerten Aufenthalt. Ein Bestseller-Autor quält die Mitwelt und hängt eines Morgens unterm Leuchtturm. Der Kommissar erkennt "Wo Licht und Schatten ist" (Droemer) und überführt den Mörder gewohnt gekonnt. Sicher, den Drive und die Abartigkeit heutiger Reißer bietet die Autorin nicht, aber Krimikunst bester Tradition. Und die haben wir gern.
In Leipzig wurde Revolution gemacht, behaupten Leute. Das klingt wie Sturm auf die Bastille oder Winterpalais. Wenn die oben nicht mehr können, und die unten nicht mehr wollen, passiert was. Richtig. Reinhard Bernhof beschreibt die "Innenräume einer Revolution", die sind unspektakulärer als vorgestellt, deshalb jedoch nicht weniger staatsstürzend. Der Autor schildert den "Herbstmarathon" (Plöttner) und seine Mitwirkung oder Teilnahme oder Anwesenheit. Die Tage der Windstille und Massenaufläufe werden lebendig. Wenn auch manches Protokoll zur Geschichte unerwähnt bleibt, Räume hat man gesehen vom Vorzimmer der Macht bis hin zu Küche und Kirche.
Unheimlich mögen wir es. Auch deutsche Federn schrieben so. Gustav Meyrink ist ein Klassiker und sein "Golem" Weltliteratur. "Das grüne Gesicht" (dtv) weckt beklemmende Visionen, die sich von Realität kaum unterscheiden: Cafés, Kaschemmen, Varieté, Spelunken, Spekulanten, Diebe, Nutten und Narren … die Welt tanzt am Abgrund. Grund genug, sich Fixpunkte im Leben zu suchen. Und so gerät die junge Liebe von Fortunat und Eva in einen Strudel der Ereignisse, der sie kaum wieder auftauchen läßt. "Wie ein Januskopf konnte er in die jenseitige und zugleich in die irdische Welt hineinblicken und ihre Einzelheiten und Dinge klar unterscheiden: er war hüben und drüben / ein lebendiger Mensch."
"Wenn Männer sagen wollen 'Ich liebe dich', dann kommt raus: 'Ich ruf dich an' (antworten Sie darauf am besten mit: 'Ich dich auch.')" Philipp Tingler ist ein intelligenter, witziger und scharf beobachtender Autor und somit selten. "Juwelen des Schicksals" (Kein & Aber) vereint kurze Prosa: Literaturbetrieb und nukleare Wissenschaft, Homoehe und Reizdarm, Rökk und Rock, Sehnsucht und Sex - nix, worüber sich Tingler nicht Gedanken machen könnt. Und er macht sie sich. Wir haben das Vergnügen. "Das pausenlose, fortgesetzte, unentwegte Baucheinziehen ist überhaupt das Allerwichtigste im Leben, denn es ist die Voraussetzung für alles andere: Beliebtheit, Ruhm, Doktortitel." Das ist fein beobachtet und dieser Tingler - ein Juwel.
Nu, da schreiben Frauen Sachsenkrimis und geben glei ma ä Rezept dazu. "Mördorrisch legger!" heeßts Buch, und uns will scheinen, viele schriebn übern Osten wie wir weilend über Amerika. Nie gesehen. Nie gehört. So sprechen wir in Sachsen einfach ni, solch Dialekt kommt großteils aus dem Lexikon. Und Neuschwanstein steht in Leipzig? Hammer nor gar ni gewusst. Ganz blöd allerdings, viele der Grimmis sind dermaßen dämlich, dass man sich hinterher über die Lesezeit ärgert. Nee, ä guter Beginn war das ni für die Reihe "Tatort Ost" im Mitteldeutschen Verlag, Halle an der Saale.
Ahmad meint, in zwanzig, dreißig Jahren wäre der Krieg überstanden. Und einem Pathologen wird eine junge Frau zum Überraschungsei: Wenn nicht beim Selbstmordattentat, wäre sie nur Tage später elendiglich am Krebs verreckt. Das Leben ist grausam. Die Gegenwart stellt Dageweses noch in den Schatten. Etgar Keret und Samir El-Youssef meinen "Alles Gaza" (Luchterhand) und geben einen Blick ins normale Leben in der Krise. Das ist absurd, witzig, schrecklich und sehr menschlich. Ein bisschen lernen wir verstehen. Augenscheinlich: Literarisch funktioniert der Dialog, und Gewalt ist kein gutes Argument.
Manch Lesenswertes erscheint abseits des Mainstreams. Die Edition Solar X ist (nach dem Tod des Fanzines) einer jener Verlage, die fast im Verborgenen arbeiten und doch stets wieder zu verblüffen wissen. Erhard Eller schildert uns die "Endzeit" in Geschichten. Einem Helden zerfällt das Gehirn, doch Professor Bellocq liefert "Die Erfindung", daß es die Zeiten überdauert. Matilda liebte, und jene Liebe zieht sie schließlich durch den "Spiegel". Das ist dunkle Fantasie bemerkenswerter Güte. Mr. Lovecraft grüßt den Hallenser Erhard Eller freundlich. Und die Edition Solar X unterstreicht ihren Ruf, Qualität zu liefern, wo sie niemand vermutet. Spiritus Rector Wilko Müller sei Dank.
Grauen in Serie
Frank Braun muß einfach raus aus dem Einerlei des täglichen Stumpfsinns. Das Val di Scodra bietet alles, hier kann der Stadtmensch vergessen. Der Wirt hat den Wein. Die Alpen bieten den Auslauf. Und Teresa ist Jungfrau, Frank bringt ihr die Liebe bei. Vor Ort verehren die Menschen den lieben Gott auf eine sehr eigene Weise. Teresa verfällt dem religiösen Wahn, und Frank kann sich vorstellen, aus diesem Wunderglauben des Naturkinds Kapital zu schlagen. Val di Scodra stünde dann in einer Reihe mit den großen Wallfahrtsstätten dieser Welt. Teresa empfängt die Offenbarung. Gläubige zahlen, und Touristen, die zahlen auch. Doch der Traum vom schnellen Geld wird im rituellen Blute gemetzelt, Frank Braun muß um sein Leben fürchten.
"Der Zauberlehrling oder die Teufelsjäger" erschien im Jahre 1909 und war Hans Heinz Ewers' erstes Werk, nicht nur die intellektuelle Bohéme diskutierte den Roman. Doch seit 77 Jahren war das Buch vom Markt verschwunden. Warum? "Waren es die behandelten Themen: Sadomasochismus, Kindesopferung, Kreuzigung einer Schwangeren, Flagellantentum, Vergewaltigung, Blutdurst, Hypnose, religiöse Ekstase, Kirchenbrandstiftung, Wunderheilung, Epilepsie, Unzucht mit einer Ziege, Rassentheorien, Okkultismus? War es der bizarre Lebenslauf von Ewers, der, ursprünglich Anarchist und Kosmopolit, später deutschnational, noch später nationalsozialistisch und schließlich ausgegrenzt wurde? War es vielleicht auch nur die Rezeption seiner Werke, die 1933 einhellig von links bis rechts 'pervers' lautete und Ewers von 1934 bis zu seinem Tode das Schreib- und Publikationsverbot bescherte? Oder ist es die bis heute andeuernde Aktualität des Themas 'Sekten'?" Jetzt erschien der Psychoschocker bei area. Damit setzt der Verlag weiterhin auf den Horror außerhalb des Mainstreames, wer diese Bibliothek sammelt, hat das Best of des Genres von Beginn an im Schrank. Wir harren der nächsten Ausgrabungen und Neuentdeckungen. "Der Mensch ist ein Abgrund. Es schaudert einen, wenn man hinabblickt."
Schrecken der anderen Art versprechen die funny crimes bei Shayol. Richard Betzenbichler ist ein Mann vom Fach und präsentiert uns mit Joe R. Lansdale programmatisch zu Beginn einen der großen Namen. "Wilder Winter" ist die erste Katastrophe, in die Hap & Leonhard geraten. Haps Ex ist einfach mal geil und verspricht Hunderttausende, wenn die beiden ihr helfen, Geld aus dem Sumpf zu bergen. Leonhard, schwarz, schwul und Vietnamveteran, hat sofort seine Zweifel. Und es dauert nur kurz, da sitzen die Freunde in der Scheiße bis unter die Augen. Auf das illegale Geld sind auch Revoluzzer, Gangster und Gesocks begierig. Aber "was du einmal besitzt, gib es nie wieder her". Da wird gelogen, geschossen, geschlagen, gebissen, getötet. Aber die funny crimes wären nicht funny, wenn wir nicht wirklich was zu lachen hätten. Ehrlich, das macht schon Spaß.
"Evil" dagegen ist das Böse an sich. Jack Ketchums Roman lotet die Grenzen des Erträglichen aus. "Disney Studios wird nie einen Roman von Jack Ketchum verfilmen. In Ketchums Welt sind die Zwerge Kannibalen, den Wölfen geht nie der Atem zum Schnaufen und Keuchen aus, und die Prinzessin landet zuletzt an einen Balken gefesselt in einem Atombunker, wo ihr eine Wahnsinnige mit einem Bügeleisen die Klitoris wegsengt." David ist keine vierzehn und verliebt in die Megan. Die ist Waise und mit ihrer Schwester bei Ruth und ihren Söhnen untergekommen, und Meg ist die Lebenslust an sich. Die verbitterte Ziehmutter kann diesen Spaß am Dasein nicht ertragen. Sie macht Megan das Leben zur Hölle. David steht daneben und unterschätzt die Katastrophe. Nein, gängige Lektüre ist dieser Roman nicht. Literatur ist er trotzdem, "als hätte Clive Barker 'Der Herr der Fliegen' geschrieben". Ich kann alle verstehen, die sich ihm verweigern, der Horror ist hardcore. "hardcore" auch der Titel der neuen Reihe des Heyne Verlags. Unvorstellbar, was da auf uns zukommt, wir warten begierig.
Der blanke Horror ist jedermanns Sache nicht. Doch scheint gerade dies Genre die Widerwärtigkeiten der Gegenwart am treffendsten wiederzugeben: Flüchtlinge vor Lampedusa ertrunken. Nine eleven. Abu Graib und Guantanamo. Kofferbomben. Beslan und Schule Nummer eins. In Hamburg ist Jasmin verhungert. Pascal soll in Saarbrücken in Serie vergewaltigt worden sein. In Leipzig fuhr René die tote Freundin ein halbes Jahr im Trabant spazieren. Natascha Kampusch. Selbstmordkommandos ... Des Grauens kein Ende. Die Grenzen des Erträglichen sind längst überschritten. Die neuen Buch-Reihen lassen uns darüber dikutieren. In unseren Zeiten das Schlechteste nicht.
Manches bleibt unvergessen, vor allem die Musik, die man in jungen Jahren hörte. Jahrzehnte später ist man geneigt zu lächeln, das Heute scheint wie das Gestern. Liz, Marcia, Maizie und Bobby sagen uns als Namen wenig, als Boney M. verkauften sie 175.000 Singles täglich. Jetzt legt uns Schwarzkopf & Schwarzkopf das Fotoalbum von Didi Zill auf. Wir sehen sie wieder die Cover und die Bravo-Seiten, die Stars privatim und die Stars auf der Bühne. "Rasputin" und "Daddy cool" und "Brown girl in the ring" und "Elute". Ist nichts für Euch? Ein Hingucker für Eure Eltern ist's allemal. Und in zwanzig Jahren sprechen wir uns wieder. Ob die Alben von US 5 oder den Superstars auch Wälzer werden, könnte bezweifelt werden. (Hoffentlich werden sie's nicht ... - Anm. rls)
Kult ist ja manches. Der Papst und Schokoriegel, Marlene und die Biene Maja. Auch der Krimi ist Kult, vor allem der alte. So präsentiert uns der hörverlag die "Krimi-Kult-Kiste", das sind Radio-Schmeckerchen anno 1960, als Hörspielmachen Kunst und Liebe war und keine Daily Soap im Vorabendprogramm. Die Kiste vereint drei Geschichten in Folgen, die heute Klassiker sind, wie die Namen der Autoren. Rolf und Alexandra Becker, Lester Powell und Francis Durbridge. Dessen "Melissa" (Aufbau) steht grad zum Wiederlesen im Buchregal. Wir greifen zu.
Kult zum zweiten: Dr. Mabuse. Das ist jener, der die Gehirne anderer manipuliert. Norbert Jaques schuf 1921 den Prototypen des genialisch bösen Wissenschaftlers. Fritz Lang setzte die Wahnsinnsgeschichten filmisch um. Im Nachkriegsdeutschland ließ sich mit dem literarischen Dämonen Schuld und Vergangenheit bewältigen. "Die 1000 Augen des Dr. Mabuse" (Lido) vereint alles. Susa Gülzow läßt uns den Film im Hörspiel hören, das schafft Phantasie. Und dem Kult kein Ende: Peter van Eyck, Werner Peters und Gert Fröbe, das waren Stimmen, die Geschichte schrieben. Schön, sie zu hören.
Vergangenheit fasziniert. Der historische Roman wird gelesen. Manche Autoren setzen auf reine Vorstellungskraft, andere recherchieren und denken sich die Geschichten dazu. Carlo Feber hat recherchiert. Anno 1447 liegt der Leinenhandel in Osnabrück brach. Der Prüfer ward mit einer Flachshechsel gemeuchelt. Neben dem Kriminalfall wird das Leben in jener Zeit deutlich. Stinkende Gassen, marodierende Banden, Krieg, Belagerung, Schande des vorehelichen Sexes. Ehe "Die leinenweiße Braut" (Hanser) zur Liebe findet, erhalten wir ein anschauliches Bild der Stadt im Mittelalter. Und die Vornamen der Helden sind wert, wieder im Geburtsregister verzeichnet zu werden: Kaspar, Gerhild, Ertwin, Reimer, Eisel. Schöne Namen, eine schöne Geschicht'.
Der alte Mann zählt knapp hundert und schaut aus, als würden an ihm Chirurgen Millionen verdienen. Sie tun es auch, die blauen Augen hat man ihm gerade erst transplantiert. Nun hat der alte Mann ein Problem, seine Tippse ist weg und mit ihr vertrauliches Material. Muss er sie suchen lassen. Hört sich an wie'n Krimi, nur führt dieses Mal die Spur ins All. "Der letzte Detektiv" (hörverlag) steht noch für Werte, doch modernes Leben lassen die kaum zu. Michael Koser gelang mit der Serie ein heiter melancholischer Blick auf die legendären Seiten der SF und Kriminalliteratur. Bei Folge II "Safari" wird der letzte Detektiv selbst zum Abenteuerspielplatz. Leider landen wir nach 'ner Stunde wieder vorm CD-Player. Das Spiel ist vorbei. Irgendwie schad.
Das Kind im Menschen stirbt nie. So lesen wir immer wieder die Märchen, die uns Oma schon vortrug. Božena Nemcová schrieb ihre eigene Version "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" (Eulenspiegel). Nun können wir das Werk auf den Gabentisch legen, nicht nur zu Weihnachten fernehen. Die Bilder der Filmlegende illustrieren das Büchlein. Die Zehre steht uns im Auge, wenn das Paar über den weißen Schnee reitet.
Auch Goscinny und Sempé haben das Kindsein nie verlernt. "Der kleine Nick ist der Beste" (Diogenes). Als wir zur Schule gingen, haben wir nie festgestellt, wie wunderbar die Zeit. Die Freunde einzigartig. Sie gründen "Die Unbesiegbaren" und sind eine fürchterliche Bande. Der Lehrer verbietet "Das schlimme Wort", Mutti spricht's aus. "Kreuzworträtsel" machen Vater Spaß, solange er Antworten weiß. Aber Nick entdeckt andere Methoden, die Kästchen zu füllen. Die Geschichten werden Klasse von Rufus Beck vorgelesen, besser aber, selber vorlesen. Kinder kennt ihr doch, die werden staunen, daß ihr über Kindergeschichten richtig lachen könnt, genauso wie sie.
Schmähten bislang Krimiautoren (fast) das Sachsenlande, scheint sich der Freistaat in letzten Jahren verbrecherisch zu mausern. Auch in Claudia Puhlfürsts dritten Buche quält ein böser Mann blutjunge Mädels. Das ist nicht fein und "Dunkelhaft" (Gmeiner) schon gar nicht. Die Versatzstücke einschlägiger Massenware - Schule, Sex und ein Perversling - werden verhackstückt, Innovatives bietet auch dieser Roman nicht. Allerdings sind uns die mörderischen Wege zwischen Radebeul und Zwicke sehr nah, die könnte man wirklich mal wieder aufsuchen.
Die "Mörderische Hitze" (Aufbau) gleißt in Dresden. Ein Schreiber der Lokalredaktion liegt tot auf Pieschens Straße. Der Verdacht fällt schnell auf dessen neuen Chef, der heißt Andy und ist Kirstens Bertrams Lover. Logo, die Freundin nutzt ihr privatdetektivisches Talent und gerät auf Dresdens Kinderstrich und in andre dunkle Winkel. Beate Baum hat die sächsische Residenz fest im Krimigriff. "Mörderische Hitze" ist bereits das dritte Werk in Folge, und wir anerkennen Plot und guten Stil, am liebsten ist uns aber, daß der Putz von Dresdens bürgerlichen Fassaden gekratzt wird. Das Darunter erschreckt. Die Wirklichkeit auch.
Nun ist es wieder soweit, und der Rezensent ist sich gewiß, wenn nix mehr geht, gehen Bücher auf dem Gabentisch. Und wahrlich für alle ist etwas dabei.
