www.Crossover-agm.de Die Bücher der Gebrüder Kotte (05.06.2005)

Der Untergang +/- heute
Die Reden sind geschrieben, die Anzüge gebügelt. Betroffenheit in den Gesichtern wird eingeübt und eingemeißelt. Die Rituale sind erprobt. Das Fernsehen sendet live. Es jährt sich der "Tag der Befreiung" heuer zum sechzigsten Male. Die letzten Augenzeugen berichten. Guido Knopp hat's schön verfilmt. Tränen werden verdrückt, Erinnerungen zugelassen. So war das. Und niemals wieder. Wer's wieder anders hätte, dem wird per Gesetz verboten, seine Meinung kundzutun. Dafür hat man sich stark gemacht, keine Nazis an Orten des besonderen Gedenkens. Was soll darob das Ausland denken? In Deutschland herrscht Demokratie. Was nicht paßt, wird passend gemacht.
Logisch erscheinen zum Anlaß und darüber hinaus Bücher. Christian Hartmann und Johannes Hürter schildern "Die letzten 100 Tage des Zweiten Weltkriegs" (Droemer). Zwei Seiten pro Tag reichen nicht mal für den Überblick, zumal sich die Autoren für keine Stilrichtung entscheiden können: Dokument? Persönliche Erinnerung? Plaudern wir mal über die letzten Tage des deutschen Reiches. Apropo: Der deutsche Großangriff auf den Oscar ist filmisch gescheitert. An Mimen und Wollen kann's nicht gelegen haben. Nun tragen die Spanier die Ehre, auch für einen Film übers Sterben, das selbstgewählte. Wir weinen. Zurück zu unserem "Untergang" (AudioVerlag), den gibt's auch auf CD. Darauf bleibt Joachim Fests Buch unverfälscht, aufs große Kino wird verzichtet. Der Chronist enthält sich der Gefühle. So war das Ende, nicht nur im Führerbunker. Auch Walter Kempowskis "Echolot" (Knauss) ist faktisch, doch ungleich persönlicher. Kempowski stellt Dokumente des "Abgesangs '45" nebeneinander, ohne Kommentar: Briefe, OKW-Kommandos, die Toten von Auschwitz, Dresden, Berlin. So war das. Es erschüttert. Die Kompilation ist hohe Kunst. Wer wirklich vom Ende lesen will, dem seien letztere Werke empfohlen.
Auf andere Art beschreiben Carola Stern und Ingke Brodersen "Deutschland unterm Hakenkreuz". "Eine Erdbeere für Hitler" (S. Fischer) nähert sich der Verblendung, Verrohung und dem Verderben eines Volkes erstaunlich jugendgemäß und nicht belehrend. Wenn Geschichte Wahlfach, sei dieses Buch Pflicht. Mario R. Dederichs zeigt "Das Gesicht des Bösen". Reinhard "Heydrich" (Piper) pendelte als junger Mann und Sportler zwischen linker und rechter Sympathie, ein Phänomen, das auch heut' nicht selten. Später zeichnete Heydrich für den Tod Tausender verantwortlich. Ein Schicksal, das möglich war, kaum glaublich. Ein faszinierendes Buch.
Auch Odfried Hepp war Nazi, Terrorist. Während die RAF mordete, zog Hepp aus entgegengesetzten politischen Gründen gegen die Staatsmacht zu Felde. Seine Karriere wurde international. Das FBI ließ nach ihm fahnden. Die Stasi stellte ihm Papiere aus. Eine dunkle Karriere, unfaßbar, wäre sie nicht dokumentiert. Denn die Liebe ließ den "Chefdenker der Neonaziszene" wandeln. Er schwor seiner Sache, den braunen Zielen ab. Yuri Winterberg hatte Gelegenheit den "Rebell" (Lübbe) zu befragen über Kindheit, Jugend, Leben ganz und en Detail. Das liest sich spannend, doch erschreckend, dieses Leben war und ist. Die Biografie von Heinrich und Heini Paffrath dagegen ist ausgedacht. Kerstin Hensel begibt sich in ihrem Roman auf die Spur der "Falschen Hasen" (Luchterhand) und trifft die Psyche jener sehr genau, die sich enthalten, daneben stehen und stehen bleiben. Doch haben sie ihre Karrieren systemunabhängig fest im Griff. Heinrich, der Vater, ist immer "nur Feuerwehrmann", Heini, der Sohn, immer "nur Polizist". Beeindruckt das Buch durch seinen schrägen Blick auf gesellschaftliche Entwicklung und Personen, so begeistert es durch Sprachbeherrschung, -fülle, -phantasie. Klasse. Klasse. Nur daß sich solch Täter wirklich aus eignem Antrieb in die Fänge der Justiz begeben, scheint mehr Wunsch als Wirklichkeit. Die falschen Hasen bleiben hocken.
Es jährt sich der Untergang des deutschen Reiches. Kein Datum, das es zu feiern gilt, zu gedenken immer wieder. Gern schriebe Politik uns vor, wie dies zu geschehen habe. Es soll jeder halten, wie er möcht'. Auf Show und Rituale kann verzichtet werden. Bevor man allerdings Verbote in Gesetze gießt, sollte man sich fragen. Nationalsozialistische Parolen haben Ursachen. Und gewählte Parteien Rechte. Ob das uns paßt oder nicht. So habe ich Demokratie verstanden. Geschichte lehrt.

"Das Quadrat der Rache" (Fischer) ist Latein geschrieben und ergibt heut' keinen Sinn. Überhaupt: Da bricht man beim Juweliere ein, nichts wird geraubt, aber aller Schmuck vernichtet. Pieter Aspe hat eine verblüffende Geschichte verfaßt. Vordergründig bedient er sich der Krimielemente, um eine Tragödie zu enthüllen. Gesellschaftliche Strukturen und Machtmenschen fordern Tribut, Familie und Gefühl bleiben auf der Strecke. Am Ende ist nix mehr zu retten, das Leben versaut. In Belgien und der Niederlande ist der Autor Star, wir können ihn entdecken.

"Heißa, bin ich gestorben, so pißt mir der Hund an den Grabstein." Manches auf dem Friedhof, das zum Schreien. Auch Worte über Tote geraten freiwillig und unfreiwillig zur Lachnummer. "Tote sind noch dreimal toter, sterben sie in Minnesota." Roger Shatulin hat gesammelt und herausgegeben: "Der verlachte Tod" (Manesse). Ob Autoren, klassisch und modern, ob Gestaltung, Druck, Format - ein gediegen Werk und gut Geschenk. "Du liesest hier, wer ich gewesen. O möcht ich doch von dir dies lesen."

"Das beste Denkmal für einen Arzt ist, wenn er im Spielplan bleibt." Die Homöopathie gilt als Alternative. Ihr Begründer "Samuel Hahnemann" (dtv) ward 88 und wird heuer 250. Er ist verehrt in vieler Welt. In Meißen geboren. An Sankt Afra gelernt. In Leipzig vom Professorenstuhl vertrieben. Kuhköthen ward Wirkungsstadt und hat heut' zur Person Museum. Letztlich in Paris fand Hahnemann junge Liebe und Anerkennung. Robert Jütte schildert Hahnemanns Leben bildhaft und gewährt Einblick in die (Verdünnungs)Theorie. Die ist bis heute Ansichtssache, wirkt aber augenscheinlich. Interessant.

Hildegunst von Mythenmetz ist Dichter, Legende und bekannt. Diesmal verschlägt es den Helden in "Die Stadt der träumenden Bücher" (Piper). Ich gestehe, das Buch hätte man vor Monaten hochloben müssen, allein es kommt die Katastrophe, daß man es zu Ende liest. Denn dann hört die Geschichte auf, und das blutige Buch ist in richtigen Händen. Nein, Zamonien möchte ich nicht mehr verlassen, es ist mir Heimat wie Hildegunst Freund - "zack hitti zopp / hitti betzli betzli / prusch kata / ballubasch / fasch kitti bimm". Gagaismus höchster Stufe. Herr Moers lassen Sie bitte Bücher weiter töten - wir lesen! Begeistert!

André Kubiczek hat Talent. Das hat er bewiesen und beweist es. "Die Guten und die Bösen" (rororo) ist romantechnisch schwer anzusiedeln: Wissenschaftssatire? Detektivgeschichte? Verschwörungstheorie? Medienkritik? Die Bundeshauptstadt samt Bewohner wird grell und bunt überzeichnet, Klischees nicht strapaziert, sondern unbehandelt durchgezogen. Fette, Fitschis, frühe Rentner, jeder bekommt den Boulevard, den er verdient. "Die Zeitgeist", "Flashpixxx" und das "Kommando Adolf Hennecke" tun Übriges bis zum gnadenlosen "Aarrrggh!"

War es richtig, war es Publicity-Skandal? BILD in Halle druckte 1992 seitenweise Namen, Namen, die in Stasi-Akten irgendwie verzeichnet waren. IM, Hauptamtliche und Opfer fanden sich auf dieser Liste. Die öffentliche Meinung stand ihnen gegenüber felsenfest. Maja Drechsler hat den Folgen nachgespürt. Wie lebte es sich nach erfolgter Denunziation? Die Untersuchung zeigt weniger Deformationen als gedacht. Rechtfertigt das den "Beichtstuhl Bild" (m press)? Betroffene tragen an Folgen bis heute. Die wissenschaftliche Untersuchung geht ins Detail, der Rechtsbruch der Veröffentlichung bleibt. "Vergiß nicht, daß dein Satz eine Tat ist!" Qui bono?

"Die verschwiegene Bibliothek" (Edition Büchergilde) zeigt autonomen Geist in den zementierten Grenzen der DDR. Rodjo Monk beginnt sein Leipziger Tagebuch "Blende 89" am 3.10. und endet am Tag der deutschen Einheit Jahr darauf. Montagsdemos, Stürmung Stasi, Rücktritt, Neuwahl, Mensch dazwischen. Monk beobachtet, ist engagiert, wird nicht zerrieben oder von der Euphorie bestimmt. Geschichte ward gemacht, es ging voran. Fakten, Menschen, Emotionen. "Die deutsche Sache wird für mich zur Zeit immer mehr zur einer Art Sülze, die mir das Maul verklebt." Es war an der Zeit. Die andre ist da.

Ham'se schon gehört? Tampons sind lebensgefährlich - durch Asbest. Kinder-Tattoos kleben - dank LSD. Und kürzlich drehte man Snuff, gleich um die Ecke, das Mädchen war keine zwölf. Klar, solche absonderlichen Geschichten hat ein jeder gehört. Zeitungen haben gemeldet. TV hat gesendet. Wir glauben, da diese Geschichten zu schön für Lügen sind. Bernd Hader hat "Das Lexikon der Großstadtmythen" (Eichborn) zusammengetragen und die Quellen (zumindest die medialen) benannt. Auf was man so alles reingefallen ist ... Aber mal ehrlich, Zombie-Tropfen gibt es wirklich. Meinem Kumpel ist das grade passiert.

Kleiner Tip: Poetica Lipsiensis
Sie alle: Majakowski, Kästner, Reimann, Reimann, Reimann, Böhnke, Hilbig, Hart, Bruno Apitz, Volker Braun und Lene Voigt und der Dichter mehr und mehr. Sie alle lyrikten Leipzig, "hier geht der himmel auf und die sonne über". Frauke Hampel und Peter Hinke haben gesucht, gefunden und herausgegeben: "Mit einem Reh kommt Ilka ins Merkur" (Connewitzer Verlagsbuchhandlung). Dies zeigt Einjahrhundert Messemetropole im Gedicht. Texte und Buch sind der Entdeckung Wert. Thomas M. Müller hat illustrierend Höchstform, die Überraschung ist's Detail. Auch drucktechnisch werden wir begeistert. Ein Schmuckstück zum Schenken, Haben, Sich-dran-freuen. "Du stolze Stadt im Osterland / Mein Leipzig, Pleißathen, / Wie läßt im eng verschlungnen Band / Du Alt- und Neuzeit steh'n!"

Das Leben der Kaltenkriegsspione ist legendär. Kim Philby schaffte es im Dienste Moskaus bis in die Spitze des Secret Service Ihrer Majestät. Solches Leben reizt, reizt Biografen und Autoren. Tim Powers gelingt Außerordentliches. Die Leerstellen im Leben des Agenten füllt er mit Horror besten Stils. So bekommt der Leser neben Weltgeschichte noch grausame Phantasie geboten. Aber wer will beweisen, daß es nicht so gewesen ist? In "Declare" (Festa) meets James Bond HP Lovecraft - 'ne echt geile Mischung.

Greulich auch das Leben des Pat McNab. Der sitzt noch mit 45 auf Mutters Schoß und schmettert Lieder. Bis er das Reden seiner Alten nicht mehr aushält. "Die schwarze Pfanne" (Eichborn) trifft Mutters Schädel, sie wird unterm Lorbeerstrauch begraben. In Folge geht's jedem so, der Pats Ruhe und Ordnung stört. Patrick McCabe schildert in 14 Episoden diese "irische Greuelgeschichte" und setzt die dortige Tradition des Schwarzen Humors auf brilliante Weise fort. Ein Highlight. Auch stilistisch.

