www.Crossover-agm.de Die Bücher der Gebrüder Kotte (29.02.2004)

"Nach Vorschrift verwendet, verhilft UBIK zu einer ungestörten Nachtruhe - ohne dass Sie sich am nächsten Morgen benommen fühlen." Das mag auf die Medizin zutreffen, auf das großartige Buch des Großmeisters Philip K. Dick (Heyne) bestimmt nicht. Joe Chip ist ein Anti-Psi-Agent. Er hilft Firmen, die sich von Telepathen ausspioniert fühlen. Bei einem Einsatz auf dem Mond stirbt sein Chef Runciter; im Gegensatz zu seiner Frau lässt er nicht einmal aus dem Halbleben etwas von sich hören. Oder doch? Es gibt seltsame Reklame-Botschaften. Und auf dem Geld ist statt Mickey Mouse oder Castro plötzlich Runciters Porträt. Joes Umgebung und Freunde beginnen rapide zu altern und bald entdeckt er, dass er mitten in einem Traum ist. Vielmehr ein Alptraum. Und - es ist nicht einmal sein eigener. Da hilft auch für den Leser nur noch UBIK (wenn nach Vorschrift verwendet).
Wie der Schuster bei seinen Leisten sollte auch der Maler bei seiner Spraydose bleiben. Was uns H.D. Klein mit seinen 560 Seiten "Phainomenon" (Heyne) zumutet, spart kaum ein Klischee aus. Es lohnt sich wirklich nicht, die künstlichen Dialoge der blassen Helden zu verfolgen, da der Autor uns die Gedanken und Gefühle alle noch einmal erzählen zu müssen glaubt. So wenig nachvollziehbar und logisch sie auch sein mögen. Und dabei haben sie noch eine Art von Entwicklung, im Gegensatz zu den genau beschriebenen Regenwolken. Auch die technischen Errungenschaften sind hanebüchen. So sei die Lösung schon jetzt verraten: Die Pyramiden sind Zeitmaschinen des letzten (und sexsüchtigen) Überlebenden von Atlantis, gebaut von einer ausgestorbenen Menschenrasse. Und sie versetzen einem Haupthelden mit Nano-Technologie bewehrt in die Zeit vor dem 2. Weltkrieg. Aber bis zu diesem Ende wird es auch ein trainierter Leser kaum durchhalten.
Nein! In Wien ist der Hund los und beißt die Tierschützerin tot. Ein Böser legt den Kuchen aus, der die Hundchen nun krepieren läßt. "Wie die Tiere" (rororo) benehmen sich die Bürger, und Simon Brenner muß hübsch recherchieren, bis vom Übeltäter (wirklich) der Kopf vom Rumpf getrennt wird. Der Verlag vertraut der Sprachgewandtheit, dem Schmäh, den absonderlichen Sujets und druckt nochmals all die Kunst des Autoren Wolf Haas. Das freut uns. Das freut uns außerordentlich.
Guy de Maupassant ist einer der großen Erzähler, und keineswegs sind seine Geschichten angestaubt. Mit lockrer Hand und bravourösem Stil beschrieb er Leben, Krieg und Lust vor mehr als hundert Jahren. Sein Werk gehört in jede gute Bibliothek. Auch in die des Hörers. Maupassants klassisch "Unheimliche Geschichten" (Naxos) liest uns Akustik Actor Achim Grauer, und er trifft genau den Ton, der auch uns erschauern läßt. Nicht brachial, mit aller Gewalt, hier kommt das Grauen leis und bleibt.
Daß Videos töten, bewies uns Koji Suzuki mit "The Ring" (Heyne) in Film und Buch. Doch konnt die Epidemie der bös mutierten Pockenviren verhindert werden? Pathologe Mitsuo Ando hat Opfer Ryuji Takayama auf der Bahre, und das Grauen geht in Runde II "Spiral" (Heyne). Die Horror-Saga aus Fern-Ost fasziniert ob Psyche, Phantasie, Wissenschaft und dem Mysterium Leben. Geniestreich des Autoren: Wir Leser können echt nicht sicher sein, ob uns die Lektüre bösartig infizierte: Wenn Videos töten, töten vielleicht auch Bücher? fragt sich bang der Rezensent und erwartet "Loop", Teil III und nicht den Tod.
39 Sekunden noch, dann Exitus. Thomas Lehr schildert beeindruckend und sprachkünstlerisch verlöschendes Leben und nennt es "Frühling" (AtV). Held Christian Rauch stirbt und muß erkennen, mit Courage, Mut und Selbstbewußtsein hätte er Schuld und Sühne besser im Griff haben können. Die Ursache fürs verfehlte Leben liegt deutschlandtypisch zwischen 33/45. Daß die Schuld unsrer Väter nur im Faschismus läge, ist zu bezweifeln, allerdings forderten solch andere Diskussionen von Autoren außer Kunst auch den Mut, sich gegenwärtigeren Konflikten zu stellen.

