www.Crossover-agm.de Die Bücher der Gebrüder Kotte (31.12.2002)

Der Welt Ordnung heißt Chaos
Ja sicher, die Namen haben die Welt verändert: Albert Einstein, Niels Bohr, Werner Heisenberg und der andren mehr. Wir wissen um unsere Lebensbestimmung durch die unfaßbaren Dinge von Elektronen, Quarks und Gravitation. Nachvollziehbar ist es schon, daß Kumpel José nur nach reichlich Tequila und einem Joint den kosmischen Durchblick bekommt. Aber dann wird er beinah zum Messias der Rauschgiftschmuggler, Guerilleros, aller Dschungelhelden. Denn, so beweist José uns allen, auch der Menschen Reaktionen folgen höheren Gesetzmäßigkeiten. "Cosmic Banditos" (German Publishing) schildert dieser Theorie entsprechend einleuchtend alle Handlungen einer Handvoll Banditen, die ihren Lebensunterhalt mit Drogenschmuggel fristen müssen und für ein bessres Ende kämpfen. Und der Roman geht auch wahrhaftig unglaublich gut aus. Autor und Schelm A.C. Weisbecker ist ein kleiner Geniestreich gelungen. "Cosmic Banditos" dürfte zum Kult geraten. Dazu muß man was zu sagen haben. Wozu gäb's denn sonst die Relativitätstheorie und dieses Buch und die angesagtesten Parties mit den intelligent-wichtigen Leuten, wo man drüber spricht? Also: Sammelt die (Lese)Erfahrungen selbst und reicht das Buch weiter. Darauf einen Tequila pur. Zum Wohl, ihr Banditen!

Nick Michaelsen sucht sich selbst und seine Mutter. Die gab ihn frei zur Adoption und verschwand übersee. In San Francisco gerät Nick in die Fänge der Liebe und eines perversen Verbrechers. Stings Song vom "King of Pain" (AtV) nutzt der irre Mörder als Muster und Autor Helge Thielking als Titel seines Debüts. Die Story besticht durch starke Bilder in der Entwicklung des jungen Helden und den Morden und der Lösung. Die literarischen Längen sehen wir dem Autor nach, dem Verlage nicht. Unter einem ordentlichen Lektorat hätte aus diesem Thriller ein gutes Stück Kunst entstehen können. So schwimmt der "King of Pain" mit allen Fluten des Mainstreams, und zu befürchten ist, er geht unter.

Es gibt ja Filme sagenhaft. "Metropolis" war ein solcher. Die düstere Utopie Thea von Harbous blieb im Gedächtnis, nicht nur weil (damaliger) Gatte Fritz Lang sie kongenial in Szene setzte. Bernhard Jugel führte beim Werk jetzt Hörspiel-Regie, und das beeindruckt von Sprecher, Musik bis Mischung. Der BR hat's Kunststück produziert und gesendet. Gar international preisgeehrt wurde dieses "Metropolis". Nachhörbar bei Random House. Toll!

Jetzt ist es da: "Das Dicke Buch der DDR" (Eulenspiegel). Jedem ihrer 40 Jahre gemäß können wir lesen, was im "ersten sozialistischem Staate auf deutschem Boden" so geschah. Wir erinnern an Adolf Hennecke und Frieda Hockauf, Kati Witt und Täve Schur, Britt Kersten und Lutz Jahoda und und und. Der Leser wandelt auf der "Straße der Besten", kann den Wortschatz und Produkte made in gdr betrachten und letztlich an den "Fragen eines lesenden Arbeiters" teilnehmen. Mancher wird bemerken: Nichts und niemand ist vergessen. Auch wenn es öfter so vorkommen möchte. Ein Kompendium, über das sich nicht nur die Omi freut.

Reinhard Heydrich galt als der kommende Mann nach Hitler. Er entsprach dem teutonischen Ideal (vor allem der Frauen): blond, blauäugig, groß gewachsen. (Und paradoxerweise, wenn die Wissenschaft nicht doch noch das Gegenteil beweisen sollte, nicht so ganz reinen arischen Blutes ... - Anm. rls) Heydrich war Gestapo-Chef und Chef des Sicherheitsdienstes, er leitete die Wannsee-Konferenz zur Endlösung der Judenfrage, er wurde 1941 Reichsprotektor auf der Prager Burg. Seine Herrschaft war kompromißlos und brutal. Am 27. Mai des Jahres 1942 traf ihn eine Handgranate des tschechischen Widerstandes. Heydrich starb. Hellmut G. Haasis zeichnet Leben und Sterben des "Sonnenkönigs vom Hradschin" und folgt den Spuren der Attentäter. "Tod in Prag" (Rowohlt) - Ein weiteres Bild brauner und deutscher Zeit. Man schreibt darüber. Wenn auch spät. Wir sollten lesen.

Doris Gercke beeindruckte uns ja bereits mit ihrer stets unkonventionellen Themenstellung im Krimi made in germany. Diesmal mordet "Dschingis Khans Tochter" in deutschen Landen. Und erneut hat Detektivin Bella Block viel Verständnis für Menschen aus den Sowjetrepubliken, auch für die üblen Taten der Gedemütigten. "Die schöne Mörderin" (Ullstein) fasziniert die Männer bis zum Ende. Auch der Leser wird ihr unterliegen.

Daß es bei der volkstümelnden Musik nicht mit rechten Dingen zugehen kann, haben wir vermutet. Und es überrascht uns nicht, daß hinter Bühnen und Lächeln der menschliche Abgrund lauert. Der fesche Downhill-Sepp hat's Zeitliche gesegnet. Eins der Frohsinn-Mädels auch. "Ausgejodelt" (Bastei-Lübbe) haben sie. Autorin Eva Rossmann führt genüßlich die (Un)Art solcher Unterhaltung vor. Wir lesen's mit Vergnügen.

Der deutsche Herbst hat Jubiläum: 25 Jahre. Und deshalb hört man erneut Spektakuläres von Gehirnen, Geheimnissen und anderen Gedanken. Andres Veiel hat die Biografien zweier Protagonisten der RAF-Geschichte genau recherchiert und Erstaunliches festgestellt. Beeindruckend werden wir der Parallelen und Unterschiede der Leben des Alfred Herrhausen und des Wolfgang Grams im Dok-Film "Black Box BRD" ansichtig. Detaillierter noch ist das Buch zur Dokumentation bei DVA. Ichsucht, Egoismus, Einsamkeit sowohl im Underground der Terroristen wie an den höchsten Stellen der Finanzwelt. Ungeklärt der Tod von beiden. Nicht die einzige, überraschende Gemeinsamkeit beider Leben.

Großer Tip: Oh, Weihnacht deine Märchen
Leise rieselt der Schnee. Sind die Lichter angezündet. Werden Öfen angeheizt. Menschen suchen traute Nähe und Gemeinsamkeit. Sie singen und erzählen sich Märchen. Sicher, allzu romantisch ist's nicht bei Zentralheizung und elektrisch Licht. Aber voller Märchen ist die Zeit vorm Fest denn doch. Nein, nicht die zum Anlaß vorgebrachten Worte der Politik sind gemeint. Ein Blick ins TV-Programm beweist: Märchenhaftes jeder Stunde, aller Orten und Kanäle. Theater lockt Kinder wie der Fernsehapparat mit bewährtem Mittel. Alle Jahre wieder: "Der blaue Vogel" und "Das Feuerzeug", "Der Meisterdieb" und "Schneewittchen" und "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel" (Kult zugegebenermaßen) und "Frau Holle", die muß einfach sein. Denn woher sonst käm all der Schnee? Unsere Herzen sind weit. Und wir gedenken all derer, die nicht so wie wir im Märchen zu leben vermögen. "Brot für die Welt" rufen wir. Und SOS für Kinderdörfer. Behinderten kaufen wir die Karten im Dutzend ab. Und ein Stück Stollen spenden wir den Armen, Obdachlosen. Weihnacht, das Fest der Versöhnung. Seht her, ihr Menschen, so schlecht, wie wir meinten, sind wir in Wirklichkeit nicht! Reden wir uns selber zu. Ein bissel ist dann das Gewissen beruhigt. Wir haben uns bewiesen: Das menschliche Herz existiert noch hinter unserer Brust. Gott sei Dank! Und ab Neujahr tickt die Welt wieder richtig.
Selbstverständlich nehmen auch die Künstler die Weihnacht und das Fest zum Anlaß ihrer Kunst. Aber nicht immer wird von ihnen unsre Sehnsucht nach dem Gutmenschen gestillt. Manch Künstler mutet uns grad zum Familienfest die Grausamkeit des Lebens zu. Das ist so. Und das war so. Gut so.
Charles Dickens schilderte in Romanen die Realitäten der Gesellschaft. Wer unten angekommen war, hatte nur per Zufall und Geschick die Chance, am Leben wieder teilzunehmen. "Oliver Twist" und "David Copperfield", es waren "Harte Zeiten". Und vielleicht glaubte Mr. Charles Dickens auch wirklich, daß es zu einem guten Ende kommen könnt. Da gibt es zum Beispiel einen Menschen namens Ebenezer Scrooge. Der ist Kapitalist durch und durch und hat für mildtätige Gaben einfach kein Geld. Basta. Aber dann erscheint ihm ein Engel, der versucht ihn zum Guten. Doch Scrooge ist mitnichten gewillt, seinen Profit unter die Massen zu schleudern. Aber letztlich führt ihm der Himmelsbote vor, worauf Mr. Scrooge verzichtet: Zuneigung und Liebe, auf eines Nächsten Herz. Und so einsam und verbittert möchte Mr. Scrooge nicht sterben. Nein! Der böse Mann ward gewandelt und ein Menschenfreund. "Ein Weihnachtslied in Prosa" (antiquarisch) führt zum happy End, ohne die Realitäten zu vergessen. Ein Märchen, zum Fest dazugehörend.
Auch Alexander Kjelland verfaßte der Zeit angemessen eine Geschichte. "Else" (Manesse) ist ein Geschöpf, das allein durch Anwesenheit die Menschen verzaubert. Aber die Realitäten in Norwegen um 1880 waren hart. Es nimmt nicht Wunder, daß edler Wille und Gefühl nicht bestehen können. Fräulein Else ward geschändet. Fräulein Else verliert die Liebe. Fräulein Else gerät auf die schiefe Bahn und in den Suff. Ihr Ende ist unausweichlich. Am Weihnachtsabend ist es vorbei. "Aber gerade diejenigen, die sich nicht helfen lassen wollen, brauchen doch die Hilfe am nötigsten." Alexander Kjelland beeindruckt mit wenigen Worten. Nah am Herzen sind uns die Mieter des Hauses Arche Noah. Die Lehrerin, die Bestes möcht. Mam Speckbohm, die ohne Medikament behandelt. Svend, der Jüngling mit verratenem Gefühl. Herzlos erscheinen nicht die kleinen Gauner, herzlos sind die, die reich im Leben stehen und ohne Gewissen handeln. Wie "Das Mädchen mit den Schwefelhölzchen" vernichtet die Wirklichkeit Leben eines einfachen Kindes. Sicher haben sich Zeiten gewandelt. Zustände nicht. In Norwegen kennt "Else" jedes Kind. Autor Kjelland gehört zur Generation jener nordischen Erzähler, die Land, Leute, ihre Gegenwart ohne Weichzeichner schilderten: Strindberg, Björnson, Jonas Lie. "Else" - Ein Büchlein nach unsrem Herzen und Gefühl. "Eine Weihnachtsgeschichte" - kein Märchen, aber bestens geeignet zu Vorlesestunden am Kamin und unterm Weihnachtsbaum. Als Geschenk sowieso, für die gediegene Ausgabe steht bereits der Name des Verlages: Manesse. Und wer's geschenkt bekommt und lesen kann, wird mehr verstehen. Das ist bei jedem guten Märchen so.
Seien wir ehrlich, nicht nur zur Weihnacht bedürfen wir der Märchen. Realitäten, auch unsre, sind hart. Aber zur Weihnacht gehören Märchen unabdingbar dazu: Die "Drei Haselnüsse für Aschenbrödel", "Das singende, klingende Bäumchen", "Feuer, Wasser und Posaunen" ... "Else". Nicht immer "lebten sie glücklich bis an ihr Lebensende". Aber schön wär es doch.

Kleiner Tip: 10 Ulb = 1 Chrustsch
Sicher, die Zeiten, als dieser Gag Lachen machte, sind einigermaßen vorbei. Man mag's kaum glauben, aber diese Worte waren anno 61 so subversiv, daß sie einen ins Gefängnis bringen konnten. Und beinah, beinah wär solch Verunglimpfung sozialistischer Führer auch noch öffentlich gesagt worden. Von Studenten! Auf der Bühne! "Wo der Hund begraben liegt" hieß das Kabarettprogramm und sollte anläßlich der Leipziger Herbstmesse Premiere feiern, doch, Gott sei's gedankt, waren Mitarbeiter aufmerksam und konnten das Machwerk verhindern. Sie hörten bei der letzten Probe zu, und für die Mitglieder beim "Rat der Spötter" (Gustav Kiepenheuer) hieß es: Bude zu, Affe tot. Die Mannen um Chef Peter Sodann harrten mehrere Monate im Knast, um dann mit Denkzettel entlassen zu werden. Der Vorgang dieser Aufführung ist exemplarisch für die enge Stirn von DDR-Oberen. Dabei wollten die Künstler mitnichten am Staate DDR rütteln. Nein, die junge Garde hatte Ideale und legte den Finger auf die Probleme, die die neue Gesellschaftsordnung hinderten sich weiter viel zu entwickeln. Das Ende des Staates ist uns bekannt. Nun können wir nachlesen, wie's wirklich zuging. Autor Ernst Röhl ist erfahren als Mann spitzer Feder (u.a. "Wörtliche Betäubung") und er erzählt im Buche auch sein persönliches Mittun. Das liest sich wie ein Kabarett-Text, auch wegen der vielen Zitate behördlicher Sprachpflege. Man fragt sich, was die bess're Kleinkunst war (und ist). Ein Dokument zu Zeit und Geschichte. Wohltuend enthält es sich greinender Betroffenheit und grundlegender Schmähung. So war's. Und so waren wir. Möglicherweise wären ein paar Anmerkungen angebracht zum Verständnis für uns Nachgeborene: Wer kennt denn heut noch Rühmanns Hetzfilm "Das schwarze Schaf"? Aber der Interessierte wird sich eh auf Recherche begeben.

Großer Tip: Klassisch kurz: Friedrich Glauser
So wie sie ist, gäb es die Literatur in der Schweiz nicht, wär er nicht gewesen: Friedrich Glauser. Weniger als zehn Romane von ihm sind auf uns gekommen. Mehr hat er nicht schreiben können. Glauser starb an Jahren kaum vierzig. Aber diese Romane sind des Lesens mehr wert. Auch wenn damalige Gesellschaft ihren Autor kaum schätzte. "Gourama" schildert Leben in der Fremdenlegion, schonungslos. Solch Lektüre wollt kein Verlag. Dann schon eher was zur Unterhaltung, Geschichten von Verbrechen zum Beispiel. Und so verfaßte Glauser seiner finanziellen Not, aber auch Neigung, Erfahrung und Interesse gehorchend Kriminalromane. Es sind nicht die Reichen und Schönen, die handeln und mißhandelt werden. Wachtmeister Studer ermittelt am Rand der Schweizer Noblesse. Friedrich Glauser schildert Zustände, die im Ländli nicht möglich schienen. Aber wahr waren. Und Gegenwart sind, was Medien auch hierzulande in einem fort berichten (müssen). Glauser kannte all das, worüber er schrieb. Sein Leben spielte oft im Schatten, wie Glausers Bücher.
1896 wird Friedrich Glauser in Wien geboren. Der Großvater väterlicherseits grub Gold in Californien, der Vater der Mutter war Hofrat. Glauser flog von der Schule, wurde im Heim erzogen. Der eigne Vater versuchte ihn entmündigen zu lassen. Der Sohn floh, geriet in Haft, wurde Morphium süchtig. 1921/23 diente Friedrich Glauser in der Fremdenlegion. Er arbeitete in Kohlengruben und Krankenhäusern und konnte vom Rauschgift nicht lassen. Seine Bücher trotzte er seiner Gesundheit ab, schrieb zwanghaft und arbeitete stets für wenig Geld, das er zum Leben brauchte. Seine Erzählungen führen in jene Gefilde, die selten Gegenstand von Literatur sind. Denn im eigentlichen Sinne sind sie wenig literarisch. Glauser zeigt Realitäten in Schweizer Gegenwart und Alltag. Edle Menschen und Gefühle, Glück ist rar. Doch trotz allem Pessimismus, trist sind Glausers Geschichten keineswegs. Sie zeigen die kleinen Freuden und Leben als Geschenk.
Neben seinen Romanen schrieb Glauser unermüdlich auch kürzere Prosa und verdiente mit Artikeln im journalistischen Geschäft. All die kleinen Texte Friedrich Glausers sind nunmehr im Zürcher Unionsverlag erschienen: "Mattos Puppentheater", Der alte Zauberer", "König Zucker" und "Gesprungenes Glas". Vier Bände erzählen uns Geschichten und vom Leben des Autors. Denn, was heutzutage kaum noch üblich, die Herausgeber setzen die Texte in den zeitlichen und persönlichen Rahmen Glausers. So sind dem Leser nicht nur die literarischen Helden nah, auch der Autor. Die Erzählungen haben all das, was auch Glausers Romane so lesenswert macht. Sie zeigen Schweizer Gegenwart der zwanziger und dreißiger Jahre keineswegs golden. Genau spüren sie Ängsten und Neurosen der Zeit nach. Und die Texte haben jenen Charme Schweizer Sprache, der uns Deutsch anders lesen läßt.
Die Angst, "Sie geht um" im Alpenland. Wirtschaftliche Not fordert Tribut, die Zukunft ist keineswegs rosenrot. Präzis beschreibt Glauser die Gefühlslage seiner Landsleute und ihr Schweigen. Nur das kleine Elsi spricht's aus: "Gell, du häscht au Angscht?" Die Erwachsenen schweigen. Mit dieser Studie errang Glauser erstmals in seinem Leben einen literarischen Preis und Aufmerksamkeit. Was nicht unbedingt heißt, danach sei ihm Anerkennung beschieden. Finanziell half's. Dies ist auch heutigen Tags und in Deutschland kaum anders. "Der elfte November" ist auch ein geschichtsträchtiges Datum, nur an den Waffenstillstand des ersten Weltkriegs werden wir kaum noch erinnert. Denkmale mit Namen, Namen stehen noch in Dörfern und Parks, Blumen davor sind die Ausnahme. In Glausers Gegenwart ziehen die Veteranen alljährlich davor. Ein Bild der Zeit und Ritual, das immer noch üblich. Auch dem Wachtmeister Studer begegnen wir wieder. Kommissar Maigret ist als Vorbild erkennbar (Glauser hat dies auch nie geleugnet), aber niemals ist Studer dessen Abziehbild. Ohne diese literarische Figur wären die Krimis Friedrich Dürrenmatts nicht denkbar. Und Glauser tat wie sein Nachfahre "Kunst da, wo sie niemand vermutete". Er schrieb Kriminalromane. "Wer ist der Nachbar in der Stadt? Es ist die Familie im ersten Stock, die einen Hund hat, der um Mitternacht, wenn man gerade einschlafen will, zu bellen anfängt. Oder die Tanzlehrerin im dritten, die am Sonntag morgen, wenn man ausschlafen möchte, um sieben zu trainieren beginnt. Es ist das Baby, das Nächte durchschreit, weil es zahnt. Aber alles, was zu Hund Baby und Tanzlehrerin gehört, die Familie der Nachbarn, wird nur hinter einem Schleier wahrgenommen, Schemen sind es, denen man im Stiegenhaus begegnet und vor denen man den Hut lüpft ..." Glauser ist ein genauer Beobachter. Glauser beherrscht sein Handwerk. Er ist Schriftsteller, den es zu entdecken gilt. Wir empfehlen.

Da kann einer erzählen. Jenseits pompöser Themen und Technik. "Es war wie der eingefrorene Moment auf einem Stilleben", sagt einmal der Erzähler, und genauso sind Gregor Sanders Geschichten. Er nennt sie "Ich bin aber hier geboren" (Rowohlt). Nein, spektakulär ist wirklich nichts: Der Regisseur mit Osteuropabonus hat Erfolg. Der Arbeitslose erkämpft einen Weltrekord, indem er aufs Meer schaut. Nur so. Und "Wenn, dann" ist eine der schönsten Liebesgeschichten heutiger Literatur. Und wenn man bedenkt, das Buch ist das Debüt des Schweriners, dann haben wir Hoffnung auf's weitere Werk. Bitte schreiben Sie. Jetzt.

Sicher, auch die DDR war Regime. Und wie es Staaten so eigen, was der Doktrin entgegenläuft, muß gemerzt werden. So geraten Bürgerrechtler vor Gerichte, in den Knast und unter's Fallbeil. "Opposition und Widerstand in der DDR" (C.H.Beck) schildert politische Lebensbilder und kaum Bekanntes. Es scheint heute unglaublich, wofür man Leben riskierte. Menschen, die aus ehrlicher Überzeugung handelten und handeln mußten. Anders konnten sie nicht. Wir erfahren Namen und Schicksal von zu Unrecht Vergessnen. Die Autoren berichten Tatsachen objektiv und ohne Häme, ohne Tränen. Das ist bei dieser Historie nicht immer der Fall. Vom Sammelband erwarten wir den zweiten Teil.

Deutschlands braune Jahre erfahren beinah in jedem Verlagshaus Aufarbeitung. Biografien, Monografien und diverse Untersuchungen füllen die Verkaufsregale. Nunmehr wagen sich Autoren an Geschichten, die in jener Diktatur handeln. Jenseits von Widerstand und Heldenverehrung. "Tod in Breslau" (btb) verfolgt die Arbeit eines Mannes zwischen SA und Ganoven, Loge und Liebe. Autor Marek Krajewski enthält sich der Wertung, er erzählt und beweist, daß es auch im historischen Roman unbekannte, frühere Zeiten zu entdecken gilt.

Da werden einem die Klischees nur so um die Ohren gehauen: Mädchenhandel, übermutige Journalistin, taffer Ermittler, ausländische Nutten, ultrabösblöder Gangster. Was uns Ute Elias mit "Stumme Schreie im Wind" (Neue Literatur) auftischt, ist ein Wirrwarr ohne Sinn und Verstand. Ein Lektor hätte dies verhindern müssen, solch ein Job und Aufgabe ist einem Verlage unverzichtbar. Und das Werk hätte zumindest einer grammatischen Durchsicht bedurft: Ein Unterschied zwischen Kriminalisten und Kriminologen existiert sehr wohl. Der Superheld behauptet stets, er heiße Kriminalkommissar Chris Sigel. Mein zweiter Vorname heißt Kritiker, und ich schüttle den Kopf.

Bernd Zeller nennt uns "101 Gründe kein Ossi zu sein" (Piper). Tja, das war's und kommt nicht wieder. Glück, daß deutsche Mehrheit nie so leiden mußte. Den Durchlittnen wird das Buch den Spaß bereiten. Es ist wahr, man war dabei und kennt all diese Gründe nur zu gut: Angela Merkel und die Puhdys, das Wir-Gefühl und die sozialpolitischen Maßnahmen, Treuhand, Plattenbau und NBI, ... Verschrecken wird der Ton im Buch nur jene Leser, die nicht lachen können. Die von hier und die von drüben. Wir hatten das Vergnügen.

Da schaudert's: Ins schottische Schloß bittet Sir Mortimer die erste Garde der Literaten zum fairen Wettstreit mit der Kunst. Aber einer nach dem andren verendet sehr bizarr. Man erfährt von düstren Legenden, geheimen Gängen, Folterkammern und Intrigen. Und daß all der Schrecken die Literatur wirklich nur ernst nimmt, verblüfft. Herr Michael Schmidt veröffentlicht ein unglaublich auf ihn gekommnes, unbekanntes Manuskript von Dorothea S. Baltenstein. Da feiert der Schauerroman fröhliche Urständ. "Vier Tage waehrt die Nacht" (Eichborn) ist zu empfehlen. Weniger Grusel erprobte Gemüter sollten die Bettlektüre am Tage genießen. Denn es heult der Wind nicht nur beim Flammentod der Lady Lorraine.

Das Buch war auf dem Index. Der Verfasser zerbrach an seiner Neigung und dem Gefängnis. Ohne Verhüllung, mit sinnlicher Lust erzählt Oscar Wildes "Teleny" eine schwule Liebesgeschichte. Aber nicht nur über diese sexuelle Erfahrung berichtet Camille Des Grieux offenen Wortes. Nunmehr ist dieses skandalöse Werk auch als Hörbuch (der sprachraum) ein Genuß. Schad immer wieder, daß die wirklich guten Liebesgeschichten immer so tragisch enden müssen. So ist Literatur, ist das Leben.

Es gibt Autoren, die können einfach erzählen. Von Hause aus war Jean Vautrin Regisseur und filmte mit all den französischen Stars. Andrerseits ist Jean Vautrin Literat. Sein "Billy ze Kick" geriet zu einem der schrägsten Romane aller Zeiten (unbedingt lesen!). "Haarscharf am Leben" schildert Familie und Alltag vom lebensechten Menschen ungeschminkt. Jetzt erreicht uns "Das Herz spielt Blues" (Bastei Lübbe). Eine wunderbare Geschichte aus den Sümpfen Louisianas. Outlaws und Sklaven, Liebe und Jazz, ... das Buch ist magisch, mal Western, mal Schnulze, mal historischer Roman. Nicht umsonst ward es mit dem Prix Goncourt preisgeehrt.

Der "Friedhof der Träume" (e.v.a.) ist eine jener privaten Geschichten, die Gesellschaft offenbart. Held Petr Christian sah/sieht seinen Platz auf dem Gottesacker. Sein Sohn sucht Profit mit billigen Juwelen. Lehrerin Eva Troupova unterschrieb bei der Bürgerbewegung und tötet sich nach Jahrzehnten. Veroslav Mertl schildert Politik und deren Wirkung in Mestecko, jenem Flecken, wo man glaubt, die Zeit wäre stehen geblieben. Ist sie nicht. Sehr wohl zeigt sich Faschismus und Prager Frühling, sozialistische Lebensart und kapitale Euphorie - ein halbes Jahrhundert im unspektakulären Privaten. Kunst da, wo man sie kaum vermutet hätte, und ein Roman bester Erzähltradition. Beeindruckend.

Außer- und innerliterarische Literatur
Ich kann's ja verstehen: Irgendwie gehört man nicht dazu und will auch nicht dazu gehören. Und so schaffen sich außerliterarische Literaten außerliterarische Bücher. Und wir lesen dann Texte, die eigentllich keine sind. So geht das. Bereits zum dritten Male beglückt uns "Social Beat. Slam Poetry!" (Killroy Media). Da sind sie all vereint: Der Herr Philipp Schiemann geht samt Bonnie und Clyde Popart. Der Herr Karsten Flenter entdeckt die Lyrik als Funsport. Der Herr Henning Chadde ist zurück aus dem Land der Richter und Henker. Sir Jan Offs Beitrittsmiezen sind einzunehmen, mehr von Off-Spin s.u. "Hanoi Hooligans" (Verlag?), und und fulminant hörbar ist der Meister "Im Kessel der Enthusiasten" (Verlag Andreas Reiffer). Laabs Kowalski schildert ganz perverse Muttergefühle, hat andrerseits lyrische Originalität und meint "Das Herz ist ein Reiter auf einem epileptischen Pferd" (Edition Königsblut). Christian Wolter kennt die Halbwertszeit von Scheiße und "Die Frösi-Bande" (Killroy Media). Aber vielmehr ist noch drin im Buche voll mit Social Beat.
Ich kann's ja verstehen: Irgendwie gehört man dazu und will auch dazugehören. Und deshalb haben sich innerliterarische Literaten ihren Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt geschafft. Wir lesen (und hören) dann Texte, die wirklich Literatur sind. So geht das. Iso Comartin hat "Die Besten" (Piper) all der letzten 25 Jahre im Bande vereint: Herr Gert Jonke begegnet einem Schrank im Flur. Herr Michael Lenz sieht seine Mutter sterben. Frau Angela Krauß schickt ihren Vater zum Dienst. Und Herr Ulrich Plenzdorf hat gigantische Kindersorgen. Aber viel mehr ist noch drin im Buche voll mit Preisgeehrten.
Klar: Beiderseits habe ich seitenweise Lesevergnügen. Und logisch finde ich da wie dorten im Bande neben Kunst auch überstrapazierte Sprache, falsche Bilder, schriftliche Nichtssagungen. Schlechte Texte gibt's in- und außerhalb der Literatur. Das Faktum ist nicht neu und auch nicht abzuschaffen. Ich kann's ja verstehen, daß Handel und Kritik, daß Wissenschaft und die Autoren selbst ihre Schubladen brauchen, aber mir sind allemal Regale lieber, offen und mit Büchern voll, seien die nun außer-, inner-, über-, neben-, unter-, mittel-, ... Hauptsache sie sind literarisch und bereiten Vergnügen. So geht das.

Ehebaldigst Hochzeitsreise nach Ägipten
"Mr Salteena war ein älterer Mann von 42 der gerne Leute zu sich einlud. Bei ihm wohnte ein ganz junges Mädchen von 17 namens Ethel Monticue." Tscha und da erhält dieser Mister S. ein Paket samt Brief und wird zum Freund Bernard Clark gebeten. Mit neuem Zilinter beschloß Mister S. in Zug und die eckskwisite englische Gesellschaft einzusteigen. Ethel nahm er mit sich von wegen Erziehung. Tscha und klar passiert´s. Ethel verliebt sich in den jungen Clark. Salteena wird königlicher Leibgardist. Alle kriegen viele schöne Kinder "bloß der Earl hatte zwei mickrige Mädchen". Tscha was sich so wie Kindermund liest ist wirklich welcher. Daisy Ashford schrieb ihren Roman "Junge Gäste oder Mr. Salteenas Plan" (Artemis & Winkler) im Alter von neun (9!) Jahren. Tscha das Buch macht Hoffnung und ist Kult (schon wegen H.C. Artmanns feinfühlsamer Übersetzung). So enthüllend belauscht hat kein andrer die gehobne Gesellschaft von 1900. Grundschüler ran an die Feder (ich bin zu alt) und Romane über Eltern Geschwister Dooferwaxne geschrieben! Rechtschreibung wurscht. Tscha vorher aber lesen.

Die Selbsttötung und der Spaß danach
Wahrlich hatte Chaim keine Lust mehr am Leben und löschte sich aus. "Ich glaube, sie hat geweint bei meinem Begräbnis, nicht daß ich angeben will, aber ich bin mir fast sicher. Manchmal kann ich mir richtig vorstellen, wie sie jemanden, dem sie sich nahe fühlt, von mir erzählt, von meinem Tod. Davon, wie sie mich ins Grab hinuntersenkten, so klein und erbärmlich wie eine kaputte Schokoladentafel. Davon, wie sie es nie wirklich geschafft haben. Und danach verpaßt er ihr einen Trostfick." Auch in der jenseitigen Welt kann Chaim die geliebte Orga nicht vergessen und malt sich aus, wie es wäre. Doch erstmal findet der dream boy Arbeit in der "Pizzeria Kamikaze" (Luchterhand). Allerdings hatte Chaim sich das Leben nach dem Tode so nie vorgestellt. Angekommen ist er nämlich da, wo alle Selbstmörder anlangen. Da geht das Dasein weiter wie wenn nix gewesen mit allen Hoffnungen, Sorgen und Wünschen. Im Pub begegnet Chaim Freund Uzi, dessen gesamte Familie sich im Selbstmörderjenseits wieder vereint: Mutter, Vater, Uzi, Bruder. Mit Uzi Freund blickt Chaim wie ehedem von der Theke Mädchen nach. Die mit Schlaftabletten Toten sind gut anzuschaun und vom Morde nicht entstellt. Da Chaim aber die Sehnsucht nicht losläßt, begeben sich die Kumpels auf die Suche nach dem geliebten Wesen Orga. Die Fahrt ist wie jene vor dem Tod. Sie schlagen sich durch Viertel der Araber. Sie lassen attraktive Anhalterinnen bei sich einsteigen. Sie feiern die parties ultimativ. Das bißchen Romantik, was Chaim so erlebt ist am Morgen auch wieder nichts außer ein großer Haufen abgestandener Dreck. Aber letztlich, ganz zum Schluß kommt Orga wirklich. Sie hatte es ohne Chaim in reality nicht mehr ausgehalten und machte sich tot und teilt nun Chaim mit "wie wichtig er ihr sei, und daß sie wisse, daß sie ihn verletzt habe, und erst nachdem er Schluß gemacht hatte, begriffen hätte, wie sehr, und daß sie sich freue, ihn wiedersehen zu können, damit sie ihn um Verzeihung bitten könne". Aber zum happy end langt's wieder nicht hin, denn Orga folgt jenem Messias, der ihr den Weg in eine bessre Welt weist. Da ist's für Chaim wieder aus, aber Freund Uzi, der wartet und die Pizzeria freut sich kamikaze auf Chaims engagierte Mitarbeit. Doch so ganz kann Chaim auch jetzt nicht die Hoffnung aufgeben und setzt für Orga heimliche Zeichen.
Erzählt man von diesem Buch Etgar Kerets, fängt man sich mächtiges Stirnrunzeln ein. Selbstmörder als jugendliche Helden scheinen wissenden Alten für Bildung und menschliche Werte nicht geeignet. Von wegen Vorbild, Heroentum und Lebensmut. Doch grad eben das ist der Spaß. Ob Israel, ob Madagaskar, Sibirien und Kap Hoorn, oder gar im Jenseits, das, was ein jeder sich vom Leben erwartet, ersehnt und erhält, unterscheidet sich unwesentlich nur in jeder Weltgegend. Und bei aller Tragik des Daseins auch unter Selbstmördern darf heftig abgelacht werden. Eingedenk dessen harre ich bis zum bittren Ende in Ostdeutschland aus und gebe den Starrsinn nicht auf, das zu bekommen, was ich mir erhoffe, erträume erwünsche. Änderungen vorbehalten.

Der Detektiv sitzt hinter seinem Schreibtisch, als "Die kleine Schwester" (Carlsen) hereintritt. Sie ist etwas außer der Ordnung, aufgeregt und bittet um Hilfe. Orrin, den Bruder, läßt sie suchen, er ist in der großen Stadt unauffindbar. Natürlich übernimmt der Detektiv den Fall, auch wenn die Finanzen nicht stimmen. Natürlich erliegt der Detektiv dem Charme dieser Frau. Natürlich steckt eine ganz und gar dreckige Affäre dahinter, und der Detektiv überlebt nur knapp. Das ist der klassische plot. Das kennen wir von Raymond Chandler. Und von ihm ist die story auch. Michael Lark hat sie in Bilder gesetzt, schön schwarz und düster, lesenswert bis zum bitteren Ende. Es muß nicht immer Film sein oder Buch, dieser Comic ist von eigner Qualität und Stimmung, etwas für gute Krimistunden.

Gnadenloser Blick hinter die üblichen Phrasen
Unseren Zeiten sehr angemessen ist der Wettbewerb auf allen Ebnen: Um den ökonomischen wird gestritten. Höchstpersönlich muß jedwede Arbeitskraft sich ihm stellen. Sportlich gilt er sowieso: Spiel, Satz und Sieg um Millionen. Auch für die nachkommende Generation (also die Kleinen) veranstalten gesellschaftliche Kreise gern solche Kämpfe: Jugend forscht und Jugend läuft und Jugend wächst und singt und tanzt. Am Ende winkt Gewinnern verdienter Lohn und Anerkennung manchmal gar ein Händedruck von ganz oben. Nebenbei sind solche Wettbewerbe völlig natürlich auch die Vorbereitungen auf alles weitere im Leben. Da streitet jeder gerne mit, ach was, ein jeder muß es! No way out!
"Jugend schreibt" ist ein Wettbewerb, der auch gern ausgeschrieben wird. Und oft bemängelt drauf die offizielle Seite samt der Lehrer im Fach Deutsch: Die Jugend liest nicht, schreibt nicht, geschweige denn noch mehr Texte als eine Schulpflicht ihnen vorschreibt. Das ist eine Falschaussage. Erst kürzlich widerlegt durch "Chaos ICH?" (hasloe/fockeberg). "Chaos ICH?" war ein Wettbewerb des Literaturbüros in Leipzig "zur lage arbeitender und nicht-arbeitender meldepflichtiger aufstrebender absteigender stimmbrüchiger jugendlicher in leipzig und an seinen rändern". Nun vereinigt das Buch die besten Texte von gut einem halben Hundert jungen Schreibern. Und diese müssen sich keinesfalls vor (oder hinter) bekannten Autoren verstecken. Die Lektüre bringt Gewinn (grad für die Generationen darüber), denn die Texte zeichnen Gegenwart vor Ort ganz ohne Phrasen, geschraubte Sätze und wohl klingende Metaphern. Dort sind Leben und Literatur wirklich wahr: Beim Zivi in der Drogen-WG. Beim Lehrling ohne Lohn. Beim crash-kid auf der Strecke. Bei kaputter Liebe. Bei der Suche nach Geborgenheit und ICH. Und die Texte sind im Gegensatz zu (fast allem im) Fernsehen, Film und Bibliothek echt authentisch. Der geneigte Leser begreift recht schnell: "der jetzige zustand ist nicht haltbar". Dies schreibt unsere Jugend ganz ehrlich mal hin. Bleibt zu wünschen, daß das Buch offizielle Stellen samt Lehrkörper sich zu Brust und Herzen nehmen. Die werden gar nicht glauben (können), was sie lesen. Daß sich die Jugend drin festliest, steht außer Zweifel. Viel Spaß!

Superman und Heinrich Himmler. Die Alibis der Psychopathen
"Ach, was muß man oft von bösen Kindern hören oder lesen ..." Horrormutter frostet tote Babies. Sexmonster verspeist Leiche der Freundin. Jugendliche werfen Neger vor rollende Bahn. Verdrängung funktioniert gesellschaftlich wie ganz privat. Obdachlose, Kinderficker oder Krüppel - die Sorte Mensch macht einfach nichts her in angesagten rsp. angesehenen Kreisen. Dumm dran ist nur, solch Unpersonen existieren wirklich. Da nützen Gefängniszellen, Asyle, Heime und Brücken recht wenig. Der Schlaue weiß, das unangenehm Böse lauert überall. Und manchmal stellt einjeder selbst erschrocken fest, auch in mir drin ist nicht immer alles gut und ehrlich. Auch darüber spricht keiner gern. Dr. Hyde hat Mr. Jekyll bis zum mörderischen Ende verschwiegen. Heinrich Himmler wurde als Landser gefangen genommen und konnte sich an nichts mehr erinnern. Auch die Töter von Nathalie, Jennifer und Kim erscheinen beim Prozeß nicht als Monster. Äußerst sachlich berichten sie drüber, wie sie Messer, Hand und Glied an Körper legten. Danach waren es Leichen. Sogar Clark Kent versteckt sein Wissen, daß er andererseits der echte Superman ist. Im Guten wie im Bösen, der Mensch allein, zu zweit und zusammen scheint nicht nur schizophren, er ist´s und weicht seinen dunklen Trieben sehr gern aus.
"Die verdeckten Dateien" (Dumont) sind eine brilliante Analyse dieser verdrängten Gesellschaft. Kultautor Derek Raymond verteidigt vehement sein Tun und Schreiben und damit die sonderbare Literaturspezies des roman noir. Ein solcher Roman führt Leser in die o.g. Abgründe seines/unseres humanen Wesens, gewalttätig, furchterregend, ekelhaft, und ist beinahe "die letzte verbliebene Möglichkeit festzustellen, daß die Welt, so wie sie hätte sein sollen, nie existiert hat und nie existieren wird, aber daß wir uns weiter wünschen werden, daß sie so sein könnte". Daß diese Art Literatur derzeit menschliche Gesellschaft am besten beschreibt und dafür ungelitten ist, beweist Raymonds autobiografischer Text beeindruckend, radikal, logisch. Der roman noir schildert Untaten, Deformationen und Brutalität einer Gesellschaft, die sich in ihren Grundfesten selber belügt. Folgerichtig werden solch üble Bücher nicht gern verlegt. Pilcher, Konsalik und Ingrid Noll sind einfach netter zu lesen und rechnen sich gut. Der Dumont Verlag Köln startet mit Derek Raymonds Plädoyer für die Literatur der Wirklichkeit die neue Reihe Dumont Noir. Das hören wir gern und sind gewillt, uns der schrecklichen Wahrheit des undergrounds in sich und auf der Straße zu stellen. Derek Raymond bleibt "dabei, daß dieses Leben, wenn die Chancen gegen einen stehen, ebenso nützlich ist wie jedes andere. Man wird gehetzt, und es ist gefährlich, aber es ist weder eingebildet noch langweilig". Wir lesen und sterben lieber "mit offenen Augen" als in der Traumfabrik.

´s beginnt, wie´s beginnen muß: Frau bittet Detektiv, Gatten zu suchen. Und deshalb macht sich Kristof Kryszinski auf und gerät in einen absonderlichen Strudel von Ereignissen. Ohne Auto käm` Geschichte und Privatermittler nie voran. So schleicht er am Anfang mit einem ramponierten Unfallwagen durchs Geschehen und beendet seine Recherchen dann gefühlvoll bei einer rasanten Verfolgung im schnellen Ferrari. Letztlich bekommt die story richtig drive und der Detektiv alle möglichen Blessuren. Bis dahin fährt der Leser durch den Ruhrpott, trifft auf Käuze, Killer, Kokain und Katzen. Kristof Kryszinskis Vermutungen und Kommentare liegen auch mal arg daneben und manchmal richtig im Klischee. Macht aber nix, wir mögen ja Krimis eben aus diesen Gründen. "Prickel" war Autor Jörg Juretzkas mit Preis bedachter erster Fall, "Sense" (Rotbuch) ist der zweite. Und Detektiv Kryszinski hat was als Roman- und als Figur an sich. Mehr her.

Simplizius macht Wende
Das sind sie gewesen, die Tage. Von 88 Januar mit Karl und Rosa bis zu den erstletzten Wahlen anno 90. Held Benjamin Grasmann erlebt alles in Leipzig mitten drin im Geschehen. Er nimmt Behausung im Rabet, einer Straße, die für Leipzig exemplarisch verfiel (und wieder aufgebaut wird). Und angekommen in der Stadt musiziert dieser big Ben selbst irgendwie die aufmüpfig grauen Lieder für die Alternative, begleitet von Gesa, der Liebe. Er gerät zufällig in die international östliche Opposition. Demonstriert und redet, singt und löst die Stasi auf. Am Ende ist sein Land am Ende. Seine Liebe auch. "Rabet" (via verbis) nennt Martin Jankowski seine Geschichte von der Geschichte. Fast dokumentarisch ist Benjamin Grasmann bei den Ereignissen dabei. Jankowski berichtet vom Geschehen, aber er erzählt uns leider keine Geschichten. Und dies ist schad. Er hätte doch den Niedabeigewesen(seinkönnend)en etwas vom Fühlen, vom Hoffen, Bangen der Zeit beibringen können. Jetzt handeln Heroen und haben kaum Psyche. Der Roman mutiert zum Geschichtsbuch und das Rabet zum Verfassungsort der Bürgerbewegten. Dabei gab´s auf dieser Straße auch Alltag von der Disco bis zum Kohlenhandel, von Heinz und Brigitte bis zum Bauarbeiterstandbild mit roter Scham. Davon hätte ich gerne gelesen und wäre danach allen Debatten mit Interesse gefolgt.

Menschen fressen - kein Problem
Und sie faszinieren immer wieder, die Monster, die nach dem Blute Dürstenden, die Killer in Serie. Und literarisch kann uns der Ekel nicht eklig genug ins Würgen bringen. Nein, dorten darf's gern 'ne Portion humanes Herz, Haxe, Hirn oder Hoden mehr sein. In dieser, seiner einzigen Art ist uns Herr Dr. Hannibal Lecter richtig ins Herz rein gewachsen. Und rechtens, der böse Chefintrigant Krendler mußte letztens dran glauben, hat er doch dem ehrbaren Fräulein Clarice Starling viel des Leids getan. Deshalb darf man ihm bei lebendigem Leibe das Hirn als Delikatess aus dem Schädel löffeln. Vorher springen im lieblichen Florenz die Gedärme einem netten Polizisten aus dem Leib. Tja und ansonsten, ansonsten passiert nicht viel mehr im Reißer von Thomas Harris, dem "Hannibal" (TB bei Heyne). Haben wir ehedem beim "Schweigen der Lämmer" geschrien, hat uns ehedemer beim "Roten Drachen" der Atem gestockt, beim "Hannibal" ist Saft und Spannung gar nicht drin. Selbst ein mitleidiges Lächeln hat sich erübrigt: Der Hannibal hat ausgespielt, der Horror ist gewesen.
Aber tatsächlich, Mörder in Serie, die Perversen, die Killer, sie sterben nicht aus. Momentan sucht man Peggy - Sandra, Marie, Ulf, Torsten, sie folgen, irgendwann, aber auch sie werden getötet, manchmal bestialisch. Mit wahrer Medienlust präsentieren uns Rundfunk und Fernsehen die Täter und blasen versteckt offensichtlich zur Hetzjagd. Heidemörder, Rosa Riese, der Schlächter von Sankt Pauli - wow, was hat man sich gegruselt, mitgelitten und die Todesstrafe gefordert. Zum Phänomen Serienkiller in Deutschland hat Stephan Harbort recherchiert, und er hat Erstaunliches zu Tage gefördert. Jedes Jahr mindestens einen Mehrfachmörder überführt die Polizei in dieser Republik. Das ist kein Grund zur Panik, das ist kein Grund der Beruhigung. Die Abart Mensch und Töter wird es immer geben, sie ist von guten Menschen nicht zu merzen. Harbort kennt sich in der Szene aus, ist Oberkommissar und hat in vielen Fällen ermittelt. "Das Hannibal-Syndrom" (Militzke) beweist, die Mörder sind Menschen, auch sie haben um Hilfe gerufen, irgendwann brach bei ihnen der Damm humanen Verhaltens, dann mußten sie die Leute schlachten. Wie gesagt, no panic, doch hinter Verschluß gehören solch Mörder Zeit Lebens. Was man in diesem Buche lesen kann (und muß), ist wahrlich schwer zu verkraften. Wirklich, Menschen wurden gekocht und gegessen, Kinder gefrostet, Frauen zerhackstückt, und auch bloß mal geguckt, wie's drinnen im lebendigen Leibe so aussieht. Da braucht's für den Leser starke Nerven. Man kann eben sich nicht auf die morbide Phantasie eines Horrorautors berufen. Diese Perversionen sind nicht ausgedacht, sie sind lebensecht. Ein Buch - mutig, ehrlich, ungeschönt, unser aller Hannibal-Syndrom wird vorgeführt und nicht befriedigt.
Sicher, guten Horror liest man gern. Doch sollten Untaten ab und an aufs Dasein zurückgeführt werden. Bizarre Geschichten schön und gut, doch ehrlich, schön und gut müßten sie sein. Was uns mit "Hannibal" geboten wurde, spottet wirklich dem Horror und dem Geschmack.

AUS MANGEL AN BEWEISEN
(Keine Verteidigung des Kriminalromans der DDR)

Erst Tote können zur Sektion freigegeben werden. Daran ändert sich nichts. Wie auch an literaturwissenschaftlichen Untersuchungen. Die zelebriert man weiter günstigenfalls nach dem Ableben des Autoren. Dann ist der Blick aufs Gesamtwerk ohne Einschränkungen möglich, kann man Zeitzeichen und Spuren (end)gültig deuten. Manchmal vergehen auch Staaten. Nach deren Untergängen erst kann geprüft werden, ob es zu Lebzeiten in ihnen Literatur gab, oder ob nicht, und wenn ja welche. Die DDR ist Geschichte. Einige literarische Namen werden Kompendien vermerken. Wahrscheinlich nicht jene, die sich am sozialistischen Krimi versuchten. Was ist er denn überhaupt, dieser Krimi an sich und im besonderen? Dieser Frage nehmen sich ernstzunehmende Wissenschaftler selten an. Haftet doch am sex and crime (ob zu Gunsten oder Ungunsten des Volkes) jener untilgbar niedere Geruch der unliterarischen Literatur. Anerkennenswert ist jede Arbeit auf diesem Gebiete. Auch Brigitte Kehrbergs Versuch, den "Kriminalroman der DDR von 1970 - 1990" zu analysieren. Die Verfasserin sieht sich mit einer kaum ausgeprägten wissenschaftlichen Diskussion konfrontiert. Sie muß sich für diese Dissertation wissenschaftliche Methoden selbst erarbeiten. Und sie muß DDR-Kriminalromane lesen. "Graue Langeweile stellte sich ein, die Texte waren (...) von künstlerisch derart dürrer Qualität, daß sich eine literaturwissenschaftlich-ästhetische Annäherung an den Gegenstandsbereich als einigermaßen obsolet erwies. / Und die mühevolle Beschaffung der Exemplare von Altbuchhändlern nach Kilopreis etc. umso ärgerlicher erscheinen ließ." Wer hätte nicht spätestens ab diesem Moment Geldsäckel und Nerven geschont. Brigitte Kehrberg aber blieb tapfer. Ihre schlußendlichen Ergebnisse lohnen die Aufopferung nicht.
"Der Kriminalroman der DDR ist von den Entwicklungslinien, die das Genre bis zum Jahr 1989 durchgemacht hat, so total abgeschnitten, daß, pointiert gesagt, nur eine Benennungsanalogie besteht. Milder ausgedrückt: Der Kriminalroman der DDR ist eine ungleichzeitige Veranstaltung, weil er literaturhistorisch längst überkommene Muster wieder und wieder reproduziert." Der Vorwurf der Verfasserin verblüfft. Die DDR hat sich (spätestens seit dem 13. August 1961) nicht nur von literaturhistorischen Entwicklungslinien getrennt. Provinzialismus beklagt man noch heute von Dederonschürze bis Trabant 601 deluxe. Im vormundschaftlichen Staat blieb Internationalität ein Fremdwort. Mangelnde Rezeption ist den Kriminalschriftstellern somit nicht vorzuwerfen, sie haben ja Doyle, Christie und Co. wirklich gelesen und hätten gern noch in andere Bücher geschaut (wie auch der Leser), nur wie? Zum anderen strafte die "internationale" Krimiszene den Kriminalroman in den Farben der DDR mit schierer Ignoranz. Wenn Kinder in der Grube spielen, sind sie nur von außen noch zu retten. Brigitte Kehrbergs eingangs ausgeführte Hypothese ist eine wahre Binsenweisheit.
Sie bleibt so nicht die einzige. "Der Kriminalroman der DDR steht immer unter der Dominanz einer ideologischen Vorgabe ... Deswegen dient der Kriminalroman der DDR dazu, Bilder und Wertevorstellungen von der und über die DDR zu affirmieren, sie massenhaft zu verbreiten und einzuüben ... Die ‚kritische' Potenz des DDR-Kriminalromans besteht in einer je nach politischer Großwetterlage erwünschten (...) Symptomkritik, nie jedoch Systemkritik." Was hat die Verfasserin in einem totalitären System erwartet? Systemkritik? Autoren, die solches versuchten, verhaftete ein Staatssicherheitssystem bereits nach Bekanntwerden eines Manuskriptes. Ihre Namen wissen Medien, Wissenschaftler und Akten. Vielleicht existiert so noch eine ganz andere Kriminalliteratur der DDR in Archiven und Behörden.
"Der Kriminalroman der DDR reklamiert für sich die Intention, ‚realistisch' zu sein." Der (ehemalige) DDR-Leser des Kriminalromans der DDR wird das auch noch heute bestätigen, beim Wiederlesen vieles wieder erkennen. Hierbei ist die Verfasserin auf der richtigen Fährte, wenn sie schreibt. "Für die Einschätzung der dargestellten Wirklichkeiten wird man öfters auf ‚unbelegbare', aber dennoch höchst präsente lebensweltliche A prioris zurückgreifen müssen". Dies ist das geübte Zwischen-den-Zeilen-Lesen. Das versucht auch die Verfasserin. Ihr ist bekannt, daß in den Restaurants der DDR Schildchen mit dem Hinweis "Sie werden plaziert" existierten. Die Verfasserin bemerkt ganz richtig, daß im Kriminalroman der DDR genau diese Schildchen gar keine Erwähnung finden, dafür aber freundliche Kellner, reichhaltiges Speisenangebot u. drgl. mehr. Ein gewichtiges Argument der Verfasserin dem Kriminalroman der DDR den "Realitätsbezug" abzusprechen. Ein kurzschlüssiger Beweis, denn dies ist weder ein pro- noch contra-Argument. Es gab (vornehmlich in den Restaurants der DDR, wohin der DDR-Bürger seine westdeutschen Gäste hin ausführen wollte, in die city, ins noble Interhotel) gewiß diese Schildchen. Jedoch fand man in der Kneipe um die Ecke stets Platz und Zeit für den Kurzen und fürs Bierchen. Es entsteht der Eindruck, daß die Verfasserin beweisen möchte, was für sie eigentlich keines Beweises bedarf.
Die Kriminalromane der DDR schildern Verbrechen. So ist ihnen eine "kritische" Potenz inhärent. Denn, so die These, nach einer Übergangsphase wird es Verbrechen nicht mehr geben. (Ausführlich geht die Verfasserin auch auf den Streit Hasso Mager - Fritz Erpenbeck zu diesem Thema und dessen Auswirkung auf den Kriminalroman der DDR ein.) Die Staatsführung der DDR hatte die Rechnung ohne den Menschen gemacht. Verbrechen gediehen auch im Sozialismus nicht zu knapp. Die offizielle Berichterstattung von Presse, Funk und Fernsehen verschwieg diese Tatsachen. Kaum, daß die Volkspolizei den Bürger um Mithilfe bat. Im Kriminalroman dagegen wimmelt es von Tätern aller Art, vom Kinderschänder (Horst Bastian: "Die Brut der schönen Seele") bis hin zum (unwissentlich) tötenden Kind (Bernd Diksen: "Das Vorurteil"). Von Unterschlagungen auf Chefebene (u.a. Tom Wittgen: "Das sanfte Mädchen") bis hin zu Bandenkriminalität (Horst Lohde: "Im Dunkel der Nacht"; Klaus Möckel: "Die Damengang"). Es existierten Heiratsschwindler, Trickbetrüger, Totschläger und Mörder fast aller coleur. Und der Leser fand im Krimi Säufer, Schläger, S-Bahn-Penner (asoziales Leben stand gemeinhin unter Strafe und existierte demnach nicht; Tom Wittgen: "Die letzte S-Bahn"), wie auch das Phänomen der Sekten (Johannes Albrecht: "Der Tod des Guru"). Ein von der Einheitspresse sehr verschiedenes Bild. Kein Realismus? Sicher obsiegten letztlich die Ermittlungsorgane der DDR. Crime doesn't pay, weiß auch Oberinspektor Derrick ganz genau und klärt alle seine Fälle (bis auf einen klitzekleinen). Realismus? Auch wenn es die Verfasserin meint, die Polizisten des Volkes waren nicht immer glorreiche Westernhelden im Kampf gegen das Verbrechen, auch sie kannten den Zweifel (vgl. Rudolf Bartsch: "Der Mann, der über den Hügel steigt"). Der Kriminalroman der DDR übte keine offene Kritik. Sicher. Systemkritik niemals. Aber vieles erkannte der geübte Leser der DDR als (nicht nur nach politischer Großwetterlage erwünschter) Symptomkritik sehr wohl. Die Verfasserin der Studie erkennt dies leider alles nicht. Ein Blick zum "Polizeiruf 110" hätte sicher auch geholfen, der jedoch ist für die Verfasserin weiter nichts als die DDR nostalgisch. Die Verfasserin klammert die Rezeption der Bücher völlig aus. Eine Notwendigkeit jedoch für die Analysen zur Literatur der DDR, zumal die Verfasserin den Kriminalroman der DDR "mit Fug und Recht unter den Auspizien seiner Funktion" betrachtete. Hat er, der Krimi (ob schlecht, ob gut, ob uralt gewandet), denn nun funktioniert und wie? Genau das bleibt die Verfasserin aus Mangel an Beweisen schuldig.
Im Anhang letztlich wird dem Leser eine "Statistische Analyse des Kriminalromans der DDR" offeriert. Was weiter nichts heißt, es wurde gezählt. Meine ganz private Auszählung von "Die Kriminalliteratur der DDR 1949-1990. Bibliografie" zeitigt andere Ergebnisse. Nun ja, auch Zählsysteme, die sind halt verschieden. Die Quellen der in der DDR veröffentlichten Kriminalromane aus dem Ausland bleiben dunkel: "bibliografische Berichte der Deutschen Bücherei, Leipzig". Deren Zahlen stimmen nicht. Aus Schweden wurden mindestens (ad hoc) 14 und nicht 8 Romane publiziert. Welche Zahlen stimmen überhaupt? Dies kleinlich noch zur Faktenlage.
Was bleibt von der Lektüre? Überhaupt und gar nichts, außer dem Doktorhut aus Siegen für die Verfasserin (Herzlichen Glückwunsch!). Ein Blick in die professoralen Gutachten täte mich noch reizen, sie sind auch teuren Büchern nicht beigefügt. Eine Blamage weniger.
Brigitte Kehrberg: Der Kriminalroman der DDR 1970 - 1990; Verlag Dr. Kovacs Hamburg

