www.Crossover-agm.de Die Bücher der Gebrüder Kotte (28.11.2004)

In Dresden prangt der Fürstenzug, und doch weiß unsereiner nicht, welcher König Sachsen wie regierte und wann. Grad mal August der Starke ist bekannt und der hieß Friedrich August I. Der letzte meinte: "Macht eiren Dreck alleene!" Ansonsten: Wissen ~0. Ernestiner, Albertiner, Kurwürde, Herrscher No. 1, Geliebte, Kinder ...? Frank-Lothar Kroll hat wissenschaftliche Prominenz verpflichtet und bringt notwendige Daten und Interpretationen zum Leben und zur Politik aller "Herrscher Sachsens" (C.H.Beck) bis zum Ende anno 1918. Informativ, faktenreich, lesbar. Nicht nur die Schlösser im Lande sollte man kennen lernen, auch Menschen, die darinnen regierten.

In jedem guten Haushalt sollt es stehen: Ein Wörterbuch der deutschen Sprache. Nun bietet der Handel eine erkleckliche Anzahl von Duden über Wahrig, Kluge. Jede Spezies wird bedient. Kann nützen. Zweifellos. Gerhard Helbig kennt sich aus, jawohl, und hat uns "Zur Bedeutung der Wörter" (Faber & Faber) was zu sagen. Yeah, das steht woanders auch so drin. Warum dann dies Kompendium? Es hat weder eignen Stil noch eigen Art (von den Illustrationen Hans-Eberhard Ernsts abgesehen) und ist furztrocken. "Ein illustriertes Lexikon für gebildete Bürger" möcht' das Buch gern sein, doch diese Bürger kennen Wörterbücher und könnten vielleicht mit Humor überzeugt werden. Aber auch der wird hier nur wissenschaftlich erklärt. Schad.

Apropos: Bücher bilden. Ben Schotts "Sammelsurium" (Bloomsbury Berlin) präsentiert allerlei Fakten, die man nicht braucht. Die allerdings sind wieder so schräg, daß man sie gern wissen möcht': Kants Kategorischen Imperativ, Nährstoffe des BigMac, Wolkentypen, das Rezept für Bloody Mary, alle UNO-Generalsekretäre, Blindenschrift und "Ich liebe Dich" auf Urdu: Mai aap say pyaar karta hoo. Ich gestehe: Ich liebe das Buch (nicht nur wegen der liebevollen Gestaltung) und fange stets wieder an zu blättern. Diese Fakten im Kopf beeindrucken die Mitwelt kolossal. Schillers letzte Worte: "Immer besser, immer heiterer."

Wolfgang Schallers spitze Feder eckte auch im Sozialismus an. Logo: Der Mann ist Kabarettist. Jetzt Chef der Herkuleskeule. Und erst Jahre nach der Wende vertraute die große Dresdner Zeitung seinem Kommentar. Satiren nennt sich nun das Sammelwerk: "Der Letzte macht das Licht an" (Eulenspiegel). "Politikverdrossen? Ich bitte Sie: Gehen Sie zur Wahl! ... so können Sie doch mit entscheiden, von wem Sie sich in den nächsten vier Jahren verarschen lassen wollen." Wir haben gewählt. Und nun fühlen sich die Gewählten verarscht. Schallers Buch ein Geschichtsbuch, das nicht freudig stimmt, aber Lachen macht. So war's. So ist's.

Was vergangen, kann auch gegenwärtig beeindrucken. Sicher, die Klassiker á la Schule hat man satt, aber es gibt so einiges, das des Lesens lohnt. Artemis & Winkler als Verlag haben eine Reihe draus gemacht, und die ist des Entdeckens wert. Klar: Sören Kierkegaard war Philosoph und meinte "Entweder - Oder". "Jede Liebe ist geheimnisvoll." Im "Tagebuch eines Verführers" bringt's der vergeistigte Lover sexuell mitnichten, doch münzt seine Intelligenz dies' Versagen in Erfolg. Anders erlebt "Marianna Sirca" die Gefühle. Sie verläßt sichere Verhältnisse und folgt dem Rebellen in die Berge Sardiniens. Beeindruckend die Bilder, die Geschichte. Fast vergessen die Autorin (ehedem: "Der Efeu" als Mordgeschichte histoire) Grazia Deledda. Nobelpreis 1926 als Dame II. in der Geschichte. Keine Angst vor Weltliteratur, manche, die den Namen verdient und nicht abgehoben im Kritikerhimmel vermotten sollte.

Wir sind gewöhnt von Quasi-Prominenz jeden Pups und Orgasmus zu erfahren. Zu erzählen haben die nix, und wen interessiert's? Graham Greene war einer der verkannten, aber wirklich großen Autoren. Greenes Romane manchmal Skandal, weil politisch: "Der stille Amerikaner", "Der Honorarkonsul", "Der menschliche Faktor". Legendär sein Drehbuch: "Der dritte Mann". Echt witzig die "Reisen mit meiner Tante". Und zu des Autoren Biografie? Viel Genaues weiß man nicht. Greene selbst hat "Eine Art Leben" (Zsolnay) aufgeschrieben. Brilliant von Zeitgenossen bis zum Weltgeschehen Krieg: Indochina, Afrika, Mittelamerikas Bananenrepubliken. Der Autor selbst Agent. Und doch: Leerstellen in Greenes Leben bleiben. Das ist spannend. Genauso wie seine Bücher.

Auch einer, von dem man wenig weiß, heißt Federico Garcia Lorca. "Leben hinter Masken" (Artemis & Winkler) nennt David Johnston die Biografie. Lorca ist Klassiker spanischer Dramatik, geliebt, verfemt. Auch hiererorts ist er auf Bühnen drauf. Seine Lebenszeiten politisch wechselvoll 1896 - 1936. Sein coming out problematisch. Seine Freunde Dalí, de Falla. "Manche Dinge bleiben in Mauern eingeschlossen und können sich nicht wandeln, weil niemand sie hört ... Doch würden sie plötzlich ans Licht kommen und schreien, die ganze Welt würden sie ausfüllen."

Antje Rávic Strubel gehört zu den Lieblingsautoren neurer deutscher Literaturkritik. Völlig zu Recht. Sie beherrscht Metier und Sprache und bleibt in der Diskussion. Eine "Tupolew 134" (C.H.Beck) landete 1978 nicht im Osten, sondern wurde nach Tempelhof entführt. Anlaß eine deutsch-deutsche Geschichte zu erzählen, die nicht im Einheitsbrei und Erwartbaren versinkt. Katja will raus aus sozialistischer Enge. Es geht gut aus. Und doch verwehrt uns die Autorin die eindeutige Lösung des Geschehens. Die Figuren psychologisch dimensioniert. Die Ebenen des Romanes kunstvoll ineinander verschoben. Literatur, die sich auffällig von angebotener Qualität unterscheidet. Im Positiven.

Wau, was hat man die Autorin vorgeführt. Erstmals eine, die über alles schreibt im prüden Rußland. Vor allem über das, worüber dorten keiner spricht: Sex. Als Irina Denezkina in unsere Verlagslandschaft schwappte, hatten wir tATu und Russenpornos längst schon gesehen. Und so erscheinen uns der Denezkina Geschichten als das, was sie sind: prä/postpubertäres Gehabe. Wir erkennen, auch in Rußland geht's den jungen Menschen so wie uns mit der Liebe. "Komm" (tacheles) ist keineswegs schlüpfrig wie gepriesen, aber gut hörbar. Gelesen von Fritzi Haberlandt. Die hat's einfach drauf.

Gestern Heimat Heute
"Ihr Blick ist nach innen und auf eine Zukunft gerichtet, die keinerlei Bilder entstehen läßt. Sie weint." Das ist das Ende. Das Ende von 52 Stunden Filmgeschichte. Edgar Reitz beendete sein epochales Werk von der "Heimat" (grad druckfrisch im Handel "Heimat 3" (Knauss) mit den Jahren 89ff). "Er hat das Wort von seinem in Deutschland so fatalen Blut-und-Boden-Geruch befreit, und er hat ihm den Geschmack des sentimentalen verdorben. Seit "Heimat" ist Heimat auch in Deutschland wieder der Ort, woher man kommt und wohin man geht", bemerkte die NZZ. Und wahrlich tun sich deutsche Autoren mit den dunklen Stellen deutscher Vergangenheit recht schwer. Wer erzählt ohne Scheu, ideologisch recht, nicht rechts, zu liegen, vom Menschen im dritten Reich? Edgar Reitz hat im Familienepos diese Zeit nicht ausgespart. Ein Seltenheitsfall? Mehr oder weniger ist man geneigt, dem zuzustimmen. Tanja Dückers und Verena Carl baten und suchten. Autoren der Gegenwart erzählen von der deutschen Vergangenheit: "stadt land krieg" (AtV). Jups, da sind sie drin die angesagten Schreiber Georg M. Oswald und Norman Ohler und Katrin Dorn und und. Und ein zwiespältig Gefühl. Sicher, die Autoren sprechen über SS und Kriegstod, über Blut und Kommunisten, aber eigentümlich steril bleibt ihre Haltung. Eigentümlich spürbar die Distanz. Eigentümlich gefühllos die Protagonisten der Geschichten. Eigentümlich viel der Reflexion. "Mein Opa erzählte ..." ist die Haltung von Autoren. Laßt den Opa sprechen, möcht' man sagen. Weg die Scheu. Die Klappen weg.
Philip Kerr ist Engländer. Da hat er's schon mal gut. Da kann er ran an deutsche Geschichte, ohne im Streit der richtigen Seiten zermahlen zu werden. Und so läßt Kerr Detektiv Bernhard Gunther tief im III. Reich ermitteln. Stets beginnen die Fälle einfach dilettantisch. Stets enden die Fälle im Politischen. KZ und Rotlicht, dunkle Kneipen, tötende Russen, ehrenwerte Reiche mit doppeltem Antlitz, Juden versteckt: Mord im Kleinen, nicht en gros. Kerr läßt gar die Führungsriege Hitlers aufmarschieren. Göring, Heydrich und Konsorten sind als Personen nacherlebbar. Ehrlich, ich stehe nicht auf die Historienschinken, die weltwichtige Personen nahebringen wollen, sollen. Gar Unpersonen und Verbrecher. Doch Kerr gelingt das Kunststück, daß er weder Helden noch Geschichte denunziert. Es wäre so möglich gewesen. Möglich ist auf jeden Fall zu lesen "Die Berlin-Trilogie" (rororo). Spannend, überraschend, 1000 Seiten. Das 1000jährige Reich künstlerisch im Detail. Eine gute Geschichte. Literarisch, versteht sich!
Auch gut aber ganz anders "Die rechte Hand des Schlafes" (BvT) von John Wray. 1938 kehrt Oskar Voxlauer in die Alpen zurück. Da hat er Weltkrieg I., Ehe und Kommunismus hinter sich. Er will Heimat, weil er sie vermißte. Doch diese Heimat ist nicht mehr das, was er anno 1917 verließ. Die Mutter erkennt den Sohn im Wesen nicht, und er nicht sie. Der Job droben im Berge läßt Voxlauer denken und lieben, und drunten bahnt sich neue Gegenwart an. Nicht alle Österreicher waren unwillig, "heim ins Reich" zu dürfen. Wray legt den Finger drauf. Wir stehen neben dem Präsidenten, als er dem Attentat zum Opfer fällt. Und doch ist der Roman poetisch, gleichsam unfaßbar. Und doch zeigt Wray den Helden, der sich politisch falsch entscheidet, aber Mensch zu Hause bleiben möcht'. Geht nicht? Geht doch. Oder?
Autoren, denkt Geschichte weiter, als die Daten nahelegen! "Der Untergang" im Kino ist vehement in deutscher Diskussion, weil er Hitler menschlich zeigt. Ja, aber Hitler war doch Mensch und lebte auch privat. Gespielt wird er haben mit anderen Kindern. Geli Rauball hat er verehrt. Und war's mit der Eva stets nur platonisch? Neben den Krematorien von Auschwitz erzogen Offiziere die Kinder und liebten ihre Frauen. Sie waren gute Väter und Mütter dort, wo Millionen vergasten. Es waren Menschen. (Wir streichen das 'auch' in diesem Satz.) Von Menschen erzählen Geschichten. Philip Kerr und John Wray erzählen. Sie sind nicht hiesiger Nationalität. Deutsche Autoren, getraut Euch auch über Zeiten zu berichten, denen man sich bislang (fast) nur dokumentarisch nähert. Mit DDR und Kaiserzeiten war/ist Literatur doch oft respektlos umgegangen und bot damit ein differenziertes Bild des Vergangenen. Und, ehrlich, es gäb ein historisch ganz falsches Bild, vertrauten wir ausschließlich der zdf-Zeitgeschichte mit Professor Guido Knopp.

Literatur, mir graut vor dir
Die Läden sind voll von schrecklichen Büchern. Und ich meine mitnichten solche, die des Lesens unwert sind. Der Horror ist längst aus seiner Schmuddelecke gekrochen und wird gar von Hochnoblen zur Kenntnis genommen. Ich gestehe, ich habe die Geschichten vom Grusel, Grauen und Ekel, vom Schock und allen Perversionen immer schon bis zum Wahnsinn gern gelesen. Und heuer weiß der geneigte Kunde gar nicht mehr, was er denn in sein Buchwägelchen packen sollt', denn auf einer Unzahl von Publikationen steht mittlerweile der Horror drauf.
Clive Barker hat uns mit seinen "Büchern des Blutes" in den blanken Schrecken versetzt. Das waren unvorstellbare Geschichten. Mittlerweile schreibt der Herr Kompendien. Sein letztes zählt gut 900 Seiten und nennt sich "Coldheart Canyon" (Heyne). Da kommt aber alles zusammen: Hollywood und Schickeria, Glaube, Schönheitsschnippelei und verdorbener Sex. Spannung allerdings keine. Über der zelebrierten Langeweile geht aller Schauder flöten. Auf weniger als die Hälfte wär der Schinken kürzbar. Ehrlich. Und schad um Barkers noch immer blühend morbide Phantasie. Manchmal schaut sie durch die Seiten. Mehr leider nicht.
Kurz, präzise, knapp dagegen: Tim Krabbé. "Das goldene Ei" (Reclam Leipzig) läßt im Titel ein Märchen vermuten. Es ist eines der schlimmsten Art. Rex verliert die Freundin beim Stop an der Tanke. Seine Suche nach der Verschwundenen ist nach Zeit erfolgreich, und Rex, der Held, darf dasselbe wie die geliebte Saskia erleben ... Wir erinnern uns des Psychoschockers George Sluizers "Spurlos" (in der niederländischen Verfilmung!). Das der Text zum unterirdischen Vergnügen. Zum Schock brauchts der Worte niemals viel, sie müssen sitzen. Tim Krabbé versteht sein Handwerk. Hier ist der Horror Kunst. Auch Stewart O'Nan bedient sich der horriblen Motive und läßt Leichen leben. Doch auch die Toten können die Katastrophe nicht verhindern, und "Holloween" (Rowohlt) bekommt sehr bittren Nachgeschmack. Meisterlich zerstört der Autor amerikanische Träume, die ein jeder von uns hat. Auch in diesem Büchlein ist der Schrecken nicht Vergnügen um seiner selbst Willen. Das ist gut so und Literatur, die selbst abgehobenste Feinschmecker begeistern dürfte.
Weg von Amerika flieht Justin Gray. In Venezuela schnupft er mit Freund vom falschen Stoff. Die Wirkung ist bizarr und Menschen werden lecker Mahl. Nicht nur, daß die Phantasie der Opfer überbordet, zum Unglück ist auch ein Yanomamo-Krieger auf der Spur, um das Wundermittel seinem Stamm zurückzuholen. Nicht schlecht dieses "Nightlife" vom Festa-Verlag, Eröffnung der neuen Horror-Reihe. Doch mir, ganz ehrlich, liegen die Klassiker Meyrink, Merritt und Sarban im Grusel näher. Diese "Hexen und Teufel" (ebd.) beweisen, daß guter Horror Menschen trifft und nicht nur momentanes Zeitgefühl und Mode.
Und schließlich bietet das Hörregal an Horror 'ne Menge. Gerold Darynger war uns mit seinen Rattenmond-Hörspielen bereits aufgefallen. Nunmehr erhältlich: "Apokryphus" (Ohrhorror). Darinnen wird das böse Wirken der Geheimgesellschaften über die Jahrhunderte verfolgt. Das klingt richtig gut, und über diesem Kunstkopfgenuß ist manch Klischee des Schreckens überhörbar und ersichtlich, hier arbeitet nicht nur Autor und Produzent mit diabolischem Vergnügen. Von geheimer Verschwörung schrieb auch Dan Brown. Wolfgang Pampel liest jetzt die "Illuminati" (Bastei Lübbe Stars). Frank Gustavus führt in eine Nacht, die Horrorgestalten schuf. "Gespenstersommer am Genfer See" (Lübbe Audio) - Eine Runde Schriftsteller ruft den Wettbewerb aus und läßt Frankenstein und den Vampyr erstmals literarisch leben. Das soll so stattgefunden haben und ist bereits Legende, vgl. "Gothic" im Film und andrer Jahreszeit. Auf bestem Wege zur Legende: Brian Lumleys "Necroscope" (LPL). Diesmal erreicht uns Band zwei der ultimativen Vampirsaga. Erst kürzlich trafen wir den Autoren in Leipzig: Ein netter Mensch mit schauderlich witzigen Ideen. Hollywood hat angefragt, ich drücke die Daumen. Auch des Nächtens und im Grab. Hinzuweisen bliebe auf HR Gigers (eben der mit dem Oscar fürs Alien-Monster) "Vampiric" (LPL). Darinnen nicht nur hörbar "Die verloren gegangene Kunst des Zwielichts". Aber neben diesem Meisterstück von Thomas Ligotti lauschten wir weiteren erschröcklichen Geschichten höchster Qualität und Vortragskunst.
Nein, es besteht kein Grund sich zu ängstigen. Die Literatur hat's in sich, wonach des schrecklichen Liebhabers Herz und Seele giert. Wer dies nicht liebt und sich nicht traut: Selbst schuld. Wir haben empfohlen.