Überhaupt: Die deutsche Sprache, sie ist vielen ja ein Greuel. Franz Fühmann beweist, daß Deutsch reinstes Vergnügen sein kann. Endlich sind sie wieder aufgelegt: "Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm zu Babel" (Hinstorff). Historische Ereignisse, Spiele, große Namen, Fremdwörter, Rätsel und Grammatik - in der Schule muß, danach will man nichts mehr von der Mutter Sprache hören. Man spricht. Das genügt? Ein Wunderding ist Sprache schon. Ein Wunderding auch dieses Buch. Wer's nicht liest, hat den Spaß nicht verdient.

Ein Klassiker nicht nur der DDR: Heiner Müller. Seine Texte schwierig, kaum zu deuten. Doch diesmal kommt uns Müller als Max Messer und behauptet: "Der Tod ist kein Geschäft" (Hörwerk). Wer die Vergnügungsindustrie beherrscht, der scheffelt Millionen. Also kämpft die Organisierte Kriminalität um Vorherrschaft und Einflußnahme. Leichen pflastern den Weg des Hörspiels. Ein Kleinod aus dem Jahre 1962. Und kein Stück an Aktualität verloren. Selbst angesichts des Todes: Ich lasse mich gern honorieren und frage: Wer zahlt mehr?

"Wird meine augenblickliche Liaison lange währen?" Solch Fragen bewegen, und die Antwort wär' schön. Kann man haben. "Das Orakel für die Dame" (Bloomsbury) hat bereits vor 500 Jahren gut geholfen, es hilft jetzt. Cornelius Agrippa war ein kundiger Typ in Astrologie und Medizin, Jurisprudenz und Religion. Er stellte Fragen und Antwortmöglichkeiten zusammen. Durch Zufall, Intuition und ein Regelwerk wird zur persönlichen Erkenntnis gelangt. Man ist beeindruckt. Klar richtet sich das Orakel zuvörderst an die Dame. Doch auch der Herr hat seinen Spaß: "Bekomme ich, was ich verdiene? - Nein! Man nutzt Sie aus."

Der Esel Platero ist dem Erzähler Freund, Gefährte, Kamerad. Juan Ramon Jiménez schrieb sich in den Gedichten auch seine Depressionen von der Seele, entdeckte wieder Heimat und Natur und seine Freud' am Leben. Mario Castelnuovo-Tedesco fand für die Texte wunderbar illustrierende Musik zur Gitarre. Jochen Roth und Friedhelm Eberle lassen uns am Kunstwerk teilhaben. Gönnt Euch den Nachmittag, CD (querstand) rein in den Player und hingehört mit Mutti, Vati, Oma, Kind und Kegel. "Platero ist klein, wuschelhaarig, sanft. So weich von außen, daß man meinen könnte, er sei ganz aus Watte, habe keine Knochen ..."

"Ich machte mir die Lösung, und gleich hintereinander jagte ich mir zwei, drei Spritzen in den Leib. Ich erinnere mich, in diesen Sekunden das Glück der Menschheit gesehen zu haben." Und desterwegen heißt die Geschichte "Sachlicher Bericht über das Glück, ein Morphinist zu sein" (AtV). Autor Hans Fallada schrieb oft aus eigenen Erfahrungen Literatur. Auch hier. Fallada-Kenner Günter Caspar edierte die Geschichten aus dem Nachlaß. Sie könnten zur Einstiegsdroge Fallada geraten, denn "Wolf unter Wölfen", "Wer einmal aus dem Blechnapf frißt", "Der Trinker", ... sind der deutschen Literatur hohe Schule und vor allem: lesbar.

Er beobachtet sie. Er schreibt ihr Briefe. Anfänglich reagiert sie nicht auf die Anbetung, kann sich dieser schließlich doch nicht entziehen. Die Beiden werden sich nie nahe kommen. Sie lieben sich. "Sie sind so schön" nennt K. Augenblick den "Brief- und Bildwechsel". Zusammen mit Jan Lipowskis kurzen Lebenseinstellungen vereint sie das Buch "Lust auf Figur" (GUC). Die Texte sind federleicht, philosophisch und nah an uns dran. Und das liegt nicht daran, daß die Autoren in Chemnitz leben.

Kleiner Tip: Das Buch als Scheibe
Literatur ist ja nicht mehr die, die sie war. Viele hatten die Gattung vs. Computer bereits totgeschrieben. Doch Bücher werden noch immer verkauft. Auch solche, die gar keine sind. Denn natürlich nutzt auch die Literatur den technischen Fortschritt nicht nur als Science Fiction. "Spätwinterhitze" (Voland & Quist) ist ein tolles Wort und Krimi, Comic, Austauschbörse. In der Geschichte von Frank Klötgen gerät der geneigte Leser? - Nutzer? - Spieler? auf falsche Fährten, Irrwege und zu persönlichen Lösungsansätzen. Da allerdings kann man gewaltig irren und hängt in der Ermittlung fest. Was bedeutet: Aufmerksam lesen. Wenn nix mehr hilft, könnt' man im Chat um Rat nachfragen, aber, wie in jedem guten Krimi: Selbst ist der Detektiv! Man sieht den Spaß den Machern an: Abgedrehte Geschichte. Ideenreiche Grafik. Irrläufer und Sackgassen inklusive. Ein Spaß. Und wer bitte hat gesagt, Literatur gäb's nur im Buch? Ich blättere gern auf neuen Seiten und seien diese virtuell und schwer zu deuten: "Blute, Schmierlappen, blute!"

TIP: Männer töten schnörkellos
Den Damen haben wir die Ehre erwiesen (März 2005). Auch das Mannsvolk schreibt Kriminalgeschichte. Schiller, ja der Friedrich, gilt manchem als Begründer deutscher Kriminalliteratur: "Verbrecher aus verlorener Ehre", "Die Kindsmörderin" zeigen deutliche Züge der Gattung, selbst "Kabale und Liebe" steckt tief im verbrecherischen Sumpf. Edgar Allan Poe gilt als Begründer der modernen Detektivgeschichte. Ihm folgten Epigonen á la Conan Doyle und Edgar Wallace. Ungleich härter die Burschen aus Amerika Dashiell Hammett, Mickey Spillane und James Ellroy. Die Damen lieben psychologische Rätsel und demontieren filigran soziale Bindungen. Im Vergleich zum Weiblichen sind Männermorde geradeaus, taff, schnörkellos. Man greift zu Messer, Knarre, Bombe, eh man die Spuren tiefenpsychologisch verästelt. Auch neuerliche Schreiber setzen diese Traditionen beängstigend fort.
Giles Blunt liebt es eiskalt. In der kanadischen Provinz findet man ein Mädchen verstümmelt und gefroren. Detective John Cardinal sucht einen perversen Mörder, der noch weitre Opfer findet. Doch befriedigt in diesem Falle nur ein Mensch seine abartige Lust? Der Roman zeigt Ontario im Winter und dortige "Gefrorene Seelen" (Droemer). Auch der Detective hat seine Gefühle schwer im Griff. Der Autor ist eine Entdeckung, auch wenn Fall No. 2 "Blutiges Eis" (ebd.) merklich an Spannung und Tiefgrund verliert. Auch Ian Rankin schreibt in Serie. Inspector John Rebus hat eine feste Fangemeinde. Ganz zu Recht. Neue Ermittlungen lassen ihn "Die Kinder des Todes" (Manhattan) kennenlernen. Ein Schulmassaker beendet das Leben dreier Menschen. Da ist einer ausgetickt, ganz klar. Doch sind die Spuren so eindeutig? Nein. Bei genauerer Betrachtung liegt der Fall ganz anders. Und löst sich deprimierend, aber nachvollziehbar. Rankin gelingt es, bravourös die Fäden ungewohnt zu knüpfen. Einzig störend: Für Neueinsteiger ist der Thriller ungeeignet, zuviel an Personenkenntnis wird vorausgesetzt. Was bedeutet, vorherige Rebus-Bücher lesen.
Andere Autoren liegen auf den Verkaufstischen. Schön, daß es Boris Akunin vom Insidertip zur Bestsellerliste geschafft hat. Seine russischen Historien um Ermittler Fandorin und Ordensschwester Pelagia fanden Fortsetzungen mit "Die Entführung des Großfürsten" (AtV) und "Pelagia und die weißen Hunde" (Goldmann). Die Romane dürften nicht nur Kennern russischer Literatur ein Schmeckerchen werden. Amerika schickt Jonathan King ins Rennen. "Das Messer im Sumpf" (Knaur) besticht durch die Schwüle der Everglades und einen bizarren Kindstod. Auch hier weniger gelungen die städtische Fortsetzung um Ex-Cop Max Freeman "Schwarze Witwen" (ebd.). Begeisternd wie stets die Fälle des schwulen Versicherungsdetektivs Dave Brandstetter. Diesmal entpuppt sich die Liebestragödie als massenhafter Tod im "Schattenreich" (Argument) - gut und andersrum gedacht. Und natürlich ist mir Skandinavien immer der Erwähnung wert. Altmeister Olov Svedelid schickt seinen Altbeamten in "Hassels Hölle" (Knaur). Ambitioniert bis zur Unglaubwürdigkeit gerät der Kommissar ins Elend Afrikas. Solch überbordende Gutmenschlichkeit sind wir ansonsten nur von Henning Mankell gewohnt. Aber dieser erfreut sich ungetrübter Lesergunst.
Und Deutschland, wer nennt uns Deine Namen? Nein, eben super sieht's nicht aus in unsren Breiten. Eifel-Spezialist Jaques Berndorf geht gemütlich zum Polit-Thriller über: "Die Raffkes" (Grafit). Ungleich ambitionierter und deshalb von der Kritikerkaste mit Lob bedacht, liegen Leichen im Werk von Georg M. Oswald - "Im Himmel" (rororo) - und bei Helmut Krausser - "UC" (ebd.). Sicher haben jene Recht, die meinen, das Krimi-Genre habe feste Regeln. Wirklich? Vielleicht würden die Autoren sich das Etikett auch verbieten. - Bleibt unser aller Held der G-Man Jerry Cotton. Als Spaßlektüre stimmten "Die Farben des Todes" (Lübbe) mein Krimiherz lieblich. Das liest sich, wie's sich lesen muß: hart, unglaublich, schnell vergessen. Letztlich sei lobend zu erwähnen: Horst Eckert. "617 Grad Celsius" (Grafit) geben zwar nicht die Temperatur des Krimis wieder, aber gewohnt sicherer Hand werden Todesfall und Politik und die Sünden der Väter verwoben. Kennt man? Mag sein, der Spannung tut dies keinen Abbruch. Und was sonst erwarten wir vom Krimi?
Je nun, die Szene international wie heimisch ist durchwachsen. Manchmal verfestigt sich der Eindruck, es wird gedruckt, was bereits nach Krimi riecht. Das sollt' nicht sein, wir Leser haben Rechte. Das Recht auf gute Krimis allemal. Denn allzuviele, die es unwert, in solcher Schau erwähnt zu werden. Insofern bleibt zu hoffen, daß Verlage nicht gänzlich auf den Job eines Lektoren verzichten. Denn Lektorat tut Not. Qualität ersparte uns literarischen Müll (gemeint sind bei aller Kritik keineswegs all die genannten Bücher). In diesem Sinne: Männer schreibt. Und Frauen auch. Verlage, bitte, macht was draus!

Wortes Wissen, Spiel und Witz
Alles, was man wissen möcht', kann man erfahren. Dazu haben findige Leute einstmals das Lexikon erfunden. Unterm Stichwort ist dort zu erfahren, was es wirklich heißt, das Wort. Zum Beispiel "Lexikon, das, alphabet. geordnetes Nachschlagewerk für alle Wissensgebiete od. nur ein Sachgebiet (­> Enzyklopädie)". Oder Blimp, der, ist das schallschluckende Gehäuse an Filmkameras. Der Kryolith ein meist schneeweißes, leicht schmelzendes Mineral. Und ex post heißt einfach im Nachhinein, das Antonym ex ante. Und ein armer Haushalt ist wohl der, der kein solches Nachschlagwerk besitzt.
Gut, heutiger Zeit haben Verlage unser Wissensbedürfnis erkannt und nutzen es gnadenlos aus. Lexika existieren mittlerweile zu allen Sinn- und Unsinnigkeiten. "Das Lexikon der letzten Worte", das der Fußballnieten, das von Medizin-, Justiz- und Sexirrtümern, "Das Lexikon rätselhafter Körpervorgänge", das der Knastsprache, das verrückter Dichter & Denker und und und. All die Publikationen mögen ja gewissen anekdotischen und Heiterkeitswert besitzen, nützen sie uns aber wirklich? "Sechs Menschen kamen im Süden Ägyptens ums Leben, als sie versuchten, einem Huhn das Leben zu retten, das in einen Quell gefallen war. Ein 18jähriger Farmer war der erste, der herabstieg. Er ertrank, weil der Strudel im Wasser ihn herabzog. Seine Schwester und zwei Brüder, die alle drei nicht besonders gut schwimmen konnten, gingen nacheinander in das Wasser, um ihm zu helfen, und wurden von derselben Strömung hinabgezogen. Dann kamen zwei ältere Bauern, die sich ebenfalls nicht gegen den Unterwassersog wehren konnten. Die sechs Leichen wurden später 240 Meilen südlich von Kairo aus dem Wasser gezogen - gemeinsam mit dem Huhn, das als Einziges überlebt hatte." Auch das gibt's: "Lexikon der Großstadtmythen" (Eichborn).
Wollen wir denn tatsächlich unsern Wissensdurst befriedigen, greifen wir zu Namen, die wir kennen. Brockhaus ist ein solcher. Und justament im Jahre feiert nicht nur Schillern, "Friedrich v. (seit 1802), dt. Dichter (*1759, +1805)", Jubiläum, sondern auch Herr Brockhaus, "Friedrich Arnold (*1772, +1823)" mit seinem Verlag.
Friedrich Arnold Brockhaus lebte vornehmlich in der Buchstadt Leipzig. Im Jahre 1805 gründete er sein Unternehmen, dessen Name heute noch bekannt. Von Anbeginn widmete sich das Haus dem Lexikon, jenem Nachschlagewerk, ohne das man heutzutage kaum durchs Leben kommt. Sei es für Schule, Studium, Interesse. Und anläßlich des Jahrestages gibt's im Hause Brockhaus auch das Druckerzeugnis "Brockhaus" in Variationen neu: Ein Band und der Bände drei, die Prachtausgabe, alles auf 'ner CD-Rom. Natürlich ist dies nicht das Lexikon in 25 Bänden und im Leder, aber es sichert unser Grundwissensbedürfnis perfekt ab. Logo sind die Erklärungen nüchtern und sehr kurz und auf manch Detail mußte verzichtet werden. Aber in erster Hinsicht wollen wir keinen Roman, sondern nur Wissen, was Fakt ist. Für alles weitere kann man die Diversika ja dann bemühen. Und wenn man einmal dabei ist, kann es passieren, dass man ohne eigentlichen Grund im Werke blättert. Weil interessant.
Den Strabismus findet man unter Schielen. Vermisste siehe Todeserklärung. Baobab gleich Affenbrotbaum. Baragan ist eine trockene Schwarzmeersteppe in Rumänien. Madras ein Gardinenstoff. Die Mäeutik, griech. Hebammenkunst, ist das von Sokrates geübte Verfahren, durch Fragen den Schüler zur Erkenntnis zu führen. Holla. Und weil wir einmal bei unbekannten Worten sind, auch in Gesellschaft können sie wahrlich Freude bereiten. "Boulderdash" heißt heute das beliebte Dudenspiel. Einer fragt belanglos in die Runde, was es denn sei, das Omentum, Maluko oder Emmajus. Jeder gibt nun seine Deutung: Stadt? Apfelsorte? Hohepriester? Danach wird abgestimmt und die Punkte verteilt. Schön, wozu da unsre Phantasie so fähig, bildend und gemeinschaftstauglich.
"Blitz, Ausgleich hoher elektrischer Aufladungen zw. Wolken und Erde oder zw. Wolken. Die häufigste Form ist der oft verzweigte Linien-B. Die Stromstärke kann bis zu 100 000 A, die Spannung viele Mio. Volt betragen. Äußerst selten ist der Perlenschnur- und Kugel-B. Der B. ist meist von ­> Donner begleitet, kann Gegenstände zertrümmern und entzünden, Lebewesen töten." Hat Euch blitzartig die Erkenntnis der ­> Metapher getroffen? Auch uns vom Blitz geht es um Stärke, Spannung, manchmal Donner. Um Informationen geht es immer. In diesem Sinne Kataplushki, Verabschiedung auf indosetisch. Wirklich? Dann befragt das Lexikon. (Schöne Grüße von Shambyn Batmunch und Shugderdemidyn Gurragtschaa! - Anm. rls)

"Maßlosigkeit ist, wenn du ein Faß aufmachst, wo eine Flasche genügt." Fritz-J. Schaarschuh ist ein lebensgewandter Mann und hat und Sentenzen, Sprüche, Reime und Gedanken verfertigt, die er nun gedruckt vorlegt. "Wer zuletzt lacht, hat die längste Leitung" (Engelsdorfer Verlag) benennt er seine Sammlung. Die hat durchaus Witz, kommt manchmal banal und manchmal gereimt. Hat was und ist nicht nur für passende Bonmots bei großen Familienfeiern geeignet.

Du, ja du, du wirst deinen Vater erschlagen und mit deiner Mutter Kinder zeugen! Ups, der Orakelspruch muß diesen jungen Mann verschrecken. Er haut ab. Doch die Tragik des Geschehens will es: Es passiert genau so wie vorhergesagt. Der "Mythos Ödipus" (Reclam Leipzig) bleibt Stoff, der begeistert und inspiriert. Nikola Roßbach hat gesammelt, wie sich Denkernamen daran abarbeiteten: Hölderlin, Nietzsche, Freud, Pasolini, ... Eine ambitionierte Anthologie, ein kurzweilig Lesen.

Klar, wir wollen sehen, und wir wollen verstehen. Manchmal stellt uns gerade Filmkunst vor die Rätsel. Wie gemacht, woher zitiert? Eine DVD lehrt uns "Filme sehen lernen" (2001) und ist gleichzeitig Anleitung zum Handeln, so man möcht. Nah, halbnah und Totale. Fahrt und Statik, Perspektiven Zoom. Schnitt, Montage, Achsensprung. Dies ist reichlich mit Bildbeispielen versehen, verursacht Kurzweil und man schaut danach im Kino wirklich anders hin. Und das Beste: Man weiß warum.

Bruderliebe ist nicht gottgegeben. Bruderliebe allerdings kann Berge versetzen. Jonathan Weiner erzählt über "Seines Bruders Hüter" (Siedler). Dies ist die Geschichte von Jamie und Stephen Heywood. Als Stephen an unheilbarer ALS erkrankt, setzt er Himmel und Hölle in Bewegung und ein einmaliges Experiment in Gang. Die Medizin ist gefordert, die Ethik und die Philosophie. Reportage mag man's gar nicht nennen, eine hoffnungsvolle, tragische, spannende, Klasse Lektüre.

Hacker sind uns oft nur als gemeine Menschen im Gedächtnis. Sie zerstören unsere perfekte Computerwelt. "Information will sich frei entfalten, doch überall liegt sie in Ketten." MacKenzie Wark hat jetzt das "Hacker Manifest" (C.H.Beck) verfaßt und beweist, daß hinterm scheinbar bösen Ansatz mehr, viel mehr noch steckt. Vielleicht gar eine politische Bewegung? "Jene Staaten, in denen die herrschende Klasse sich schnell der Kontrolle der Abstraktionen bemächtigen und sie produktiv für Ressourcen anwenden kann, erwerben Macht über andere Staaten und können diesen ungleiche Tauschbedingungen aufzwingen." Dagegen kann man Hacken zum Beispiel.

Pures Entsetzen! Werner Köhler führt uns "Das Mädchen vom Wehr" (Lübbe Audio) geschändet, mißbraucht und zerstört in die Geschichte ein. In Folge offenbart sich einjeder im Dorf als pervers. Von unbeschreiblichen Sexualpraktiken, Bildern und Gedanken können wir hören. Und es drängt sich der Verdacht auf, so schlecht kann doch gar kein Krimi sein, ist dies nur blanker Voyeurismus der Abartigkeit? Wir meinen ja, doch unterm literarischen Deckmantel kann sich auch perverse Pornografie nicht entfalten, geschweige denn Lust. Erkannte kein Lektor den Schwachsinn der Geschichte? Warum leiht Dietmar Bär dem Machwerk seine Stimme? Doch wäre die Beantwortung der Fragen schon des Aufhebens zuviel. Wir haben's eh schon in den Müll geschmissen.

Die Geschichte der (westlichen) SF begann mit Geschichten. Kurzen "seltsamen Märchen", die für einen Groschen am Zeitungskiosk zu haben waren. Damit begann der Aufstieg ins Goldene Zeitalter, das nun schon lange hinter uns liegt. Wo gibt es denn SF mit weniger 800 Seiten? Zum Glück haben sich aber ambitionierte Herausgeber daran gemacht, die Short-Story wiederzubeleben. Na gut, etwas mehr als einen Groschen kostet es schon und wir müssen uns auch ins Internet bemühen statt an den nächsten Kiosk. Die "Nova" (Verlag Nummer Eins) erscheint dreimal im Jahr, ist voller neuer Ideen (ja, das gibt's noch) und individuellen Illustrationen (ja, das leistet sich noch jemand). Und wir können uns sicher sein, den einen oder anderen Autor auf einer Preisträgerliste wiederzufinden. Und als Dessert: Die "Nova" erscheint als "Internova" jetzt auch in englisch mit internationalen Autoren.



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