Oma, Opa, Vater, Mutter, Kind und Buch
Möchten Autoren Zeit und Geschehen beschreiben, nutzen sie sehr oft dafür Geschichten von Familien. Da hat man alle Personen eng beinand, ihr Streit und Haß und Glück sind inklusive. Seit Alters her vertrauen Verfasser solchem familiären Geschehen. Die antike "Orestie" ist weiter nix als eine Saga von Papa, Mama, Mord und Totschlag und beschreibt menschlichen Konflikt, Politik und soziales Umfeld. Vater vom Geliebten der Mutter getötet! Schwester erfolgreichem Kriege geopfert! Und Sohn Orest ist erkoren, all die Untaten seiner Altvorderen zu rächen und den gesellschaftlichen Regeln Genüge zu tun. Auch "Ödipus" der König vereint im Schicksal mehr als nur Privattragödie. Seinen Vater erschlägt der Held, mit der Mutter teilt er das Ehebett, und letztlich büßt er lebenslang die Voraussagungen eines Orakels. Einzusehen, nachzulesen: Die Familie, die kleinste Zelle der Gesellschaft, ist Spiegel aller Zeiten in Person. Seit je berichten uns Autoren vom Weltgeschehen privatim, indem sie die geschichtlichen Spuren in die Handlungen ihrer Protagonisten schreiben. Das liest sich spannend und ist mehr als nett erzählte Prosa. Es nimmt nicht Wunder, daß sich auch heutzutage Autoren den Familien widmen.
Barbara Vine seziert in ihren Romanen Generationen und ihre Konflikte: "Astas Tagebuch" oder "Der schwarze Falke" und jüngst "Königliche Krankheit" (Diogenes). Auch darin entfaltet persönliches Fehlverhalten erst Jahrzehnte später tragische Wirkung. Auch in diesem Roman zeigt sich die Autorin auf der Höhe ihrer Kunst.
António Lobo Antunes sagt "Geh nicht so schnell in diese dunkle Nacht" (btb) und läßt darin Heldin Clara die Geschichten ihres Vaters erfinden. Der Autor beweist auch mit diesem Werk, daß man ihm rechtens Anwartschaft auf den Nobelpreis nachsagt. Sein Roman besticht in Komposition und Stil und ist ganz nebenbei wirklich Weltliteratur.
Autor Dimitré Dinev hat sein Land verlassen und lebt seit Jahren assoziiert in Österreich. Er veröffentlichte in seiner Muttersprache, russisch und jetzt erstmals deutsch. "Engelszungen" erzählt vom Leben Iskren Mladenovs und von dem des Svetljo Apolstolov. Die zwei Helden sind (wie der Autor) in Wien gestrandet und bitten auf dem Zentralfriedhof um Hilfe, Zukunft, neuen Paß. Klar ist, daß beide bei allen Geistern, allem Glauben doch ums bessre Dasein kämpfen müssen. Dinev gelingt mit dem Roman ein grandioses Bild der Heimat und des Sozialismus. Der Autor leugnet nicht die Wurzeln und erinnert ob der Absurditäten an die Filme Emil Kustorizas. Iskren ist Sohn des 1. Parteisekretärs der Metropole Plovdiv. Svetljos Vater prügelt im geheimen Dienst. Die Lebenswege der Söhne sind verschlungen und treffen (nur für den Leser) aufeinander. Dinev erzählt vom alten Popen Serafim, der zwar glaubt, aber mitnichten der neuen Macht. Mutter Dorothea ist Staatsschauspielerin und alkoholabhängig. Dem Jungen Svetljo raubt sie fast die Unschuld. Opa Ognian brachte sein Klopapier hinter Gitter. Und den Prügelvater der Staatssicherheit spricht man gar heilig. Dieser Roman ist voll der Geschichten, die wir zu kennen glauben, sie aber niemals so erzählen könnten. Die Wege der sozialistischen Helden ins gelobte NSW und Wien sind steinig und schwierig. Svetljo verweigert als Junge dem Sozialismus die Sprache. Iskren leidet unter Hofierung und der Einsamkeit der Buben aus prominenten Hause. Schule, Studium und Armee werden absolviert, den Sinn der staatlichen Maschinerie sieht keiner. Andrerseits: Auch der Helden sexuelle Erfahrungen lassen sie nicht stolzgeschwellter Brust prahlen. Sie sind Loser, sagen wir's ehrlich. Und deshalb wird im neuen System mit ihnen und überhaupt alles anders. Und nun eben stehen Svetljo und Iskren in Wien und am Grab und glauben an Wunder. Tja, diese "Engelszungen" sind ganz nach unsrem Herzen.
Läßt sich über unsre Familien nix schreiben? Nein? Die Tradition der Familiengeschichten existierte auch deutsch. "Die Buddenbrooks" des Thomas Mann. Willi Bredels "Väter" und "Söhne", "Die Blechtrommel", "Der Laden" und "Krause und Krupp" ... und dann ... dann ging's in Politik und Literatur mit den deutschen Familien bergab. Wer erzählt mit großen Atem die Familiengeschichten aus Sozialismus, Wende, Gegenwart? Den gelobten Autoren Brussig, Kubiczek und Julia Frank und und scheint der Atem zu kurz. Dimitré Dinev schreibt zwar deutsch und Familiengeschichten, doch leider sind diese bulgarisch. Aber wahrlich ein Lesevergnügen!

Horst Wackerbarth ist ein witziger Zeitgenosse. Allein diese Idee ist Klasse: Herr Wackerbarth schnappte sich "Die rote Couch" (GEO) und überfuhr den Kontinent Europa und stets, wenn er interessanten Menschen begegnete, bat er sie, drauf Platz zu nehmen. So steht das Sitzmöbel mal im Weinberg, Wasser und Tagebau, aber auch zwischen Kontinentalplatten, Schrott und alten Mauern oder auf Spielplätzen, Brücken, Lkws. Zusätzlich erfahren wir, was die hingesetzten Leute so bewegt an Wünschen, Ängsten, großem Glück. Ein sehr persönliches Portrait unsres alten Kontinents, das sich anzusehen lohnt.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver