www.Crossover-agm.de Die Bücher der Gebrüder Kotte (22.08.2004)

Voll die Härte!
Schon wahr: Nicht immer möchte man das Leben so wie's ist. Ein bissel mehr Liebe, ein bissel mehr Geld, ein bissel mehr vom Glück könnt schon sein. Und wenn's im Leben nicht so recht klappt, dann doch wenigstens in der Literatur. Ehedem hießen die So-Schön-Schreiber H. Clauren "Mimili" und W. Heimburg: "Lumpenmüllers Lieschen" und Hede Courths-Mahler: "Nur aus Liebe, Marlies". Heute lesen wir Danielle Steel: "Sag niemals Adieu" und Heinz Konsalik: "Die Liebesverschwörung" oder Hera Lind: "Frau zu sein bedarf es wenig". Rosamunde Pilcher ist einfach netter anzusehen als 'ne Spiegel-Reportage aus dem Sozialbau. Und desterwegen gibt's solch einfach schöne Bücher, Filme, Tonkassetten immer wieder und immer noch einmal neu. Wir greifen zu und wissen, daß das Leben so eben ganz und gar niemals spielt. Doch mal ehrlich: Nach so 'nem Unding an Literatur möchte ich richtig gut Bücher lesen.
Nicht jeder Autor nämlich unterliegt (auch finanziell) dem schönen Schein. Einige Autoren kriegen die Realitäten nicht los und knallen sie vor uns hin, daß es erschüttert. Das ist Literatur! Das ist der Lesestoff, der packt! Das ist voll die Härte!
Leo Malet schuf nette Krimis aus Paris. Daß er auch andere Bücher schrieb, ist wenigen bekannt. Diese Werke wurden vor Jahrzehnten aufgelegt und dann niemals wieder. Malets "Schwarzer Trilogie" hat sich Leonhard Koppelmann erinnert und legt "Das Leben ist zum Kotzen", "Die Sonne scheint nicht für uns", "Angst im Bauch" (D<A>V) als Hörspielfassung vor. Die ist genial. Zum einen, weil Malets Texte Spitze sind. Zum anderen hat Regisseur Koppelmann ein fein Gespür für Nuancen, Worte, alles. Stimme geben Stars der derzeitigen Schauspielszene wie Martina Gedeck, Sebastian Blomberg, Oliver Stokowski, u.u.u. Wir hören. Es sind die Kinder, keine 18, denen die Gesellschaft sämtliche Zukunft verbaut. Sie würden ja wollen, wenn sie könnten, aber es bleibt Jean und Dedé und Gina und Paul eben nix. Sie betrügen. Sie rauben. Sie morden. Malet zeigt uns das Leben von unten, drastisch und ungeschminkt. Daß diese Geschichten im Vorkriegsfrankreich spielen, ist kaum zu glauben, sie scheinen gegenwärtig. Die Realitäten beim Alten und Schlechten seit einem Dreiviertelhundert Jahren? Tatsache.
Dreißig Jahre Leben von Terry, Billy, Carl und Andrew verfolgt Irvine Welsh und benennt seinen Roman: "Klebstoff" (dtv) und verblüfft: 600 Seiten Lesestoff und keine Minute Langeweile. Gut. Wir trauen Welsh seit seinem kongenialen "Trainspotting" 'ne Menge zu. Und wahrlich enttäuscht der Autor auch diesmal nicht. Kann man von nicht vielen Schreibern so sagen. Jedenfalls genießen die Boys im Buche das Leben, die Mädchen, die Zukunft. Sie hadern, verfluchen und schlagen zurück. Gut geht es nicht immer aus. Aber eh sie sich vom Leben ficken lassen, ficken sie selber. "Die Einstellung von dieser Gail gefällt mir; kein blödes Getue, direkt runter mit dem Slip und dem BH. Dass viele Ischen die Slips anlassen, ist so ne Art Versicherung, dass sie n bisschen Vorspiel abkriegen, aber nur Flachwichser würden versuchen, ihn nem Mädchen direkt reinzuschieben, wo man vorher noch so viel Spaß haben kann." Wohl wahr. Wir hatten den Spaß. Gar beim Lesen.
Unmoralisch auch das Leben des Herrn Pedro Juan. Mal verdient der Held durch Journalismus, mal treibt er Handel oder macht Geschäfte illegal. Die Mittel fürs Überleben auf Kuba zu verdienen, ist nicht eben einfach, die sozialen und politischen Realitäten hindern. Aber sie hindern nicht bei Lebensfreude und beim Spaß am Sex. Und so liebt sich Pedro Juan durch die Millionenstadt. "Die schmutzige Havanna Trilogie" (Goldmann) des Pedro Juan Gutiérrez zeigt die Zustände im überlebten Sozialismus made by Fidel als das, was sie sind: Beschissen. Aber Trübsal bläst man selbst im Elend nicht. Sollte es partout nicht anders mit den Büchern gehen, dann darf's auch 'ne Pilcher oder ein andrer Schinken mit 'nem happy Ende sein. Aber auf diese Art Trivialliteratur sollte sich Lektüre nicht beschränken. Die Härten des Lebens erfährt jeder tagtäglich am eigenen Leibe. Darüber lesen? Ja, sage ich. Ja. Und nochmals: Ja. Bei diesen Büchern ist die Literatur da, wo sie hingehört. Ins Leben und zu uns. Im Buchhandel findet man auch richtig gute Seiten. Lest sie! Genießt sie!

Wirklich: Es gibt nicht viele Autoren, von denen man jedes Buch gelesen haben möchte. Ruth Rendell ist eine dieser Ausnahmen. "Dunkle Wasser" (Blanvalet) führen ins Leben mit der Flut. Als die Eltern zurückkehren, sind Kinder samt Kindermädchen weg. Der Bub war 14. Das Mädchen 13. Sie hätten sich doch wehren können. Haben sie sich auch. Auf andre Weise. Nebenbei erfährt der Leser: Manch gute Lehrerin hat nicht Schule und Bildung in Absicht, wenn sie mit einem redet, sie will ... Lesen!

Goethe. Schiller. C. F. Meyer. Theodor Fontane: Der Deutschlehrer hat einem die Namen und die Balladen verleidet. Oder? Doch es existieren wahre Schätze deutscher Sprachkunst. Solche Raritäten hat Kathrin Fischer versammelt und präsentiert Balladen "Sex & Crime" (Lido) als Hörbuch. Michael Quast liest und erleidet diese schrecklich schaurig schönen Verse. Und wir erfahren, es ist mitnichten alles Mist, was Schule lehrt. Aber warum kommen im Unterricht die Balladen so dröge belehrend daher und nicht so, wie sie Spaß machen können. Echten Spaß. Diese CD sei kein Tip ausschließlich für Deutschlehrer. Für die aber auch.

Ari Behn ist Wunderkind und beinah ein Prinz. Immerhin hat Ari Behn die Königstochter Norwegens geehelicht. "Von mir ist die Rede" (btb) meint er nun, wir können lesen. Denn Ari Behn ist auch Autor. Jawohl. - Nein. Ich spreche Ari Behns Geschichtchen die Qualität nicht ab. Kurz und fein beobachtet. Aber daß ein Verlag die 15 Kurztexte zum Buch aufbauscht, finde ich reine Verarsche. Diese Prosa paßte auch auf 20 Seiten Normaldruck. Prinz zu sein und Wunderkind bringt dem Autoren vielleicht in Verlagen einen Bonus, bei mir gibt's den nicht. Um mich zu überzeugen, müßte Ari Behn noch schreiben, schreiben, schreiben.

Aus ist's mit den großen Autoren. Die Wissenschaft hat nämlich festgestellt: Es gibt ein Gen, das den Schriftsteller macht. Wer's nicht hat, ist demzufolge kein Autor. Der kann Talent gar nicht haben. Der hat eben Pech. So werden jetzt alle Kindchen im Kindbett geprüft, ob sie denn zum Autoren taugen. Das sind nicht viele. Die aber qua Gen einfach gut. So ist das. Autor Nikos Panajotopoulos hat offensichtlich dieses Schriftsteller-Gen. Sein Roman "Die Erfindung des Zweifels" (Reclam Leipzig) ist herrliche Persiflage auf Literaten, Literaturbetrieb und Jungautoren. Klasse Idee klasse ausgeführt.

