www.Crossover-agm.de Die Bücher der Gebrüder Kotte (26.10.2003)

Die "Geschichte vom Glück" (Drei-Eck) geht natürlich glücklich aus. Einigermaßen. Vorher aber graben die Geschwister Grete und Friedrich im Müll, unterliegen beinah bösen Buben und dem Unternehmer, dann bringen sie Kultur zurück in die Stadt. Die Geschichte des Leipzigers Thomas Bachmann ist nur vordergründig Märchen. Die Gegenwart in Deutschlands Osten geht nicht immer glücklich aus. Aber wünschen können wir's uns, und lesen.

Klipphausen liegt an der Wilden Sau, und dorten wuchs Wulf Kirsten auf. Längst ist er angesehener Literat zu Weimar, aber jetzt erfahren wir von seiner Dorfkindheit, von Nachkrieg und Kinderspielen, von Winterfreuden und Mückenfett. Es ist keine Idylle, aber die Jugend erscheint heut beinah romantisch. Dabei waren die Zeiten hart, das verschweigt der Junge Wulf mitnichten. "Die Prinzessin im Krautgarten" (Piper) finden wir nicht, aber ein ehrlich gut Buch über das, was Opa erlebte. Das sollten wir wissen.

Leben ist kaum möglich, wenn Machtstrukturen es verhindern. Der rosa Winkel brandmarkte im KZ die Schwulen, selbst am Ort des Todes waren sie nicht Mensch gleicher Rechte. Lutz van Dijk hat die alten Männer gefunden, für die sich kaum Wissenschaft oder Sozialapparat interssierte. Das stille Leben der gestandnen Herren zeigt Courage, Liebe und das Grauen. "Einsam war ich nie" (Quer) sagen sie am Rande des Abgrunds. Was sagen wir?

Auch Samira Bellil ging "Durch die Hölle der Gewalt" (Pendo) und berichtet eignes Leben. Es ist die Geschichte eines muslimischen Mädchens der Pariser Banlieue. Vater, Mutter stehen ihr nicht bei, wenn Horden Jungen die Vierzehnjährige vergewaltigen. Konsequenz der Eltern: Rauswurf aus islamischen Familienbanden. Zehn Jahre konnte Samira über solch Schicksal nicht sprechen, jetzt schreibt sie sich frei und ist Hoffnung von Gottes vergessenen Mädchen am Rande europäischer Metropolen.

Elisabeth Kübler-Ross ist umstrittene Expertin für das Sterben. Zeit Lebens kämpfte sie für Menschlichkeit und nicht für eine fachmännische Betreuung des Todes in sterilen Hallen und einsamen Kammern. Sterben ist des Lebens letzter Akt, aufzuhalten ist er nicht. An den Lebenden ist es, Beistand zu geben, die Angst zu nehmen, die man selber hat. "Ein Lesebuch" (Kreuz) vereint der Autorin Ansichten zum "großen Tabu". Es ist an uns zu handeln.

Tomeva nennen die intimen Freunde Bartomeu, der ist schwul, Lehrer und aidskrank. Von solchem Leben haben wir wieder und wieder gehört. Maria-Antònia Oliver gelingt Kunst dort, wo wir glauben, alles zu wissen. "Mondsüchtig" (Ariadne) beeindruckt, ohne Klischee schildert die Autorin einen Lebensweg, der bei aller Zurückhaltung des Helden von Liebe, Courage und Selbstbewußtsein zeugt. Und was wünschen wir uns selbst mehr, als Platz, das Glück und die Liebe im eigenen Leben zu finden.

Wie der Schuster bei seinen Leisten sollte auch der Maler bei seiner Spraydose bleiben. Was uns H.D. Klein mit seinen 560 Seiten "Phainomenon" (Heyne) zumutet, spart kaum ein Klischee aus. Es lohnt sich wirklich nicht, die künstlichen Dialoge der blassen Helden zu verfolgen, da der Autor uns die Gedanken und Gefühle alle noch einmal erzählen zu müssen glaubt. So wenig nachvollziehbar und logisch sie auch sein mögen. Und dabei haben sie noch eine Art von Entwicklung, im Gegensatz zu den genau beschriebenen Regenwolken. Auch die technischen Errungenschaften sind hanebüchen. So sei die Lösung schon jetzt verraten: Die Pyramiden sind Zeitmaschinen des letzten (und sexsüchtigen) Überlebenden von Atlantis, gebaut von einer ausgestorbenen Menschenrasse. Und sie versetzen einen Haupthelden mit Nano-Technologie bewehrt in die Zeit vor dem 2. Weltkrieg. Aber bis zu diesem Ende wird es auch ein trainierter Leser kaum durchhalten.

Großer Tip: "Suchen, Sucher und Besuchte"
Wenn gesamtdeutsches TV grad nicht einen Superstar sucht, sucht es die Geschichte und die DDR. Klasse, sollte man meinen. Doch kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, eifrige Ostsozialisierte versuchen eifrigen Westredakteuren, deren Klischee der Zone einfach so zu bestätigen. Und das gelingt! Medienwirksam sucht man Fewa, FKK und Ferienlager, Präsent 20, Nina Hagen und ZK. Was uns diese Fernseh-Shows nach Hause senden, zeigt das Bild der DDR so, wie sie niemals war. Besorgt stell ich die Frage, gibt's demnächst die heitre Show zum dritten Reich? Und andrerseits: Wie erinnern wir uns "Zonenkinder" (Rowohlt) erst in 20 Jahren?
Sachdienliche "Fragen an die DDR" (edition ost) stellt auch ein Büchlein. Die selbstgestellten Fragen beantwortet gut abgehangene DDR-Obrigkeit, die ihre Biografien gedruckt verschweigt. Macht ja nix, mancher kann sich der Namen noch erinnern, aber es muß wohl an der alten Autorenschaft liegen, daß mir die Antworten so steif wie im Stabü-Lehrbuch daherkommen. Aber: Wissen ist Macht!
Objektivität stellt sich auch her, wenn Augenzeugen Geschehen beschreiben. Dorothee Wierling hat die Aussagen jener interpretiert, die "Geboren im Jahre eins" (Ch.Links). Erstaunlich die DDR im Privaten und Ganzen. Auch Regine Möbius hat gefragt: Wie haben Sie den 17. Juni 1953 erlebt? Horst Drescher, Fred Delmare, Elke Erb u.a. sagen aus in "Panzer gegen die Freiheit" (eva) und beweisen, Zeitgeschichte ist vor allem Privatsache. Einer, der bei 'ner Menge Ereignisse dabei war und sich super gut erinnert, hat's uns nochmal aufgeschrieben im Buche "Mauer, Jeans und Prager Frühling" (Gustav Kiepenheuer). Bernd-Lutz Lange hat exakt recherchiert und zeigt die 60er detailgetreu. Aber mir scheinen die Forschungen seine Rücksicht auf Vergangenes zu trüben: Was Herr Lange blutjung alles zu durchschauen wusste ... o lala, was war ich in diesem Alter dumm. Kathrin Aehnlich sagt in jener Zeit "Wenn ich groß bin, flieg ich zu den Sternen" (AtV) und weiß um Kindersorgen, -nöte, -ängste. Sie zeigt das Leben im Sozialismus von Westbesuch und Konsum, Pionierhaus, Freibad, bis in die Tanzstunde. Und wie sie davon berichten kann! Wir müssen uns wirklich nichts erzählen lassen, wir waren dabei und können es selbst.
Zum Beispiel: Kerstin Hensel. Die Geschichte spielt "Im Spinnhaus" (Luchterhand), und das steht in erzgebirgischer Neuwelt. Alte Weibsen waschen und backen darinnen, Antennen bringen's zdf, es wird geliebt, gehasst, gelitten. Der Autorin gelingt ein Jahrhundertpanorama der Haamit in wundersamen, kaum glaublichen, unfaßbaren Lebensläufen. Erneut hat sich Kerstin Hensel ausgewiesen als Autorin mit Stil, Gefühl und Phantasie. Eine unserer Besten, unbestritten. Zu jenen zählen wir auch Werner Heiduczek. Der Nestor unserer Art Literatur weiß: "Märchen sind ein Quell, der vom Paradies ausgeht und die Erde bewässert." Gesammelt die aus seiner Feder hat der Verlag Faber & Faber. "Das verschenkte Weinen" soll den Geliebten sehend machen, doch damit geht alles Glück verloren. Generationen kennen Heiduczeks Geschichten von Markus, Jana und dem "Schatten von Sijawusch". Schön sie wieder zu lesen. Ehedem galt Rainer Klis als einer, der den "Aufstand der Leser" provozierte. Nunmehr beschreibt er "Die Nacht der Kavaliere" (Faber & Faber). Mhm, eine Mitvierzigerin wird geliebt als Schauspielerin, arbeitslose Göttin und Weib. So geht die Heldin mit jenem und diesen, und so geht sie hin, die Geschicht, von der ich nicht weiß, was soll sie bedeuten.
Nein, was Bilder bedeuten, sagt uns auch Peter Gosse nicht. Er sichtet für sich und Enkelin Kunst: "Wohlan. Aber irgend Fasslicheres ereignet sich doch wohl in diesem Bilde? Gewiß." Sprachakrobatisch sind die Gedanken verwoben vom Gestern bis ins Jahr 2035. Dann vielleicht wird Enkeltöchterchen in Großvaters Ansichten blättern, "Neles Selen" (mdv) werden ihr was zu sagen haben. Bilder auch Ausdruck von Lothar Becker: "Polaroid Sommer" (andré zeidler) sind sprachliche Momentaufnahmen. "Erinnerungen an Tage / wie bleiche, erloschene Photographien / und an Gesichter fremder als Schatten, / Millionen sinnloser Fragmente, / Marschmusik aus einem Kofferradio / in der Garage gegenüber, / ein Akkordeonspieler im Regen / die gelben Blätter der Kastanien, / nichts." Beckers Gedichte geben mehr als Stimmungen wieder, "irgendwann beginnt man, nicht mehr zu fragen", läßt man sich fallen. Das Foto an sich, ist unbestechlich genau. Renate und Roger Rössing blättern im Album und zeigen "Leipzig in den Fünfzigern" (Gustav Kiepenheuer). Ohne Nostalgie, bemühten Witz und Lächerlichkeit geben Horst Drescher und Angela Krauss dazu ihr Wort.
Das war der Osten? Sicher nicht. Wir können nur hoffen, daß wir uns selbst die Frage DDR richtig beantworten. Historie als Firlefanz und Quotenhit gibt vielleicht ein Fernsehbild, ein Bild der unsrer Geschichte gibt es nicht. Das muß sich ein jeder verdammt hart erarbeiten. Ehrlich.

Die "Lachmesse" ist vorbei, doch mit hörbar heiterer Wortkunst kein Ende. Aushängesachse Uwe Steimle erzählt uns Anekdötchen vom Aushängesachsen Friedrich August III. Der war des Sachsenreiches letzter Könich und bekannt für dialektale Sprüche aus dem Bauch. Diese widersprachen zwar sämtlicher Etikette, brachten dem Könich jedoch des Sachsenvolkes Sympathie. Mit "Macht Euren Dreck alleeene!" (Ohreule), dankte der Herrscher ab. Sagenhaft. Auch Gerhard Polt sagt uns Volk die Wahrheit nach. "Kinderdämmerung" (Kein & Aber) ist gnadenloses Resümee unsres Umgangs mit den lieben Kleinen. Unbeschwert verreckt das Lachen im Halse. Polt erwischt uns Bürger an sensibler Stelle, manchmal gar tödlich. Rinke, Moritz ließ via Dieter Wedel und TV die Nibelungen auferstehen. Schwere Kunst. Doch unvermutet locker leicht sind Rinkes Kolumnen "Der Blauwal im Kirschgarten" (tacheles). Mit den Stimmen Adorf, Alsmann, Gedeck, Hoppe gerät die cd als Rundumschlag in gegenwärtiges "Theater!" Und das ist Klasse. Zumindest auf den drei Scheiben.

Mehr oder weniger war
Nein, was es für Menschen gibt! Den "kleinen Feldbusch", den infantilen Daniel, einen schmutzwerfenden Dieter, den schönen Alex, einen sich outenten Fritz und mehr, mehr, mehr. Gemeinsam diesen Menschen ist, sie halten ihr Leben für mitteilenswert und Literatur. Was das Geschreibe wirklich nicht ist. Gnadenlos läßt diese Klientel sogenannter Autoren über sich schreiben und überschätzt sich selbst, ihr Dasein erst recht. Wer liest, was keiner wissen will? Ich fürchte mehr als genug. Schade. Denn es gibt wirklich Biografien, die des Erfahrens wert und neben einem Leben Zeitgeschichte für uns erlebbar machen.
"Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch" (List) zum Beispiel. Solomon Wolkow zeichnete auf, wobei bis heut' Experten streiten, ob's der Dmitri selbst sagte. Abgesehen davon: Das Buch gibt ein untergründiges Bild des Komponisten und der Stalinära.
Viktor Timtschenko aus Markkleeberg trieb der Präsident und die Gegenwart des Zarenreiches um. "Putin und das neue Rußland" (Diederichs) ist weniger Biografie denn Ausdeutung derzeitiger Politik. Erstaunlich, wie der Autor Handlungen und Politik des mächtigen Herrn entschlüsselt. Eine Art Kompaß, den "großen Bruder" heute zu verstehen.
Im Frühjahr 45 war der Krieg am Ende und die Menschen. "Eine Frau in Berlin" (Eichborn) zeichnet auf, was ihr passiert: Hunger, Betrug, Vergewaltigung. Ein schonungsloses deutsches Bild bar jeder gefühligen Duselei. Erschütternd wahr. Eine Entdeckung dieses Buch, und ich bin wieder baß erstaunt, wo Hans Magnus Enzensberger stets erneut die Highlights der "anderen Bibliothek" ausgräbt. Lesen!
"Die Last des Schweigens" (Edition Körber Stiftung) empfinden jene in Persona, deren Eltern Täter waren: Heydrich, Göring, Heß oder Bormann heißen die Väter. Dan Bar-On besuchte und sprach, seine Interviews zeigen die Erbschaft, von der zu schweigen Untat wär. Auch Norbert und Stephan Lebert waren bei diesen vergessenen Kindern. "Denn Du trägst meinen Namen" (Goldmann) sagte man ihnen. Geschichte, der man sich nicht entziehen kann und darf.
Weiter leben, ohne sich zu verlieren, das wollte auch der Al Capone von Berlin. Werner Gladow hielt die junge DDR in Atem. Die Staatsmacht faßte die "Gladow-Bande. Die Revolverhelden von Berlin" (Das Neue Berlin) und richtete hin. Wolfgang Mittmann spürt den Antihelden und der Nachkriegsgesellschaft nach. Den positiven "Sozialistischen Helden" (Ch.Links) ist das Kollektiv um Silke Satjukow verpflichtet: Hennecke und Täve, Valentina Tereschkova, Julius Fucik - Die Autoren bringen die Mythen zur Wahrheit und zeigen Leben hinter der Losung. Nicht nur jenen, die diese Propaganda selbst erfuhren, sei die Geschichte empfohlen.
Logisch interessieren uns auch jene, die uns durch Kunst zu beeindrucken wußten: Andrew Wilson zeigt das Leben der Patricia Highsmith als "Schönen Schatten" (Berlin). Und wirklich wußte man von der Meisterin des Psycho-Thrillers herzlich wenig. Wilson deckt auf, das ist spannend, nimmt uns andrerseits das Geheimnis.
Offen liegt auch das Dasein des sächsischen Helden Karl May. Der Sachse Christian Heermann, ausgewiesener Kenner Mayscher Weltgeschichten des Westens und Ostens, schildert des Lebens Auf und Ab von "Winnetous Blutsbruder" (Karl May) aktenkundig, faktenreich.
Mancher Erdenbürger Leben ist Roman. Ehrlich. Altmeister Erik Neutsch erzählt "Nach dem großen Aufstand" (Faber & Faber) das Leben des Matthias Grünewald. Der Meister des Isenheimer Altars blieb auch Historikern lange Rätsel. Neutsch deutet und läßt beeindruckend die Reformationszeit bis nach Halle/Saale auferstehen.
Hallenser auch Johann Friedrich Struensee, der Aufklärer gelangte zu Einfluß am dänischen Hofe und ins Bett der Königin. Konsequenz: Kopf ab! Per Olov Enquist macht den "Besuch des Leibarztes" (Fischer) zur Geschichte großer Gefühle. Besser als Kino liest sich dieser Roman.
Der Alex und der Dieter, Naddel und Herr Raddatz, sie alle halten sich in ihrem kleinen Leben für Geschichte. Nun gut, mancher mag Interesse haben, wirklich bewegend ist da nichts. Wissenschaftler und Autoren fanden, finden die Biografien, die des Mitteilens wert. Diese sollten wir lesen. Auf Gequatsche können wir verzichten.

Die Neuentdeckung des Big Brother
Es gab Zeiten, da begegnete einem diese Art Literatur aller Wege und Orten. "Ljonka", "Die Mutter" und "Wie der Stahl gehärtet wurde" lasen Klassen für den Lehrer. Alexander Wampilow, Michail Schatrow, Alexej Arbusow kannte jeder Theaterspielplan. Wir empfanden "Die optimistische Tragödie", "Abschied von Matjora" und "Die Nacht nach der Abschlußfeier". Unvergessen die Utopisten Strugatzki, Tolstoi und Bulytschow, die Kriminellen Wainer, Adamow und Wyssozki, die gnadenlosen Realisten Rasputin, Tendrjakow, Schukschin. Wir holten bei ihnen den Mut zur Kritik in den Zeiten der Honecker-Ära. Wir fühlten mit mit den nicht immer sozialistischen Helden. Bücher vom Großen Bruder waren Insidertip und Kult. Heuer feiert die Verlagsbranche die alten Bekannten, als ob es sie vordem nie gegeben hätte. Das zeugt von ihrer Ignoranz der letzten Jahre. Die guten Typen und die Übersetzer gibt es noch. Wir freuen uns, neue Literatur Rußlands lesen zu können. Ehrlich, wir warteten darauf.
"Ingenieure der Seele" (Ch.Links) nannte Stalin seine Literaten und verlangte von ihnen den sozialistischen Aufbau im Buch. Organisiert wurden Exkursionen zu Stätten der Heldentaten: Belomor-Kanal, Magnitogorsk und Karakum. Sowjetautoren haben gesehen und geschrieben. Auch die Wirklichkeit. Frank Westermann hat ihre Spuren gesucht. Noch sind sie nicht verschüttet. Den Spuren jener, die Schwierigkeiten mit dem Sozialismus hatten, folgte Thomas Urban: "Russische Schriftsteller im Berlin der zwanziger Jahre" (nicolai) klingt öde wissenschaftlich, ist es nicht. Wir begegnen den Namen Bely, Pasternak, Zwetajewa und unserer Hauptstadt im anderen Glanz. "Immerhin ein Ausweg" (dtv) vereint russische Autorinnen der Gegenwart zweisprachig. Solch Lehrmaterial ist nunmehro selten, die Geschichten lohnen nicht nur zum Auffrischen alter Sprachkenntnisse.
Ein gutes Pfund wiegt der große russische Roman seit je. So auch Boris Schitkow vergessenes Meisterwerk. "Wiktor Wawitsch" (Hanser) zeigt im Panorama die Revolution vor der Revolution. Facettenreich unglaublich schildert Schitkow Familiengeschichte 1903 - 1906. Es ist eines jener Bücher, "deren Lektüre einen auf den Gedanken bringt: Wären sie rechtzeitig veröffentlicht worden hätten wir eine andere Kultur".
All die Traditionen, Fäden, Bilder nimmt Wladimir Makanin auf und zeigt den "Underground" (Luchterhand) im intellektuellen Spiel. "Ein Held unserer Zeit" kämpft ums Überleben heute, leidet an der Welt und sich, resigniert aber keineswegs, auch nicht im "Nachtasyl", ganz unten. Makanins Roman steht in Reihe neben Lermontow, Tschechow, Gorki, Solschenizyn. Neben aller Handlung gelingt dem Autoren ein Puzzle, das zu entschlüsseln Vergnügen und Herausforderung ist.
Auch die Moderne hat es in sich. Andrej Kurkows eigentlicher Held ist ein Pinguin und heißt Mischa. Viktor errettete ihn einst vom Zoo, diesmal muß er ihn aus dem Tschetschenien-Krieg befreien. Kurkow jongliert mit den Absurditäten der Gegenwart bravourös bis hin zum unglaublichen Happy End und meint "Pinguine frieren nicht" (Diogenes). Auch "Ein Freund des Verblichenen" (tacheles) schöpft Lebensmut und Liebe, nur setzte er den Killer auf sich selber an. Kurkows Roman spielt mit Bekanntem andersartig, August Zirner liest perfekt, und wir können auch Kurkins Stimme lauschen.
Neben Pjotr Salabonow wohnt ein Verrückter und behauptet, er, Salabonow, wäre Jesus, also "Der heilige Nachbar" (Claasen). Aleksej Slapovskys Farce begeistert. Kult auch Vladimir Sorokin. Diesmal legt er uns aufs "Ljod / Das Eis" (Berlin). Da suchen Erwählte sprechende Herzen und führen aus böser Vergangenheit in die Gegenwart unendlicher Liebe. Zu schön aber auch.
Schön schräg sind auch die Deppen aus dem Heim Gloster und Bachatow. Michail Jelisarow läßt die Behinderten die Welt erobern. Das gelingt, nicht nur weil "Die Nägel" (Reclam Leipzig) Zukunft deuten. Fingernägel selbstverständlich. Etwas weniger Verve hat Sergej Bolmats Geschichte "In der Luft" (C.H.Beck), doch auch sie gibt ein skurriles Bild der Selbstfindung der Anfang Dreißigjährigen in derzeitiger postsozialistischer Gesellschaft. Wir sind begeistert vom Findungsreichtum heutiger Verleger.
Nun gut, nicht immer. Der Vorzeigerusse unsrer BRD heißt Wladimir Kaminer. Nachdem er glaubt, uns mit "Militärmusik" und "Russendisko" gehörig den Kopf verdreht zu haben, schiebt er schnell noch sein "Deutsches Dschungelbuch" (Manhattan) nach. Darinnen zieht ein leidlich witziger Autor durch die Provinz und dünkt sich als unwiderstehlicher Held der Literatur. Nun logisch, nicht alles geht allso, wie's unser Held wohl will. Nur liegts nicht an deutschem Kleingeist, daß es nicht so klappt, sondern an der Überheblichkeit des Autors. Zum sogenannten Highlight sagen wir: Nein! Russen, die uns weniger als Star daherkommen, sind uns allemal lieber. Weil sie was zu erzählen haben. Siehe oben.

Schwarz oder Bliemchen?
Auf ein Täßchen mit Hannelore Stingl
"Kaffee und Liebe müssen heiß genossen werden."
Hat der König mit der Wirtin? Hat Frau Wirtin gar geboren? Machte der Herrscher der Dame auch noch andere Geschenke? Das Gerücht sagt: Ja. In Stein gehauen ist das Bildnis, das August der Starke der Witwe Lehmann übereignet haben soll. Über der Eingangstür die Plastik zeigt einen Muselmanen, der einem engelsgleichen Putto "ä Scheelchen Heeßen" reicht. Das Bild schmückt Haus Nr. vier auf der Kleinen Fleischergasse. Sagenumwoben nicht nur diese Plastik, voll Geschichten und Geschichte sind Räume, Bewohner und der Kaffee natürlich.

"Kaffee und Zucker machen den Beutel lucker."
Seit 1711 schenkt man aus in diesem Hause den Kaffee. Ununterbrochen, von Renovierungen abgesehen. Die schwarzen Bohnen gelten als letztes großes Kulturgeschenk des Orients an unsre geografischen Breiten. Und als Symbol für diese und das galante Zeitalter steht der Putto der Portalplastik. Auch wenn andere Schank- und Serviergebräuche des Hauses dazukamen, für seinen Kaffee war der Kaffeebaum berühmt. Das zog Gäste und die moderaten Preise. Heute kommt das Kaffee-Museum noch dazu, es macht vertraut mit der Historie des Getränks. Und nicht nur das.

"Ich schenke Dir zum Ehespiele
als Leitmotiv die Kaffeemühle."
Seit 1998 steht das Haus uns wieder offen. So klar war das nicht, und manch Leipziger, der glaubte, sein Kaffeebaum wär' sang- und klanglos eingegangen. Nein, er gedeiht, sieht schöner aus denn je, und seine Zimmer tragen Namen: Die Lehmannsche Stube ist jener resoluten Frau gewidmet, der schon Sachsens König verfallen sein soll. Angesichts ihres Portraits mag man sich's kaum vorstellen können. Im Schumann-Zimmer saß Herr Robert Schumann wirklich, trank und schrieb. Anzunehmen ist, dass hier vieles für seine "Neue Zeitschrift für Musik" entstand, die neue Maßstäbe in der Musikkritik setzte. Auf den Stammplatz des Komponisten könnt man sich noch heut platzieren, und manch Aberglaube, der darin bestärkt. Im Kaisersaal saß Kaiser Napoleon nicht, aber ein Herr Kaiser verlor hier vor Ort sein gesamtes Hab und Gut. Anderen armen Schluckern wurde und wird seltener gedacht. Auch in weitren Räumen kann man sitzen: der Quetsche, den Zimmern der "Lusatia", dem Wiener Café und dem Café Francais. Und da oben drüber gibt's den Kaffee im Museum satt und ohne Geld. Das heißt: Eintritt frei. Dazu noch jeden Dienstag pünktlich elfe eine Führung genauso ohne Entgelt. Das sollte man zumindest seinen Gästen von weither als Tip mit auf den Stadtrundgang geben.

"Kaffeekanne und Spucknapf haben beide ihren besonderen Platz."
Auch nachlesbar ist "Der ‚Kaffeebaum' in Leipzig" (Lehmstedt). Autorin: Hannelore Stingl. Sie kennt sich aus in Haus und Getränk, seit drei Jahren betreut sie das Museum "Zum arabischen Coffe Baum". Von Hause aus ist Hannelore Stingl Schneiderin, Bibliothekarin, Journalistin, sie nähte, arbeitete an der Universität und kümmerte sich elf Jahre um die öffentlichen Belange des Schauspiels zu Leipzig. Sie sei der geborene Seiteneinsteiger, behauptet die Autorin. Einmal im Monat wird von ihr noch eine Kaffeehaus-Tradition vor Ort ganz offiziell gepflegt, dann ist es Zeit für'n Kaffeeklatsch. Im Café Francais stehen dann Menschen Rede und Antwort, die seltener im Leipziger Rampenlicht stehn und trotzdem was zu sagen haben. Der Puppendoktor gibt dann Antwort, oder man spricht sich über das "Frisiertheater" aus. Jeden letzten Mittwoch im Monat ist Termin.

"Kaffee ohne Tabak ist wie eine Speise ohne Salz."
Im Kaffeebaum sitzt man gemietlich. Das Getränk läßt man sich schmecken, die Küche hat die Mischung raus: Weder ist der Kaffee so bitter, dass in der Tasse der Löffel steht, noch nimmt man 15 Bohnen auf 14 Tassen, dass man auf dem Grund die Bliemchen sehen muß. Zeiten waren gewesen, gut, daß wir erinnert werden. Und vielleicht hat ja der König doch mit der Lehmann ...

"Kaffeehaus - Gotteshaus; Branntweinschänke - Teufelsschänke."

Biber im Familienstammbaum
Enrico Döring schreibt vom Krieg in Person
Admiral Heye nach der Kapitulation: "Bei der Kriegslage im Winter 1943/44 kam für uns auf See nur die Defensive in Frage. Es war bekannt, daß ich aus diesem Grund vielen kleinen Schiffen und Kampfmitteln den Vorzug vor großen Einheiten gab ... Natürlich waren der Neuaufbau und die Herstellung völlig neuartiger Waffen im fünften Kriegsjahr sehr schwierig. Zudem sollte alles sehr schnell gehen. Lange Entwicklungszeiten und Erprobungen waren nicht möglich. Ich ließ mir vom Oberbefehlshaber größere Vollmachten geben, um lange und bürokratische Wege zu vermeiden. Wir selbst hatten keinerlei praktische Erfahrungen in dieser Art Kriegsführung."
Die Niederlage vor Augen greifen deutsche Militärs panisch zu Wunderwaffen und -strategien. Zum Jahreswechsel 43/44 gründet sich der K-Verband der Marine. In ihm vereinen sich sämtliche Kleinkampfmittel, auch die Kleinst-U-Boote vom Typ Biber. Es ist kaum glaublich, was Militärstrategen mit untergebnen Menschen planten: Einmann-U-Boote sollen Feinde vernichten, zwei Torpedos konnt' der Biber tragen. In Eile wurden diese Boote konzipiert, technische Mängel inklusive. Es war ein Himmelfahrtskommando, auf das sich die Seeleute begaben. Drei Viertel von ihnen tauchten nach ihrem Einsatz nicht wieder auf.
Der Opa hat von diesem Geschehen erzählt. Enrico Döring erfuhr eine andere Geschichte seiner Familie. Und Enrico wollte mehr noch wissen von Krieg und Zeit, von Angst und Elend, psychischer Deformation. Er hat recherchiert, geforscht, Menschen gefunden, die dabei gewesen sind. Enrico hat weiter gedacht und sich vorgestellt, wie's wirklich war im U-Boot allein auf dem Ozeangrund. Wie die Ausbildung dieser Einzelkämpfer stattgefunden hat. Wie einer sich fühlte, der als Toter lebte. Enrico hat Fakten mit Fiktion verbunden. "Der nasse Tod" (edition octopus) ist bei Lektüre Roman, doch erfährt der Leser mehr als das Schicksal des Helmut Löser.
Helmut ist keine zwanzig, als er Techniker der U-Boot-Flotte wird. Er überlebt den Dienst auf dem sinkenden Schiff und wird zur Ausbildung weiter empfohlen. Erst spät erfahren die Rekruten, wofür sie sich martern und schinden: Sie sind Deutschlands letzte Waffe unter See. Die neu entwickelten Einmann-U-Boote sollen sie steuern, sie sollen mit ihrem Biber Feinde vernichten, sie sollen andrer Leben und sich opfern. Offiziell wird ihnen der Tod als Konsequenz nicht vor Augen geführt, aber die Männer ahnen, daß sie alles auf Spiel setzen müssen. Helmut Löser entgeht dem "nassen Tod". Für ihn bringt das Ende des Krieges neues Leben. Sein altes kann er nie vergessen.
Nein, Schriftsteller ist er nicht und will's nicht werden. Enrico Döring ist Familienvater und Polizist. Aber von solch Leben zu erfahren, barg die Verpflichtung, es weiter zu geben. "Wenn wir wissen wollen, was der heutige Tag will, müssen wir erfahren, was der gestrige wollte." Und so schrieb er nach Dienstschluß konsequent, fand für das Buch schließlich auch einen Verlag, der druckte. Wir lesen, erfahren, was Krieg wirklich war.
Aufgewachsen ist Enrico in Dresden-Ost, besuchte die Kurt-Schlosser-Schule. Forstwirt hat er gelernt. Der Arbeitsmarkt bot wenig Chancen oder wenig Geld. Enrico beschloß: So nicht weiter. Polizeiausbildung. Jetzt zählt Enrico 28, hat Frau und Tochter, Alter drei. Die Biber, die Schicksale Deutscher im Krieg, bleiben ihm mehr als bloße Freizeitbeschäftigung: Ein Sachbuch zur Technik der Kleinst-U-Boote verfasst Enrico derzeit mit anderen Spezialisten. Diese Seiten des Krieges sind wenig erforscht. Ein Bild kann sich jeder unter http://hometown.aol.de/edoering/homepage/index.html machen. Nein, Schriftsteller möchte sich Enrico nicht nennen. Weiter schreiben aber wird er schon.
"Mit Begeisterung habe ich das Buch verschlungen und muß sagen, daß die Schilderungen so sehr Wirklichkeit sind, daß man annehmen konnte, Enrico war einer von uns", Karl von Hausen, Biberfahrer.



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