Zuförderst ein gediegen Büchlein "Weihnachtsgedichte" (Reclam). Denn wir wissen, bevor der Weihnachtsmann den Sack auftut, muß der Beschenkte rezitieren: "Allein aus freiem Herzen kommt Geschenk, das einem jeden frommt." Da stehen sie drin, die Klassiker und solche, die es werden könnten. Denn immer nur "Draußen vom Walde ..." frommt dem Weihnachtsmann nicht. Also drin blättern und lernen!
Für die Statistiker des Absurden hat Ben Schott in "Schotts Almanach 2007" (Bloomsbury) allerlei zusammengestellt: Internationale Inhaftierungsquoten, die Skala der Tornadostärken, Impftermine oder die Tänzer des Jahres. Tja, da weiß man, was man nicht zu wissen braucht, aber womit man beeindrucken kann: Deutsche Bibliotheken haben Ř 50,1 h/Woche geöffnet. Toll! Übrigens ist Schotts Sammelsurium in Nähe des Fernsehsessels zu empfehlen, falls das TV mal langweilt.
Apropo Film. Der Bond, James Bond, ist jetzt blond. Grund auch für Siegfried Tesche, die top secrets und "Die Welt des 007" (Militzke) näher zu besehen: Drehorte, Starlets, Budget, Lizensen, Brüder und Schwestern. Der Fan muß da durch, doch die meisten Fakten wurden schon mal gedruckt und gelesen und doch finden sich neue Details, vor allem Fotos. Etwas anders ist es mit dem Phänomen Italowestern. Ulrich P. Bruckner recherchierte "Für ein paar Leichen mehr" (Schwarzkopf & Schwarzkopf). Auch ein fettes Kompendium für den Interessierten, und es wird das oft gescholtene Brutalogenre in den Zusammenhang gerückt. Das ist wie im Leben, zwischen manchem Billigmüll existieren Diamanten. Kann man lesen, soll man gucken!
Der große Bruder Sowjetunion existiert nimmer, und das neue Russland verblüfft uns stets wieder mit schwer nachzuvollziehenden Entscheidungen. Das geht den Menschen dorten nicht anders. Ihnen fehlen die Fixpunkte im Dasein. Viktor Pelewin spiegelt "Die Dialektik der Übergangsperiode von nirgendwoher nach nirgendwohin" (btb) eigner Roman-Art ab. Mystik, Banken, Politik - wie ist das Leben im Schwebezustand der Gesellschaft möglich? Das fragen sich auch a Huli und Alexander und konsultieren "Das heilige Buch der Werwölfe" (Luchterhand). Sie erreichen ob der Lektüre zwar ungeahnte Extasen, doch kann solcher Lustgewinn Gefühle ersetzen? Auch hier erweist sich Pelewin als Magier, der aus den Bruchstücken der postkommunistischen Gesellschaft ein kunstvolles Mosaik zusammensetzt. Das ist Literatur, so wie man sie sich wünschen kann.
Magisch erzählt Patrick McGrath von Manhattan als "Ghost Town" (Berlin) und unterstreicht erneut seinen Ruf als Erzähler von Rang. New York in Bürgerkrieg und Liebe, in Nine-Eleven und Literatur. Etwas mehr am Mainstream weiß uns Ray Bradbury zu begeistern. "Schneller als das Auge" (Diogenes) zeigt postum in erstmals übersetzten Geschichten alle Facetten des Meisters: Horror, Krimi, SF und anderes mehr. Phantastisch auch die "Unheimliche Gesellschaft" (S. Fischer) von Carlos Fuentes. Sie vereint sechs Erzählungen. Nichts ist so wie es scheint, und nichts scheint so wie es ist, und erklärbar ist letztendlich nix, nicht verschwundene Personen auf Fotografien, nicht alte Damen, die neben der Welt existieren. Damit allerdings ist der Autor näher am Leben, als so manche politische Rede.
Peter Zudeick begleitet seit Jahren unsere Menschen in der Politik. Allmonatlich können wir seine satirischen Rückblicke via mdr vernehmen. Das wäre lustig, wenn es nicht so ernst wäre. "Das Politpanoptikum" (rororo) beleuchtet die Performance 2006. Das ging ja schon schweinegut los mit der Rede von der Angie anno Neujahr. Und dann der Georgie, wie der der Kanzlerin den Nacken massiert und Spanferkel isst. Und erst der Fußball mit Poldi und Schweini, da werden Sommermärchen war. Leider ist Bevölkerung mit so einfachen Sprüchen nicht zu begeistern. Terrorgefahr in der Mozartoper, Gammelfleisch in kühlen Theken, Bruno der Problembär stirbt - da lacht Deutschland oder eben nicht. Was wir drüber erzählen könnten! Doch noch schöner der Zudeick.
"Däckong!" Walter Moers hat sich um political correctness nie geschert, und das ist gut so. Seine Hits von Blaubär, altem Sack bis Jesus sind uns Bücherfreunden lieb. Seit Hirschbiegels Film "Der Untergang" wissen wir ja auch, wie's war in den letzten Tagen drittes Reich. Denkste. Jetzt erzählt Moers seine Deutung des Geschehens. "Der Bonker" (Piper) zeigt "Adolf, die Nazisau" und seine Gespielen von Eva B. bis Göring, aber auch den verderblichen Einfluß von Pop und Papst und Rühmann und einer Flasche Chantré. "Äch moß doch sehr bitten!" sagen die Hüter des guten Geschmacks, wir sagen mehr davon. Mit den beigelegten Fingerpuppen haben wir lange gespielt und herzlich gelacht. Danke.
Über manche Menschen muß man einfach mehr erfahren. Und desterwegen setzen sich Autoren hin und recherchieren andrer Leute Leben. Theodor Kissel trieb es zum "Kaiser zwischen Genie und Wahn" (Artemis & Winkler). Caligula, Elagabal und Nero sind uns als antike Gestalten im Bewußtsein. Sie taten Unvorstellbares: Meuchelten Menschen in Rosen, gaben Pferden politische Ämter oder brannten Rom einfach nieder. In echt! Thomas Freller dagegen haben die "Magier, Fälscher, Abenteurer" (ebd.) im 18. Jahrhundert fasziniert. Obrigkeit und Massen sind leicht hinters Licht zu führen. Peinlich, so funktioniert das heute auch. Nicht nur deshalb erfahren wir gern Exaktes über Menschen Tat und Untat in Biografien.
"Spiel'n Se nor weitor; Herr Paganini, nähm' Se keene Rücksicht off en mieden Keenich." So wehrt der sächsische Monarch der Provokation des Wundergeigers. "Der Teufel in Dresden" (Faber & Faber) vollzieht den Besuch des italienischen Musikberserkers anno 1829 in der Residenz nach. Ein historischer Roman interpretiert die Fakten, sie könnten so gewesen sein. Erstaunlich gut trifft Autor Klaus Funke Zeit, die Charaktere und Gefühl. Und neben Unbekannten treffen wir auf Namen der Geschichte wie Tieck und Schröder-Devrient. Erneut erweist sich der Autor als Kenner Musik und Beherrscher der Sprache. Toll.
Leipzig kommt derzeiten verbrecherisch literarisch davon. Mit "Lerchen und Löwen" (mdv) startet Stefan Haffner eine Serie um Helden nach der Völkerschlacht. Im Ansatz rechtschaffen, in der Ausführung ungekonnt, kann uns dieser Roman nicht begeistern. Die Story zu winzig, die Charaktere zu schablonenhaft. Der Verlag verheißt einen "Reigen, dessen Hauptdarsteller das historische Leipzig selbst ist". Das hat die Stadt nicht verdient, und dem Verlage sei geraten, die Reihe "Tatort Ost" unter lektorische Kuratel zu stellen, bislang sind dorten keine Krimis sondern nur kriminelles Geschreibsel erschienen.
Ordentlich im Krimihandwerk schreiben Autoren von der britischen Insel. Lynda La Plante ist eine solche und beweist mit "Süß wie der Tod" (blanvalet), daß ein Krimi nicht tausend falscher Spuren bedarf, Realitätsnähe kann ebenso Spannung schaffen. In diesem Falle von Serienmord scheint ein Star der Leinwand schuldig. Unvorstellbar? Ganz in Tradition der Krimiklassik kommt uns "Mord auf ffolkes Manor" (C.H.Beck). Weihnacht 1935 und eine illustre Schar beim Abendmahl des Colonels. Die Lektüre ein Vergnügen für Intellekt und Sprachgefühl. Autor Gilbert Adair hat bereits anderweitig Kunstwerke verfaßt. Hier tat er Kunst, wo sie kaum einer vermutete: Krimi at his best!
Revolution, Verbechen, unbekanntes Land
Ja, wir haben von den Befreiungsbewegungen auf dem Schwarzen Kontinent gehört. Sie verliefen meist blutig, weil Kolonialmächte Macht behalten wollten. Auch in Algerien herrschte Krieg, um die Franzosen aus dem Land zu treiben. Die Einführung der Demokratie gestaltet sich schwieriger als erhofft, und wir vernahmen das Gespenst vom Erstarken des islamischen Fundamentalismus auch dort. Dies ist die gesellschaftliche Folie, vor der die Handlung spielt. Yasmina Khadra ist der Autorenname, der hinter die Kulissen dieses Staates blickt. Ein Kommissar kämpft gegen die Schmarotzer im System und gegen die wahrhaft Kriminellen. Llob heißt dieser Kommissar in Serie und ist weltweit anerkannt. Seine ersten Fälle sind im Sammelband erhältlich beim Unionsverlag. Auch in der "Nacht über Algier" (Aufbau) verfolgt Khadra das Ermittlerteam. Auch hier führt das Verbrechen in höchste Kreise der Politik, weil nämlich in den Wirren einer Revolution nicht nur die Helden einträgliche Posten verpaßt kriegten. Da kommen ganz zwielichtige Gestalten an die Macht. Der Kommissar hat schwer zu kämpfen und weiß nicht, ob er vor der Allmacht des Bösen kapitulieren muß, denn beinah jeder möchte die unliebsamen Wahrheiten (auch aus der Vergangenheit) nicht hören. Yasmina Khadra ist ein Pseudonym, da die Romane in Algerien der Macht mißfallen. Mohammed Moulessoul war Offizier, ehe er die Heimat verließ, verlassen mußte. Er weiß zu erzählen und bringt uns fast nebenbei unbekanntes Land, unbekannte Religion, unbekannte (Welt-)Geschichte bei. Außerdem fühlen wir uns erinnert: Auch hier vollzog sich anno '89 ein Umsturz. Auf den gnadenlosen Roman zum kriminellen Geschehen danach warten wir noch. Zu erzählen gäb' es genug von Treuhand bis Rathaus.
Schatzkästlein alter Texte
"Ein Buch ist ein großer und erhabner Gegenstand. Er ist eine Erfindung des Menschen, die alles andere übertrifft - Alles, was der Kopf des Menschen in sich faßt, kann auch das Buch in sich fassen - Das Buch ist der Abdruck des menschlichen Geistes - denn es ist eine Darstellung seiner Gedanken durch Worte. - Das Buch kann mit keinem anderen Gegenstande aus der Kunstwelt in Vergleichung gebracht werden - es steht einzig für sich allein da - denn es kann alle Gegenstände aus der Natur- und Kunstwelt in sich fassen."
Das Lob des Buches schrieb Karl Philipp Moritz 1786 nieder. Wir haben dem nichts hinzuzufügen, auch wir sind dem Buche verfallen. Und es freut uns stets, daß wir mit dieser Leidenschaft nicht allein. Mancher, der in den Regalen wühlt, Lesenswertes zu Tage fördert. Und manchmal sind Verlage bereit, die Schätze aus den Buchbeständen wieder zu veröffentlichen. Und wir meinen jetzt nicht jene Schinken, mit denen uns gutgemeinte Lehrpläne quälen, und wir meinen auch nicht jene, die uns sogenannte Buchexperten aufdrängeln wollen. Nein, wir meinen jene Exemplare, die durch Zufall einem in die Hände fielen und der meinte, dieses Büchlein müssen noch mehr lesen.
Lothar Müller faszinierte "Das Karl Philipp Moritz-ABC" (Eichborn). Jener Moritz hatte ein bewegtes Leben, arbeitete sich von Null an die intelligente Spitze Deutschlands, war Mythologe, Sprachexperte, Pädagoge und gar Goethes Freund. Seine Sentenzen faßte Moritz in seinem eignen Lexicon zusammen. Lothar Müller hat uns diese "Anregungen zur Sprach-, Denk- und Menschenkunde" neu herausgegeben. Wir danken und denken. "Das Geld ist also eine Sache, dessen wahrer Wert erst durch den vernünftigen Gebrauch des Menschen bestimmt wird und wobei derselbe seine Vernunft zu üben Gelegenheit hat."
Johann Peter Hebel kennt ein jeder aus dem Lesebuch. Seine Anekdoten, Schnurren und Parabeln haben neben Lebensweisheit, Lacheffekt stets den Impetus, uns zu belehren. Klar, Hebel war ein Mann der Aufklärung (als Zeitepoche betrachtet) und schrieb für die Kalender Geschichten, die in jedem Haushalt hingen. Sein so entstandenes "Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes" (Faber & Faber) beeindruckt noch heute. Wir erinnern uns des naiven Lehrlings, der allein mit dem Wort Kannitverstan den irdischen Lebenslauf verstehen lernt. Ob reich, ob arm, am Ende läutet für jeden das Totenglöckchen. "Es ist doch merkwürdig, daß manchmal ein Mensch, hinter welchem man nicht viel sucht, einem andern noch eine gute Lehre geben kann, der sich für erstaunlich weise und verständig hält." Jawohl. Besonders herzerwärmend sind die Illustrationen Egbert Herfurths. Geeignet als Geschenk für jung und alt.
Eduard von Keyserling ist einer jener Literaten, die heute fast vergessen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebend, strotzen seine Novellen nicht vor Handlungsfülle. Nein, sie sind Seelendramen deutscher Bürger. Mit leichtem Pinselstrich malt Keyserling den Alltag und die Mißverständnisse im niedergehenden Adel. Sicher, auch Thomas Mann sezierte just zur selben Zeit das Bürgertum, doch Keyserlings Arbeiten sind weniger gepfropft und weniger stilistisch feingeschliffen. "Im stillen Winkel" (Manesse) erlebt der elfjährige Paul die Schrecknisse in jungen Jahren. Die Nachbarskinder sind ihm feind, die Elternliebe hat gelitten und am Horizont wetterleuchtet der Weltkrieg No. I. Wir leiden mit, wenn Paul an den Umständen krankt. Zu helfen scheint nichts. Die kleine Sammlung der Novellen ist von Format und Gestaltung solch Schatz, den wir dem Büchermarkte öfter wünschen.
Na klar, auch die Klassiker der Literatur haben gefickt. Ja, auch sie haben darüber geschrieben. Logisch, die Deutschlehrer haben uns diese Texte nie vorlesen wollen. Goethe, Rilke, Schopenhauer in Extase? Das widerspricht dem Literaturunterricht. Hermann Kinder hat gelesen und sich den Spaß gemacht, gerade diese Stellen der großen Autoren zu zitieren. "Schließe deine Säume oben und unten am Rock, was ich von dir träume, träumt ein Bock." "Die klassische Sau" (Eichborn/Lido) ist ein kurzweiliger Streifzug durch lange versteckten Regale der Weltliteratur. Michael Quast und Regine Vergeen lesen die guten Stücke mit wahrem Eifer. Ein Hörbuch, das man der Oma auf den Tisch legen kann, so hat die ihre Klassiker noch niemals gehört.
Es ging uns ja selbst einmal so, wenn die Alten mit ihren Klassikern winkten, winkten wir ab. Doch mit Zeit und Muse verstehen wir, warum nicht alle Literatur den Bach runter geht, sondern immer wieder hervorgeholt wird. Die von damals haben genauso wie wir gelebt und geliebt und gelitten. Ein bissel nur die Zeit trennt uns von ihnen und natürlich die Mode und Sprache. Aber noch immer, reine Leselust, wenn man die richtigen Bücher findet.
Die Verschiedenheit der Mantelmode
Wenn Dr. Helmut Kohl, weiland 16 Jahre Bundeskanzler und selbstverstandener Macher der deutschen Einheit, glaubt, nur ihn umwehe der "Mantel der Geschichte", irrt er. Ein jeder Bürger dieses Landes trägt an diesem Kleidungsstück, ob gewollt, ob ungewollt. Ohne Geschichte geht nun mal gar nix. Nicht Familie, Schule, Medienmarkt. So werden anläßlich diverser Feiern stets wieder die Alben vorgezeigt und die ollen Kamellen wiederholt. Das funktioniert privatissimo, die Schule greift weiter. Geneigte Pädagogen zeigen uns auf, was war und was ist. Der Mensch jedenfalls erscheint im Holozän, vergleichsweise eine kurze Zeit der Erdgeschichte, aber heutztage füllt sie Bände. Der Buch- und Medienmarkt quillt schier über von neuen, banalen, interessanten Fakten und Recherchen zur Geschichte. Wir kommen nicht umhin, wir ziehen uns (nicht nur im Winter) den Mantel über.
Golo Mann trägt einen Namen, den aus der deutschen Weltliteratur wir kennen: Heinrich, Thomas, Klaus und Erika. Golo gehört zur Sippschaft, als Literat hat er sich nie verstanden. Golo Mann war einer der besten Analysten deutscher Zeit und Geschichte (und nicht nur der). "Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" (Diogenes) ist ein Jahrhundertwerk und unterscheidet sich von vielen Langweilern zum Thema vor allem in der Lesbarkeit. Nicht trockene Faktenananeinderreihung, sondern gleichsam im Roman wird uns unsre deutsche Vergangenheit dargeboten. Das beeindruckt. Mehr noch von Achim Höppner vorgelesen. 1861 beginnend erleben wir all das, was die Geschichtsschreibung vermerken muß: Bismarck, auch als Mensch. Die Krisen, die Kriege, die Lage des Arbeitsvolks, denn wie manch Buch und Ausstellung (vor allem die letzte da in Magdeburg) uns wissen lassen will, ist Geschichte mitnichten nur eine Abfolge von Herrschern und Dynastien. Golo Mann leistet hier Erstaunliches. Vorläufig endet seine Geschichte deprimierend 1918, doch der Verlag hat die Weiterlesung angekündigt. Danke.