Jochen Klauß ist durch Thüringen gewandert. Literarische Spuren hat er gesucht. Gar manches Detail von vergessenen und vielgerühmten Autoren hat der Germanist gefunden. Wer erinnert sich der Marthe Fischer oder Jutta Hecker? Klauß' Verdienst: Er vergißt neben aller Klassik keinen Namen und kein Genre. Doch bleibt der Autor selbst im Sprachstil sehr steril. Warum der Titel "Wege nach Weimar" (Artemis&Winkler) das Buch auf Allbekanntes einengt, bleibt unverstanden. Klauß streifte doch durchs Land und hat bewiesen: Autoren Thüringens schufen nicht nur in der einen Stadt.

Kleiner Tip: Gegenroman eines Skandals
Brest ist Stadt. Brest liegt am Meer. Brest ist Festung. Brest ist Hafen. Matrosen haben Landgang. Soldaten haben freie Zeit. Männer streifen durchs Viertel und suchen Vergnügen. Sie finden es. Diese Männergesellschaft hat eigene Riten. Liebe gibt es und Gewalt. Jean Genet beschrieb das Schicksal der Verdammten. "Querelle" (rororo) geriet zum Skandal. Belmen O schildert gleichsam die introvierte Variante der Liebesgeschichte - er schreibt den Gegenroman. Der Held kehrt wieder in die Stadt, die im Weltkrieg II abgeschieden unter Glocke lag. Er sucht den Mörder, den er liebte. Menschen machen Krieg, und Menschen suchen die Nähe zueinander. "Kollaborateure des Herzens" sind sie Verräter und charakterlos? Für Belmen O ist Brest das Ende: "Finis Brest" (Ritter). Gekonnt jongliert der Autor mit Tagebüchern aus der Okkupationszeit und denen sechs Jahre später. "Finis Brest" ist Literatur. Autor Belmen O verleugnet nicht die Tradition, nicht das Klischee. Und für Belmen O ist Sprache nicht nur Mittel, sie wird Kunst. Ein seltenes Buch. Ein Vergnügen. Faszinierend der Ort, die Mörder, Matrosen und Männer.

Gute Thriller müssen nicht aus Amerika kommen. Und sie können alle Klischees enthalten und trotzdem spannend und erfrischend unkonventionell sein. Das beweist uns der Däne Per Helge Sørensen mit seinem "M@ilstorm" (Bastei-Lübbe). Es geht ganz beschaulich los, während der Bildschirmschoner Web-Cam-Bilder aus aller Welt zeigt, wird ein wilder E-Mail-Wechsel (ein wahrer Mail-Sturm) über den Abwasch in der Institutsküche losgetreten. Doch dabei soll es nicht bleiben, weil ein Einzelgänger dem Haupthelden eine Information zukommen lassen will, die ihm selber das Leben kostete. Dann kommen Polizei und Geheimdienst und die schöne Frau und die Mafia und Online-Mord-Drohungen. Es ist kaum zu glauben, aber solche Bücher werden auch in Europa geschrieben. Und hoffentlich gelesen (dieses ist sogar Experten-tauglich). Wir wünschen uns dringend mehr davon. Nicht nur aus dem Englischen.

Der Westerwald gehört zu den schönsten Landschaften. Und doch lauert zwischen den Bäumen das Grauen. Ebenso in den verträumten Dörfern und abgelegenen Bauernhöfen. Und auch die freiwillige Feuerwehr hat mehr auf dem Kerbholz, als in der Chronik stehen darf. In diesem "Pilzekrieg" (Rotbuch) findet sich der stark übergewichtige Knooth wieder, der sich doch eigentlich nur einer Magenverkleinerung unterziehen wollte. Roger M. Fiedler widmet sich nach seinen Krimis um den Privatdetektiv Gorski dem Grauen der Provinz und untermauert seine Thesen über die wirkliche(n) Geschichte(n) mit vielen Zitaten, von denen wir nur hoffen können, dass auch sie erfunden sind. Und sehen wir uns bei dieser Gelegenheit doch mal unsere Umgebung mit Knooths Augen an: Was genau entsorgt eigentlich unser Nachbar in seinen großen blauen Müllsäcken? Und wie sollen wir Leute bestrafen, die unsere geheimen Pilz-Vorkommen plündern?



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