Ist in Wahrheit noch zu glauben?
Die Tage waren gezählt von Pompeji, der DDR, von Gorbatschow und Kanzler Kohl. Jetzt beschreibt ein Roman im Vatikan die Endzeitstimmung und hat so unrecht nicht mit der Behauptung. Augenscheinlich die Zerreißproben der katholischen Kirche von unten mit Unfehlbarkeit, Zentralismus und Autokratie. Umstritten die Positionen bei Frauenmacht, Kondom und unbefleckter Empfängnis, es gibt nicht nur einen Schein des Anstoßes. Seit Jahrhunderten schwelen Kontroversen, und nur widerwillig gibt das römisch-katholische Lehramt wissenschaftlichen Beweisen nach, die der eignen Meinung widersprechen. Anhand tatsächlicher Ereignisse versucht der Autor Jacques Neirynck, "die nähere Zukunft zu ergründen" und erzählt "Die letzten Tage des Vatikan".
Theophil de Fully, Entdecker der Herkunftszeit bestimmenden Kohlenstoff-14-Methode, wird gebeten, das Turiner Grabtuch exakt und ohne Zweifel zu datieren. Selbst dem gläubigen Christen erscheint das Ergebnis höchst unwahrscheinlich, aber die Messungen ergeben: 14. Jahrhundert. Die Reliquie ist eine Fälschung, kann Grabtuch Jesu nie gewesen sein. Der Vatikan will das Resultat verschweigen, Grundsätzliches steht auf dem Spiel, aber Presse, Funk und Fernsehen kennen den Skandal bereits. So gräbt Theophil de Fully auf eigene Kosten nach dem Grabmal Christi, könnte doch ein Vergleich mit Bodenproben endgültige Klarheit schaffen und den Glauben stärken. Und wirklich entdeckt der Forscher einen Toten, der zum Abbild auf dem Leinentuch eindeutig paßt. Demnach scheint Jesus gar nie auferstanden. Dieser Skandal ist ungleich größer. Zaudernden Kardinälen greift Theos Bruder Emmanuel, Untersekretär im Vatikan, vor und steht offensiv zur erkannten Wahrheit, die eine ganz andre ist. Damit läutet er bewußt "Die letzten Tage des Vatikan" ein, findet damit jedoch zu einem Glauben, der sich an Wahrheit und Erfordernisse hält. Kirchenglocken klingen auch in Zukunft. Der Oberhirte sammelt Schafe, um sie nicht wieder zu verlieren.
"In der wissenschaftlichen Forschung gibt es wie bei der Lösung eines Kriminalfalls kein belangloses Detail". Das ist beste Krimitradition, und Lügner werden überführt. Alles klärt sich unvermutet, aber logisch. Selbst ehrenwerten Helden schreibt das Leben Sünden vor, damit sich wieder leben läßt. Wirklichkeit, Wissenschaft und Wahrheit, Jacques Neirynck hat dies zu einem Roman verwoben, der Diskussionen weiterführt. Er fordert: Tatsachen, Beweise auch im Glauben anzuerkennen. Das verordnete Weltbild ist in steter Änderung, und eins dabei steht felsenfest: Ein Rest Mysterium bleibt in Ewigkeit und länger. Kein Zweifel.
Jacques Neirynck: Die letzten Tage des Vatikan, Wunderlich Verlag Hamburg

Es ist ja liebgewordene Tradition, daß Namen, die bekannt uns waren, sich mit mehr oder weniger umfassenden Memoiren wieder ins Gedächtnis schreiben. Hermann Zschoche schuf bei der Defa Filme, die Kultstatus erlangten: "Karla", "Liebe mit 16", "Hälfte des Lebens". "Sieben Sommersprossen" geriet zur Identifikation einer Generation DDR und zum Titel von Zschoches Erinnerungssplittern und -fetzen (Das Neue Berlin). Es entsteht kein Bild von Person, Politik und Produktionen. Die Aufzeichnungen des Regisseurs verläppern sich in allzu unwichtigen, kleinlichen Details, ein Zusammenhang der Anekdötchen fehlt. Nett mal was von gehört zu haben, können nur Nostalgiker und Fans behaupten. Wir anderen sehen im Band schöne Fotos legendärer Filmszenen und erinnern uns wirklich.
vWenn die Pubertät nach der ersten Befriedigung der sexuellen Wünsche dürstet, kann dies die Betroffenen an den Rand der Verzweiflung treiben. Bizarre Ideen und "Grausame Spiele" (Ullstein) pflastern den Weg zur Identität auch von vier amerikanischen Freunden. Und was sie zusammen jung so miteinander taten, führt sie Jahre später in Existenz- und Lebenskrisen. Das Debut des Christopher Rice denkt unsere geschlechtliche Suche konsequent zu Ende. Und wenn man nachsinnt, fällt einem auf, daß auch wir uns zum Gefallen andre quäl(t)en. Unerwartet in Thema und Bewältigung, schildert Rice das Elend junger Jahre. Doch aufhören tut dieser Horror auch im höhren Lebensalter keineswegs. Der Roman - modern in Dramaturgie und Stil. Tabulos. Lesenswert.