Kleiner Tip: Bekannter Name, unbekannte Jahre
Kaum einer, der Kästner nicht kennt. Den Erich und Schöpfer vom Detektiv Emil und dem doppelten Lottchen, von Fabian, Münchhausen und bös-kritischen Versen. Dresden ehrt den Sohn der Stadt immer wieder mit einem Museum und sonst so. Auch in Leipzig war der Autor heimisch, dorten hat Kästner, Erich studiert und geschrieben. Bislang war drüber wenig bekannt. Klaus Schuhmann, seines Zeichens Germanist und Professor, hat recherchiert und einiges zu Tage gefördert, was verblüfft. Der junge Kästner, Journalist und gnadenloser Beobachter von Kultur und Politik und Leben, ist der Geschichten und Entdeckung wert. Und manchesmal beschleicht mich Schreibenden die Zähre: Wo sind sie geblieben, die Kritischen Leipziger in jetziger Zeit! "Der Karneval des Kaufmanns" ist neuestes Buch des Lehmstedt Verlags. Nicht nur mit dieser Publikation lassen Verleger und Haus den Nimbus des Regionalen hinter sich, ohne das Regionale im Programm zu verleugnen. Leipzig ist Metropole! Man lese nach.

Geil, diese Zeiten 89/90: Wie's war, blieb nichts. Nichts blieb, wie's kam. Aber versucht hat man's trotzdem mit Engagement und Ideen und gutem Gefühl. "Das wunderbare Jahr der Anarchie" (Ch.Links) vereint Texte, die das bürgerbewegteste Jahr deutscher Geschichte beschreiben. Authentisch. Kurzweilig. Optimistisch, selbst wenn die Ideen der Zukunft an Realitäten scheiterten und scheitern mußten. Erinnern für die, die vor Ort gewesen sind. Zum Erfahrung für die, die anderswo und drüben wohnten. Ein Buch zum Verständnis.

Peter Härtling ist einer von Deutschlands besten Schreibern. Lesens- und erfahrenswert vor allem seine historischen Romane. "Schumanns Schatten" (querstand) sind nicht nur im Konzertsaal erlebbar. Sein Leben und Lieben, sein Leipzig, sein Tod - Härtling liest selber und plaudert über Künstler und Werk. Liebevoll gemixt mit Schumanns Musik ist dies Hörbuch wirklich ein bildend Vergnügen.

"Herr Lehmann" (Goldmann) war Erfolg beschieden, auch im Filme ward er gern gesehen. Grund genug, daß wir von Lehmanns Vorzeit erfahren in "Neue Fahr Süd" (Eichborn). Sven Regener, Musiker und nunmehr auch Literat, hat sie uns aufgeschrieben. Bremen, Neubau, 80er. Tempora incognita für unsereiner mit östlicher Prägung und Herausforderung in der Lektüre. Mir zu arabesk und ausführlich der Alltag, zu weit weg von eignem Erleben und Karriere. Ich spreche diesem Werk die Qualität nicht ab, stehe nur anderserfahren daneben, und das wirkliche Interesse nötige ich mir mühsam ab. Warum? West und Ost bleiben getrennt. Zumindest in Vergangenheit und Leseverhalten.

Noch mehr an Brenner ist nicht mehr, hat Autor Wolf Haas verkündet. Wir möchten's nicht glauben. Echt stilvoll die Geschichten vom Helden, echt schräg Österreich aus solcher Perspektive zu sehen. Diesmal erbt der Held Großvaters Häuschen und landet mörderisch in seiner Jugend. Nein, Krimi mag ich diese verschachtelten Erzählungen gar nicht nennen. Sie versperrten die Sicht auf diese wirklichen Kabinettstückchen neuerer deutscher Literatur. Herr Haas, bitte schreiben Sie weiter! Möglicherweise könnte ich auf Brenner verzichten, "Das ewige Leben" (Piper) muß er nicht haben. Aber Ihre Kunst tät ich ehrlich vermissen, lieber Herr Haas, haben Sie Einsehen!

"Das fidele Grab an der Donau" (Artemis & Winkler) nennt Georg Stefan Troller sein Wien von 1918 bis 1938. Der legendäre Filmemacher schildert seine Heimatstadt mit persönlicher Erfahrung und manch Seitenhieb auf große Namen. Und wie nebenbei geht ein Reich unter und der Faschismus auf. Anekdoten, die hinter die allbekannten guten Namen schauen.
Auch einen eigenen Blick auf die Metropole hat Christopher Wurmdobler. "Queer Vienna" (Falter) ist Stadtführer, wie wir erwarten und mehr. "Die Erbauer der Staatsoper starben an gebrochenen Herzen wegen schlechter Presse", ist nur ein Detail, das Stadt und Häuser nahe bringt. Zwei Bücher, die nicht nur auf Wiener Wegen Wissenswertes bieten und vor Ort (außer)ordentlich nutzen können.

Sie hat es getan! Wir meinen nicht Dolly Busters Fehltritt ins Dschungelcamp der Fernsehnation, nein, Frau Buster hat Ratschläge aufgeschrieben zum Thema, in dem sie als Spezialistin gilt und fühlt. Tumb und voyeuristisch kommt das Büchlein nicht daher, eher gediegen, und ist teilweise richtig witzig. Was Dollys Tips an Neuem bieten, muß ein jeder selbst entscheiden, kurzweilig Lesen stellt sich seitenweise ein. Allerdings behaupte ich (und ich weiß, wovon ich schreib'), innovativer ist sie in andren Werken schon gewesen. "Und damit: Buster!" (Schwarzkopf & Schwarzkopf).

Herr Hans Leyendecker gilt als Chefaufklärer der Nation. Das verwundert, sollten doch Staatsanwälte diesen Ruf besitzen. Daß dem nicht so ist, liegt am Phänomen an sich: "Die Korruptionsfalle" (rororo). Der Journalist ist jenen trüben Vergehen auf der Spur, die Mächtige gern miteinander tun und später nichts von wissen. Leyendecker schaut hinter die guten Worte und Lügen, die per Massenmedien unters Volk gelangen. Wildmoser, Kirch, Trienekens - Namen und Skandale und kein Ende. Daß der Journalist von Gesellschaftskreisen nicht gemocht wird, ist verständlich. Mir nötigt das Buch Hochachtung ab, Verachtung und Interesse.

Auch "Mord isch hald a Gschäft" (Ariadne) und eine Sammlung regional begrenzter Kriminalgeschichten. Das Schwabenländle gilt ja bislang als Hort von Ehre, Sauberkeit, Gewissen. Die Damenriege der Autoren beweist das krasse Gegenteil und eine anständig Portion Humor. Ob Küche, Linguistik oder Yacht - Abgründe tun sich da auf, Abgründe. Ich erwarte gespannt die Zusammenstellung hiesiger Mordlust. Lisa Kuppler, übernehmen Sie!

Geschichte hat's in sich, auch Biografien, die des Erfahrens wert. Christiana Mariane von Ziegler war Tochter des Leipziger Bürgermeister Romanus - der mit komfortionösem Haus, Betrug und Königsteiner Festungshaft; sie heiratete, verwitwete, die Kinder starben. "Mariane" (Faber & Faber) dichtete, ward von JS Bach vertont, gab Gesellschaften und scharte im Salon die Wichtigen der Stadt um ihren Tisch. Christine Wolter hat das Leben der Persönlichkeitin recherchiert und lesbar aufgeschrieben. Störend einfach am Romane, daß die Autorin ihre Gegenwart in die Geschichte zwängt. Davon abgesehen: informativ, lebendig, literarisch.

Daß nicht alles koscher ist, was im Fernsehn läuft, ist nun mal klar. Aber daß der Talk mit Maria am Nachmittag vollständig Fake, scheint neue Dimension im TV-Geschäft. Hanne Tügel zeigt "Das Messias-Phantom" (Knaur) und unsre Zukunft. Gnadenlos führt die Autorin vor: Tränendrüse, Kommerz und Marketing. Quoten-Fernsehen ist Verbrechen. Oder zumindest kurz davor. Und daß der fiese Held den Namen des Kritikers trägt, ist kaum Zufall. Für Profit tu ich alles. Fast.

LivelyriX ist Institution in Leipzig und Dresden. Allmonatlich streiten Autoren und Texte um die Gunst des Publikums. Talente wurden entdeckt. Gäste geladen. Das Beste gibt's nunmehr gedruckt. "Live und direkt" (Voland & Quist) versammelt heimische Clubgeschichten von David Riha, Mara Schneider, Michael Bittner, Janusz Kocaj uva. Jaromir Konecny, Jürgen Noltenmsmeier und Bas Böttcher beweisen, daß diese Art Literatur deutschlandweit ein gewichtiges Wort mitschreibt. Den gesetzten Worten ist eine cd beigefügt, die wahrlich Flair vermittelt. LivelyriX go on!

Herzhaft. Sächsisch. Gut?
Die Sachsen sind ein germanischer Volksstamm, den Widukind den Namen seiner Lieblingswaffe sahs (vgl. lat. Saxum) gab. Allzu kriegerisch sind die Sachsen nie geworden. Eher genossen sie das Leben und die Freuden. Sagenhaft ihr König August: Pillnitz, Dresdner Zwinger, Meißner Porzellan. Sagenhafter Erfindergeist: Von Zahnpasta bis Teebeutel. Kulturell und hochgebildet macht der Landstrich von sich Reden. Sicher wir erkennen all die sächsischen Erfolge an. Nur literarisch mach(t)en sich's die Sachsen schwer. Sicher: Größen haben hier Station gemacht: Herr Goethe. Schiller. Dostojewski. Doch von "Sachsens Glanz und Preußens Gloria" schrieb der Pole Józef Ignacy Kraszewski. Kurt Findeisens "Goldener Reiter" steht daneben und verblasst. Alle lachen herzlich über unsre einzig Lene Voigt - echt lächerlich. Bis heute heißt Sachsens größter Literat: Karl May. Ihn liest man weltweit. Und die andern? Meist zog es Sachsens Autoren weit fort vom Orte ihrer Geburt. Immer mal wieder werden die verlorenen Kinder versammelt und mit dem Etikett sächsisch versehen. Auch gegenwärtig. So zählen Volker Braun und Heinz Czechowski, Kurt Drawert, gar die Schriftsteller in Ausbildung am Institut JR Becher literarisch als Sachsen. Es scheint, als schrieben Sachsen nur für sich und ihre Provinz. Und Recht besehen: Deutschlandweit muß der Buchhändler wirklich gut recherchieren, um Bücher sächs'scher Hand zu finden.
Oh! Wie konnten wir vergessen! Nein! Leipzig beherbergt einen der angesagtesten Schriftsteller unsrer deutschen Gegenwart. Und Sachse ist er von Geburt, in Mittweida erblickte er das Licht der Welt. Und geschrieben hat er fulminante Werke, die Geschichte, Schicksal, Politik verbinden. Nein! Wir haben unsren Erich, unsren Erich Loest niemals vergessen. Grad eben gab's sein "Reichsgericht" (dtv) im Taschenbuchformat. Und wie erschien uns unsre Wende plastisch in der "Nikolaikirche" der Loestschen Feder. Und überhaupt solch Lebensweg: "Durch die Erde geht ein Riß". Wir gestehen: Überzeugt hat uns diese Kunst niemals wirklich, niemals ganz. Aber unser Erich wird überregional in Deutschen Landen einzig als Schriftsteller Sachsens wahrgenommen. Wir bedauern. Oder nicht.
Ups! Peter Gosse und Richard Pietraß haben gelesen und sächsische Liebesgedichte gefunden. "Meine Nackademie" (mdv) vereint (abgesehen vom bemühten Titel) wie angemerkt nicht nur in Sachsen sesshafte Autoren. Aber wer Interesse zeigt, entdeckt auch echte Landsleut (rsp. Sorben): Roza Domascyna, Kito Lorenc, Uwe Grüning, Thomas Rosenlöcher. "Wir waren die Dorfstraße einwärts gekommen. / Vorbei am Haus, vor dem, in einem Holzverschlag, / seit vierzig Jahren eine Quelle schlief." Wir verstehen die Zeilen als Sinnbild. Zeigt uns die schlummernden Quellen. Gebt uns unsre Autoren!
Hans Kromer ist ein stiller Autor und Mitglied der Dresdner Unabhängigen Schriftsteller Organisation - leider machen diese Autoren echt und unrecht zu selten von sich Reden. Hans Kromer jedenfalls legt uns jetzt gedruckt "Die Verletzung" (mdv) vor. Eine Geschichte von Leistung, Druck, Zusammenbruch. Steffen Mehners betreibt Leistungssport made in gdr, bis die Gesundheit der körperlichen Betätigung das Ende macht. Je nun, jetzt sieht das Dasein anders aus: Ziele weg und alles neu. Kromer beschreibt Mehners Umorientierung genau, wir vollziehen nicht alles mit, aber können darob diskutieren. Was will Literatur mehr?
In eben jener Edition des Mitteldeutschen Verlages Halle (nicht aus Sachsen!) lindenblatt verlegte auch Harald Linstädt Neues. "Eisvogelwarten" benennt er die "Liebe in bis zu zehn Zeilen". "Es erging uns wie den Blättern, die der Herbstwind und nur er die Alleen und Wege entlangfegt." Ehrlich, das Mitempfinden fällt mir schwer und Gefühle kommen, keine guten. "Es ist kein Seltenwunsch" meinerseits, dieses Buch zu vergessen. Zur Ehre gereicht es Sachsens Autoren mitnichten.
Und doch noch ein Künstler aus Sachsen, der Sprache beherrscht und uns hinreißt: Andreas Reimann. "Zwischen den Untergängen" (Faber & Faber) versammelt Gedichte 1989 - 2004. Hier sind Worte frei von schlechtem Geschmack und falschem Pathos. Wir erkennen uns und konnten's niemals so sagen: "es lebt sich mit einer lüge doch immerhin besser als gar nicht." Reimann trägt seine Biografie nicht in Ausrufezeichen vor sich auf dem Tablett. Und doch sind seine Texte persönlich, politisch, ergreifend und unbedingt empfehlenswert. Ersichtlich: In Sachsen schreiben auch heute die Leut'. Nur sind sie im Handel kaum zu finden. Zu Unrecht, denn man kann diese Provinz literarisch entdecken. Auch wenn man manches erhält, was die Entdeckung nicht lohnte. Das allerdings ist allen Gegenden gleich. Die Angebote beweisen's.

Ein eigenartig Schreiber ist Franzobel. "Lusthaus oder die Schule der Gemeinheit" (Piper) vereint ein reichlich schräges Klientel. In bester östreich'scher Manier wird betrogen, gefickt und gestorben. Läßt man sich auf Sprache und Gestik des Autoren ein, erlangt man wahrlich Lesevergnügen. Kein leichtes, aber niveauvoll. "Das Schicksal ist ein Schwein, doch manchmal schlägt es eine Volte, findet Trüffel und ist gar nicht so gemein." Wer würde widersprechen?

Die große alte Dame PD James legt "Im Saal der Mörder" (Droemer) vor. Da existiert in London ein Museum, das vergangne Zeit lebendig macht. Ein Zimmer gar ist den Verbrechern ganz gewidmet. Wie scheußlich, daß justament dorten gemeuchelt wird. Die Autorin leugnet nicht die altenglische Tradition des Krimischreibens. Hier jedoch verläppert sich die Spannung, die Sexorgien wirken bemüht, und Mord und Mörder nimmt man hin. Schad, ehedem hatte diese Autorin wirklich was drauf. Besser als das Meiste ist sie noch immer, aber dieses Buch ist kein Highlight.

Blickfang und Diskussionsstoff bieten die "Fassaden - Gebäudehüllen des 21. Jahrhunderts" (Birkhäuser). Ein prachtvoller Bildband zeigt uns das Glas, das Metall, den Beton. Bei aller Lichtheit, Transparenz erscheinen die Zweckbauten ihrem Zweck zu dienen und der Mode. Dirk U. Hinrichs und Winfried Heusler geben umfassend Einblick in gegenwärtige Architektur. Und zeigen auf dem Umschlag einen Fingerprint. Der ist einzigartig. Woran aber liegt's, daß mir die Fassaden als Einheit erscheinen und kaum individuell? Falscher Geschmack? Falsche Erfahrung? Muß man den gläsernen Baustil stets akzeptieren?

Liebe ist schön! Professor will Nähmädchen zur Frau, mag heute ja angehen, anno 1840 war dies unmöglich. Der Verliebte möchte von der Geliebten aber nicht lassen und hat die Idee, heimlich seine Kleine zur Dame zu machen. Sicher, wir haben solch herzige Story mehrmals gelesen. Aber diese Verliebten gab's wirklich: Jacob Henle und Elise Egloff. "Mein lieber, böser Schatz!" (Unionsverlag) vereint die Briefe beider und die der Familie. Und es gibt ein happy End, das aber ist kurz. Nach Umerziehung, Eheglück verstirbt Elise an der Schwindsucht. Dieses Leben ist besser als jeder Roman, möcht' ich meinen, und das Buch hat auch äußerlich Qualität.

"Pop-Splits" (Aufbau) erzählt uns die Geschichten von den besten Pop-Songs aller Zeiten. Da sind sie wieder: David Bowie, Diana Ross, Eric Clapton und und und ... Keimzeit. Frank Bruder hat gesammelt und geschrieben und kommt sich reichlich lustig vor. Was er uns bietet, hat selten Neuigkeitswert. "Er möchte die Menschen unterhalten - das ist sein Traum vom Glück, und er setzt alles daran, ihn zu verwirklichen", schreibt der Autor zu Robbie Williams. Im Gegensatz zum Weltstar scheitert der Autor auf ganzer Linie und sollte sein Glück woanders versuchen. Ehrlich.

Kleiner Tip: Mythen Stadt Grauen
Diebe klauten Auto samt toter Oma. Im Drogenrausch verfütterte ein Mann sein eigen Gesicht an den Hund. Sex im ÖPNV. Sicher, davon hat man gehört. Unsere Städte sind voll von diesen urban legends. Boris Koch hat solch unglaubliche Geschichten gesammelt und präsentiert sie in "Der Mann ohne Gesicht" (Festa). Er präsentierte sie und sich auch live anläßlich der 7. Elstercon vom 17.-19. September im Leipziger Haus des Buches. Diesmal widmete sich das Treffen der Anhänger von SF und Phantastik dem Thema "Stadt - Wohin?" Die Gästeliste vereinte illustre Namen: Brian Lumley als Autor der Vampirsage "Necroscope". Tim Powers als Heroe des Steampunks. Orson Scott Card Autor des legendären Ender-Zyklus. Auch einheimische Prominenz ließ sich blicken. Kai Meyer erzählte von seiner Mythenwelt und den Gebrüdern Grimm als Detektive. Klaus Frühauf und die Steinmüllers erlangten ersten Ruhm noch in der Zeit des Sozialismus Experiments. Die Enthusiasten vom Freundeskreis SF und dem Literaturbüro Leipzig organisieren jedes Doppeljahr solch Highlight der Literatur. Die Frage in der "Stadt wohin?" beantwortet sich von selbst: Leipzig, Haus des Buches, Elstercon.

Wer will die Fuffz'n machen?
Wir waren jung, und ums Eck gab's ein Buffet. Dort konnte man billig speisen und Bier trinken. Die Kneipe war verraucht, die Bedienungen freundlich und schnell. Wir riefen sie beim Vornamen. Die Bratkartoffeln schwammen im Fett. Auf das nächste Bier warten mußten wir nie. Der Halbe kam 75 Pfennig, Ost. Die Zeche rundeten wir auf Zehner auf. Es gab hübsche Wachstuchdecken und graue Gardinen. Kinder aßen hier und Alte. Manchmal denke ich an dieses Buffet Fünfzehn zurück. Ein Stückchen Welt, mein Stückchen Welt. Es hieß wirklich Buffet Fünfzehn, Dresden, Zwinglistraße, Hochhaus, Erdgeschoss. Die's kennen, werden sich erinnern: Das waren Zeiten damals in der DDR. Das waren Zeiten. Ich schreibe sie auf, auf daß sie nie vergessen werden! Auch diese Fuffzehn iss ä kleenes Buch wert. Oder?
Apropo Fuffz'n: Fünfzehn Jahre ist es her, daß der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden unterging. Wir haben die Feiern und Filme und Talkshows zum Thema genossen. Zähren rollten über Wangen. Lieder sang man einheitlich: "So ein Tag, so wunderschön wie ..." Ja, so war das damals. Und es war gut. Oder zumindest nicht alles schlecht. Oder, naja ... Die ehemalige Bevölkerung erinnert sich und schreibt. Man hat mittlerweile den Eindruck, jeder unserer einst stolzen 17 Millionen verfaßt sein eigen Buch zur Vergangenheit in Zukunft. Erst kürzlich erreichte uns Daniel Wiechmanns "Immer bereit" (Droemer). Der Daniel erinnert sich an seinen Kindergarten. Holla, welch Erinnerungsvermögen! Und dort konnten die anderen Kids Zitronen nicht von Apfelsinen unterscheiden. Weil, gab ja nischt. Jawoll, nur Appelle und Fahnen. Wir sagen zum Machwerk, 's is nischt. Gewollt witzig verbreitet der Daniel blanken Schwachsinn, wenn nicht Lügen. Zu fragen bleibt, wie konnt' aus den ehemaligen Deppen überhaupt etwas werden. Weitaus stilvoller denkt Jens Bisky zurück. Er ist "Geboren am 13. August" (Rowohlt). Auch Bisky beschreibt den Sozialismus und sich: Pionierrepublik und Offizier, "Coming out" und Szene in Berlin. Einzigartige Biografie, sicherlich. Bild vom Staat, auch das. Aber muß sich wirklich jeder, jeder zum Staate DDR persönlich äußern? Diese Erinnerungswut erinnert an die Bibliothek der Sieger aus dem Weltkrieg II. Auch diese füllt Regale, wer aber las sie wirklich damals in der DDR? Nun haben wir erstaunlich viele Erinnerungen, Memoiren, Interviews an die tollen Zeiten, aber wirklich Kunst, den großen Roman zur Revolution von unten, schrieb noch keiner. Die Kritik bedauert sehr. Die Suche kann als abgeschlossen gelten, zumindest ein Roman zeigt uns "Wie es leuchtet" (S. Fischer). Herr Thomas Brussig gewann der DDR schon mehrmals heitre Seiten ab. "Helden wie wir" und "Sonnenallee" und jetzt "Heimat 3". Ich gestehe, so ganz auf meiner Wellenlänge lag Herr Brussig nicht. Riesenpimmel stürzt die Mauer! Lache da, wer will. Aber itzo Hut ab, Herr Brussig, das ist ein feines Ding, der Wälzer. Brussig zeigt die DDR in ihren letzten Tagen August 89 bis August im Jahr darauf. Er zeigt uns Personen. Fast alle möglichen. Ministerpräsident und Hochstapler, Bürgerbewegte und Politchargen, Fahrer und Betriebsdirektoren und und und. Manchmal hat man den Überblick verloren. Macht aber nischt. Es ist ein kurzweilig Lesen und stimmiges Bild des Untergangs im Aufbruch. Die, die dabei waren, werden sich und Handelnde erkennen. Die, die die Zeit nur unbewußt erlebten oder gar nicht, erleben. Es ist kein Blick zurück im Zorn, es ist eine detailgetreue und faktenreiche Rückschau. Wir sind dabei bei Währungsunion, Silvester am Brandenburger Tor, Volkskammerwahl. Wir sind drin in Palasthotel, Sachsenring, Aufbau Verlag. Wir sehen großartige Wessis, ahnungslose Ossis und viele, die ihr Glück versuchen. Am Ende des Romans sind sie in neue Welten aufgebrochen. Denn nichts blieb, wie's war. Die Koordinaten des Systems hatten sich grundlegend verändert. Ein Roman, der eine Zeitenwende schildert. Das hat so noch keiner getan. Danke, Herr Brussig.
Logo, daß man sich erinnert. Aber nicht jede HO, jedes FDGB-Ferienheim, jede Kinderkrippe ist es wert und muß zwischen zwei Buchdeckel gepresst werden. Obwohl, über's Buffet Fünfzehn könnt' ich Geschichten erzählen, im Jahr fünfzehn deutscher Einheit. Echt witzig und Bonmot dazu. Das wird ein Bestseller, wo der Buchhandel gerade den Osten so liebt. Ich schriebe. Ich schriebe gern vom Klo und den Flecken, den Schnäpsen, den Gästen, ... Verleger, wer möchte?

Weihnachtszeit ist Zeit der Märchen. Passend auf jedem Gabentisch, die "Märchen auf Bestellung" (Hinstorff). Kinder haben sich die Geschichten gewünscht und ausgedacht. Franz Fühmann schrieb sie auf Bestellung. Elke Heidenreich liest sie uns vor. Hin und weg ist man in der Märchenwelt bei der Fee, der Humpelhexe, der Doris und dem Drachen. Ein Schatz an Phantasie und Wort. Fühmann, einer der Autoren deutscher Zunge, denen ich viel mehr noch Leser rsp. Hörer wünsche. Und manchmal gehen Geschichten wirklich gut aus, das ist wie im wirklichen Leben, man muß nur fest daran glauben.

Auch wenn man sich sonst nichts gönnt, das Buch "Man gönnt sich ja sonst nichts ..." (Leselupenbücherei) ist ein guter Tip für den Gabentisch. Und auch sonst. In der Literatur(such)maschine "leselupe.de" kann sich das junge Talent auf den Bitterfelder Weg begeben, die Arbeiten anderer studieren und seine eigenen Versuche zur Diskussion stellen. Und die besten Arbeiten werden veröffentlicht. Wie zum Beispiel hier die gesammelten Science-Fiction-Stories. Das Ergebnis der Amateure kann sich sehen lassen. Geschichten, die ohne Verkaufsdruck geschrieben und von mehreren Mitstreitern lektoriert wurden, sollte man sich wirklich gönnen. Egal ob in der guten Taschenbuchausgabe oder online. Und vielleicht kommt man ja auf den Geschmack.

Das ist utopisch!
Wilko Müller kennt Gegenwelten, Abgründe und den literarischen Horror
Ist man Fan, will man alles lesen, alles wissen und noch mehr. Die DDR war in mancher Beziehung übersichtlich. Auch das Spektrum der Science Fiction, besser benannt mit wissenschaftlicher Phantastik, hatte der interessierte Leser eines Tages vollständig zur Kenntnis genommen. Dann harrte er der Neuerscheinung und Lizenzausgaben. Allzuviel kam im Jahre nicht hinzu. Und der Vorankündigungsdienst für erscheinende Bücher, kurz VD, war schnell überbucht. Da hieß es, andere Quellen, Freunde, Gleichgesinnte zu erschließen, um dem Hobby frönen zu können und Weitres zu erfahren. Denn ist man Fan, will man alles lesen, alles wissen und noch mehr.
Wilko Müller jr. ist Fan. Wilko kennt sich aus in allen Erscheinungen der phantastischen Literatur. Wo bekanntlich das Spektrum vom wissenschaftlichen technischen Anspruch, über Fantasy bis hin zum Horror reicht. Seit er lesen kann und mag, verfiel Wilko dieser Art Literatur. Er kennt sie: Karl Heinz Tuschel, Klaus Frühauf, Michael Szameit, die Strugatzkis, Lem, Stanislaw. Heute kann er alles lesen, was der Markt erlaubt und hergibt. Im zarten Alter 12 begann Wilko selbst den Roman zu schreiben mit Enthusiasmus, den Vorbildern nach. Das Werk blieb unvollendet. Allerdings ließ Wilko vom Schreiben nicht. Er schloß sich einem "Zirkel schreibender Arbeiter" an. Was außerm Namen auch nix Anderes ist als die neudeutschen Literaturwerkstätten. Talent und Kondition zahlten sich aus. 1982 erschien Wilkos erster Text. Da war er zwanzig. Und die Sammlung benannte sich sozialistisch überzeugend: "Im Gleichklang. Junge Kunst in einer jungen Stadt". Die Stadt hieß Halle.
In Halle ist Wilko Müller jr. geboren, in Halle lebt er heute. Das Junior ist dem Vater geschuldet, auch der heißt Wilko. Doch da der Sohn literarische Wege ging und Vater Vorsitzender des Stadtverbandes der Kleingärtner war, setzte Wilko jr. das Kürzel hinter seinen Vornamen, um Verwechslungen vorzubeugen. Von Wilko sind bislang sechs Romane erschienen. Und da große Verlagshäuser unbekannten Autoren kaum die Chance der Veröffentlichung bieten, verlegt Wilko viele seiner Bücher selber. Doch auch anderen Autoren gibt er die Möglichkeit, Werke in den Handel zu bringen. Edition Solar X - auf das Label kann man achten und sich informieren unter www.wilkomueller.de.
Solar X (allein als Name und ohne Edition) ist ein Fanzine, das nicht nur in bekannten Kreisen guten Ruf besitzt. Dort aber vor allen Dingen. Solar X zählt mittlerweile 167 Ausgaben und widerspiegelt anschaulich das Bild der SF-Literatur und des -Marktes. Zu lesen online und gedruckt. Neben Rezensionen bietet das Magazin kurze Texte, die des Lesens wert. Verantwortlich: Wilko Müller. Er ist auch einer jener Enthusiasten, die den Andromeda Club gründeten. Noch zu Zeiten der DDR. Büchertausch, Autorengespräche, man scheute fürs Hobby keine Mühen. Bis heute trifft man sich einmal monatlich, "Zur Sonne" ist der Name des Gartenlokals. Von der alten Garde sind wenige geblieben, andere hinzugekommen. Streitbar ist man noch immer.
In Jena studiert hat Wilko Physik und Astronomie, danach hat er unterrichtet. Solch einer der sich auskennt in Himmel und Planeten und Pädagogik, wurde an die Hallenser Sternwarte beordert. Mit der Wende fiel der Blick nach oben flach. Aus für Schüler und Wilko Müller. Umschulung. Heute verdient er hart sein Geld im freien Buchhandel. Und das tägliche Schreiben keine Pflicht, ein Muß. Natürlich bieten phantastische Romane keine Flucht. Sie spielen mit den Möglichkeiten und Ideen. "Aus der Geschichte des Trödelmondes" heißt eine von Wilkos ersten Geschichten, sie erzählt das Vorgeschehen für den "Trödelmond", eine sagenhafte Anthologie und erschienen 1990. Im gleichen Jahre: "Zauberer des Alls" ein Roman. Und Wilko Müller schreibt auch weiter. Nächste Bücher folgen. Pläne existieren.
Auch die Edition Solar X geht neue Wege. Besaß die sowjetische Phantastik guten Ruf, hört und liest man heutzutage kaum etwas vom Brudervolk. "Stalker", Kir Bulytschov, "Das Mädchen aus dem All" ... Wer kennt die Namen heute? Unverständnis nicht nur bei Wilko Müller. So hat man sich hingesetzt und "Rache aus den Sternen" von Juri Petuchov übersetzt. Das Erscheinen des russischen Romans wird vorbereitet. Unterstützung, auch finanzielle, ist den Enthusiasten Wert und unterstützt Kultur an kaum vorstellbarem Ort. Auch bei Andromeda sind die Türen offen. Wer also Fan ist oder werden will, Wilko und die anderen heißen Euch willkommen. Kontaktadresse siehe oben.



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