Stets haben Künstler die Gegenwart begleitet. Kunstgeschichte, Musikgeschichte, Literaturgeschichte spiegeln auch die Zeiten wieder. Dorothee Meyer-Kahrweg recherchierte und legt uns die "Deutschsprachige Literatur" (Hörverlag) des vergangenen Jahrhunderts vor. Verblüffend, sie tut dies anhand originaler Tondokumente: Autoren, Inszenierungen, Zeitzeugen, sie geben Bericht und Analysen zu Werk und Person und die Umständ. Das ist lebendiger als jede Schwarte professoraler Geschichtsschreibung. Wir sind hören uns fest und staunen, Bildung inklusive.
Stefan Bertschi und Ingo Starz illustrieren nicht, sie lassen ausschließlich die Künstler zu Worte kommen. "Anna Blume trifft Zuckmayer" (ebd.) und 60 Autoren geben Ton, mitgeschnitten bei Lesungen, Gesprächen, Reden. 1901 saß Marie von Ebner-Eschenbach vorm Mikrofon, 2004 Elfriede Jelinek anläßlich ihres Nobelpreises. Dazwischen Rang und Namen der Literatur. Grass kritisiert den Mauerbau und Anna Seghers. Dürrenmatt sieht die Schweiz als Gefängnis. Einiges, was beweist, Autoren mischen sich ein in Politik. Hanns Johst lobt den Führer. Christa Wolf will von der Kollegin den besseren Sozialismus bewiesen haben. Peter Handke beschimpft das Publikum an sich. Die Slam-Poeten, Schwitters und Ernst Jandl dimensionieren Sprache neu. Letztlich singt Karl Valentin und lacht selbst dazu. Originale Lautung zeigt die Künstler als Person. Wir sind entzückt ob solcher Akribie und Feinheit des Projektes.
Natürlich nimmt sich auch das TV des Themas an und verendet oft im Schnellgriff, und ehrlich, manche dieser Historio-Fratzen mögen wir nicht länger sehen von Guido bis Helmut. Deshalb greifen wir auch nicht zur Flut diverser DVDs, sondern zum Buche. Jochen Ritter und Peter Joachim Lapp erweiterten ihr Standardwerk "Die Grenze" (Ch.Links). Jawohl, jene Markierungslinie, die vierzig Jahre Deutschland trennte. Emotionen schlagen heut noch hoch, wenn dies innerdeutsche Bauwerk Thema. Sei es die Zahl der Mauertoten. Sei es das Regime des Grenzdiensts. Auch der Rezensent kennt Schießbefehl, Kolonnenweg und die Hardliner beider Seiten aus eigenem Erleben. Die Autoren des Buches bemühen sich um Objektvität. Das erkennen wir an. Diskussionen bleiben danach nicht aus. Nachfolgende Generationen werden lesen und manches nicht begreifen können. Wir allerdings auch nicht.
Edgard Haider erzählt "Geschichten von zerstörten Bauten". "Verlorene Pracht" (Gerstenberg) beklagen (fast) alle deutsche Städte. Krieg zerstörte. Diktaturen rissen ab. Das Wirtschaftswunder planierte alte Bausubstanz. Das Buch zeigt neben altem Adel Industriepaläste, Opernhäuser, Universitäten, Kirchen. Das alles war. Auch unser Landstrich tritt den Beweis der Kulturzerstörung an. Unwiederholbar, will man nicht in Gips kopieren (was zumindest in der Residenz Dresden gepflegt wird). Leider wird der Barbarei heutiger Zeit im Buch kein Wort gezollt. Auch itzo erfolgt der Abriß. Ich meine nicht die Elfgeschosser im Neubaugebiet. Nein. Leipzig tut den Marx verstecken. VW zementiert den Dresdner Großen Garten. Lenindenkmal und Palast der Republik standen. Umgang mit dem Erbe ist augenscheinlich nicht ganz einfach.
Nicht nur deshalb brauchen wir die Dokumentationen zur Geschichte und schätzen die Verschiedenartigkeit des Herangehens. "Denn wenn wir wissen wollen, was der heutige Tag will, müssen wir erfahren, was der gestrige wollte."
Sicher, wir haben zur Weihnacht wieder über Loriots Hoppenstedts gelacht. Wir fühlen uns vom Grandseigneur des deutschen Humors stets trefflich unterhalten. Seine "Gesammelte Prosa" (Diogenes) ist zum Vortrage bestens geeignet und gehört in jeden heiteren Haushalt. Vor allem erkennen wir mit Erschrecken: Was sich heute im TV so Humor nennen darf, ist keine Kunst, sondern gewaltiger Quatsch. Wir lesen lieber, denn da sie stehen alle drin, die Klassiker von Nudel bis North Cothelstone Hall und wildem Waldmops. Selten so gelacht! Darauf einen Erzherzog-Johann-Jodler!
Es ist erstaunlich, glauben wir die Literatur gut recherchiert und veröffentlicht, doch geraten hin und wieder völlig unbekannte Werke großer Autoren an die Öffentlichkeit. Erstmals nach fast hundert Jahren können wir André Gides "Die Ringeltaube" (DVA). Das homosexuelle Liebesabenteuer war Initial, sich im Leben dazu zu bekennen, andereseits wird sie Thema in Gides Werk. So offen, hat er sich kaum wieder zu der Lust bekannt. Heute sehen wir die Liebesspielarten toleranter. Aber anno 1907 ... Es gibt 'ne Menge zu entdecken. Nicht nur in alter Literatur.
Totalitäre Regime leben stets in Angst vorm Umsturz. Denn, wenn die unten nicht mehr so wollen und die oben nicht mehr so können wie bisher, gibt's Revolution. Der Versuch einer solchen fand "1956" (C.H.Beck) in Ungarn statt. György Dalos hat mit Akribie den Tatsachen und Personen nachgeforscht. Sein Buch jedoch ist keine spröde wissenschaftliche Abhandlung zum Thema und wir fragen uns erneut, was wäre gewesen wenn ... Die Sowjetpanzer sind in Ungarn einmarschiert. Und nicht nur da. Die Lektüre, besser als jede Geschichtsstunde und nicht nur zum Jubiläum lesenswert.
Leo P. Ard ist ein witziger Zeitgenosse. In seinem Roman handelt die Bundesregierung: Aufgrund von Vogelpest und Gammelfleisch wird vegetarisch essen Pflicht, Fleischverzehr steht unter Strafe. Zwar geht die Bundeskanzlerin mit gutem Beispiel voran, doch unsereins hängt am Braten. Eigens dafür werden SoKos der Polizei gebildet, die spitzeln in den hintersten Kühlschrank. Klar, mafiöse Strukturen wittern Geld. Die Gesellschaft ist unterwandert bis hin in höchste Kreise. "Der letzte Bissen" (Grafit) mag utopisch anmuten, ist aber nicht nur kulinarisch ernst gemeint, sondern auch gute Unterhaltung.
Es gibt Tatsachen, über die man nicht spricht. Selbstmord ist eine solche. Und wenn dieses Thema ein Tabu, wachsen die Spekulationen. Fakt: Die Selbstmordrate der DDR war signifikant höher als die der BRD. Da liegt die Vermutung nah, der Staatssozialismus trägt die Schuld, daß sich Menschen ums Leben brachten. Udo Grashoff recherchierte Hunderte Akten. "In einem Anfall von Depression" (Ch.Links) ist die umfassende Analyse der Suizide in der DDR. Verblüffend: Vorurteile werden nicht bestätigt. Viele Tode haben andre Gründe, nicht zuletzt ein Resultat der Tradition. Sozialgeschichte andrer Art. Interessant.
"Capote" wurde Oscar geehrt, wir sahen einen Mann, von dem wir zwei Bücher kennen: "Kaltblütig" und "Frühstück bei Tiffany". Löblich, daß uns der Verlag Kein & Aber den unbekannten Truman Capote offeriert. "Andere Stimmen, andere Räume" ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden. Capote schildert die Zwischenwelt der Pubertät erstaunlich, wie im Rausch. Der Roman ein Ereignis und ein Skandal, zeigte das Portrait den 24jährigen Autoren als verführerische Unschuld. Derzeit ist dies Bild keine Provokation, das Buch aber Literatur erster Güte.
Die logische Argumentation ist Grundlage für Erziehung, Bildung und gesellschaftliche Anerkennung. Medien und Politik scheint manchmal diese Basis unbekannt. Logisch sind die Schlüsse weder bei Gesundheitsreform noch Britney Spears' privatem Leben. Ursachen zeigen Wirkung, das ist sprachlich ausdrückbar, dafür gibt es Regeln. Ihre Einhaltung führt zum logischen Schluß. Michael Wolff beweist in seiner "Einführung in die Logik" (C.H.Beck), es ist erlernbar. Es macht Spaß, die Sätze anderer ad absurdum zu führen. Allerdings kann die öffentliche Sprachschluderei nicht optimistisch stimmen. Dagegen kann man etwas tun. Zum Beispiel dieses Buch lesen und die Erkenntnisse anwenden.
Menschen stehen vor Gericht, sie verletzten die Gesetze unsres Staates. Interessant zu sehen, wie Gerichte Recht tun. Denn manchmal will scheinen, Urteile widersprechen dem gesunden Menschenverstand. Gisela Friedrichsen beobachtet seit Jahrzehnten Prozesse journalistisch, ihre Reportagen zeigen Menschen und Gesellschaft vor allem in ihren Unzulänglichkeiten. Jetzt erschienen sie gesammelt von 1989 bis 2004. "Ich bin doch kein Mörder" (Berlin) führt sie uns noch mal vor: Mielke, Honecker, Monika Böttcher, Ronald Schill, Dagobert, Frank Schmökel, ... Der Fall ist nicht nur der Gerichtsfall an sich, er weist darüber hinaus. Nicht immer ist dieses Spiegelbild schön, aber rechtsstaatlich.
Kleiner Tip: Schoß ist schön
Was uns die Regale an Erotik bieten, senden Sender mitten in der Nacht. Das ist die Beschreibung von Sex, mehr leider nicht. Die Weltliteratur bietet so Schmäckerchen von Boccaccio bis Jelinek, aber ansonsten finden wir wenig Genuß. Den aber gibt es, wir müssen ihm nur entdecken. Sonja Ruf weiß genau, wovon sie erzählt: von Exilanten, die der ersten Liebe für immer verfielen, von Familienvätern, die vor Entdeckungsangst ins Stadion fliehen, von Studenten, die auch Hörsaal und Mensa für die Liebe nutzen. Wir lesen von vielen Spielarten der Liebe höchst erotisch, pornografisch wird es nie. Das ist seltene Kunst. Und es sind Liebesgeschichten, die von wirklichen Gefühlen sprechen, nicht von den aufgesetzten, plakativen. Zwischen den Zeilen lesen wir mehr als nur die Worte "Zwischen Koch und Kellner" (Konkursbuch). Die aber auch. Und wir stellen fest, eine Autorin, der die Sprache bei diesem Thema nicht entgleitet, auch wenn es schlüpfrig wird. "Den Dober-Mann hab ich später in der Halle umarmt und zum Stolpern gebracht. Er ist in das Überlaufbecken mit der flüssigen Seife gerutscht (Rose von Shiráz). So zum Schein hab ich ihm das Seil reingehalten, aber es war voller Seifensud. Er hat sich nicht halten können." Lest sie euch vor, die Geschichten. Phantasie anregend, und nicht nur diese.
© by CrossOver
|
|
|