Fritz J. Raddatz ward bekannt als Kritiker und Kenner der Literatur. Nur schwatzt er nicht stets und endlos mit seinem Wissen wie andre "Koryphäen". Sieben seiner Essays vereint der Titel "Literarische Grenzgänger" (List). Autoren, die uns kaum bekannt, werden in Person und Werke uns Leser ohne allgemeinübliche Besserwisserei der Akademiker vorgestellt. Lebenswege und Absurditäten in den Biografien großer Namen spürt Fritz J. Raddatz nach, von denen Publikum bislang kaum wußte. Spannender nach diesem Buch auch das Studium der Originale von Johannes R. Becher, Yukio Mishima, Marguerite Yourcenar ... Ein Buch, das sagt, warum man lesen sollte.

"Spione, Spitzel und Agenten" (Neue Presse) sind uns film- und buchvertraut. Daß das tatsächliche Leben der Berufsgruppe nicht zur "Bondiade" reicht, schildern Reinhold Knoll und Martin Haidinger in ihrer umfassenden "Analyse einer Schattenwelt". Und da sich die Autoren an die Fakten halten, zerstören sie uns Mythen. Dr. Richard Sorge war gar kein großer Held im Kampf gegen Hitler. Die wissenden Dienste ahnten mitnichten die Katastrophe des 11. September. Faszinierend an der Lektüre: Die Autoren verfolgen die Geschichte solcher geheimen Missionen. Das führt zurück zu Ramses und Hannibal, hin zu Mata Hari und Markus Wolf. Weltgeschichte, die keiner sonst erzählte.

Kleiner Tip: Eine Zensur für uns alle
Die Zensur ist keinesfalls nur das, was wir aus der Schule nach Hause tragen können. Zensur verbietet auch, daß wir breite Masse alles zur Kenntnis nehmen können/dürfen. Filme gibt's ab 6/12/18, andre erhält man in geschlossenen Abteilungen besondrer Läden.
Ähnlich bei Erzeugnissen des Drucks: Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur kauft man neben der des Schmutzes. Aber selbst bei dieser Abart der Kultur ist nicht alles käuflich oder ausleihbar. Manches gelangt per Verfügung gar nicht vor unser Auge. Und das ist 'ne ganze Menge. Was sexuell oder mit Gewalt oder gegen persönliches Recht verstößt, wird verboten. Rechtens. Aber nicht jeder der Beschlüsse scheint der Sache angemessen. Roland Seim und Josef Spiegel fungieren als Herausgeber der Bände zur "Zensur in der deutschen Kulturgeschichte" titels "Ab 18". Autoren widmen sich in informativen Beiträgen mißverstandener Satire, der Frage, was Zensur den überhaupt ist kann und soll, den Grundrechten von Jugendschutz und Freiheit der Kunst und anderem mehr. Schließlich: Wer denn kann wirklich die Frage entscheiden, ist's Kultur, Perversion in deren Mantel oder einfach Menschen verachtend? Ein zweiter Bildband dokumentiert anschaulich Streitobjekte letzter Jahre: Die Werbung von Benetton und Calvin Klein. Die Hits der "Angefahrenen Schulkinder", "Böhsen Onkelz" oder "Ärzte". Und wir erfahren manches aus vergangnen Jahren. Skandal um den Lovesong der Jane Birkin. "Nekromantic" von Jörg Buttgereit. Josefine Mutzenbacher - Namen die Zensuren und Geschichte machten. Allemal diskussionswürdig: Wie weit darf der Künstler gehen? Wie weit die Justiz? "Ab 18" - ein interessanter Beitrag zum immer neuen Streit. Die Ausstellung zum Thema in Münster ist vorbei. Leider.

Großer Tip: Klassisch kurz: Patricia Highsmith
Da treffen sich "Zwei Fremde im Zug" und verabreden, sie schaffen sich gegenseitig die gehaßten Verwandten vom Hals: den Vater, die Frau. Daß die beiden einander kennen, kann keiner vermuten, es wäre der perfekte Mord. Der Plan dieses Verbrechens, der Plot des Romans war so einfach wie genial und das Debut der Autorin Patricia Highsmith. Mittlerweile ward die Idee des Tötens über Kreuz oft und schwächren Sinns gekupfert. Meister Hitchcock erwarb die Rechte für den Film und inszenierte. Mr. Raymond Chandler schrieb das Drehbuch. Allerdings ist die so entstandene "Verschwörung im Nordexpress" kein Highlight aller an der Produktion Beteiligten. Augenscheinlich, daß die irrationale Mordgeschichte für's rationale Medium Film weniger geeignet ist. Auch manch andrer Leinwandadaption gebricht es der für die Highsmith typischen Spannung.
Natürlich Zufall: Die Highsmith hat's selbe Datum der Geburt wie Edgar Allan Poe - 19. Januar, nur 112 Jahre nach 1809. Bereits im Alter drei konnte Tochter Patricia lesen, am liebsten ein Werk über den Weltkrieg I. und einen Bildband mit den Stars aus Hollywood. Familiensituation und die erwachte sexuelle Neigung hin zu Frauen verstärken ihr angelegtes Einzelgängertum. Sie wird Mitglied in kommunistischen Jugendverbänden, besucht das College, hat Talent zum Malen wie zum Schreiben. Erste Arbeiststelle der Patricia Highsmith - der Fawcett Verlag, sie erdenkt Geschichten für die Comics. Durch Freunde wird sie Teil der Szene in New York, verwirft ein erstes Manuskript und konzipiert eine Romanhandlung, und Truman Capote verhilft der Autorin zu einem Stipendium. Resultat: "Zwei Fremde im Zug". 1954 erscheint "Der talentierte Mr. Ripley", die Autorin wird preisgeehrt und öffentlich. "Ich habe das Gefühl für Gut und Böse verloren", notiert die Highsmith im Tagebuch, die konventionelle Moralität binde sie nicht mehr. Und sie bindet nicht ihre Helden. "Wenn man Kriminalromane verfasse", so die Autorin, "müsse man schließlich darüber im Bilde sein, was im Kopf des Verbrechers vor sich geht, denn den Verbrecher kennt man gewöhnlicherweise das ganze Buch hindurch, also muß der Autor beschreiben, wie es in dessen Kopf aussieht: Das kann er aber nur, wenn er Mitgefühl aufbringt".
Der heut genannte Psychothriller hat seine erste Protagonistin. Aber die Kunst der Patricia Highsmith hat kaum wieder ein Schriftsteller erlangt: "Der Stümper", Lösegeld für einen Hund", "Ediths Tagebuch", ...
Auch wenn sie sich im spätren Lebensalter erst dazu bekannte, die Highsmith verfaßte Kurzgeschichten, die den Romanen an Intensität und dramaturgischer Stilsicherheit nicht nachstehen. "Die Schildkröte" erhielt den Edgar-Allan-Poe-Award der American Crime Writers Association, ein Mutter-Sohn-Konflikt mit kaum erwartbaren, horriblen Ende. Und zu unserem eignen Schrecken: Wir können den Mord nachvollziehen und verstehen. The Murder inside us!
Mit dem Jahre 2002 begann der Diogenes Verlag die Gesamtausgabe des Highsmithschen Oeuvres und entdeckte Unveröffentlichtes. "Die Stille Mitte der Welt" wie "Die Augen der Mrs. Blynn" publizieren Geschichten aus dem Nachlaß. Und auch diese zeigen die Autorin auf der Höhe ihrer Kunst und anders. "Die Morgen des ewigen Nichts" scheint derzeit als Kommentar zu hysterischen Diskussionen: Es könnte sein, daß Aaron Bentley die zehnjährige Freya ... was? Aber es könnte sein, daß ... Mit masochistischem Einverständnis nimmt Aaron den Schuldspruch der Masse an und geht. "Der Schatz" ist eine Tasche, die vergessen wurde. Zwei Herren streiten sich erbarmungslos. "Die Augen der Mrs. Blynn" sind das letzte, was Mrs. Palmer von der Welt sieht. Die Erzählung eine beeindruckende Studie vergehenden Lebens. "Ein Mord" beendet das Gemeinsamsein junger Eheleute. "Robert Lottmann (25), Bildhauer, hat gestanden, seine Frau Lee (23) durch mehrere Schläge auf den Kopf mit einem Nudelholz in der Küche des gemeinsamen Haushaltes in Bloomington, Indiana, getötet zu haben. Die zweijährige Tochter Melinda, zur Tatzeit ebenfalls in der Küche, lag unversehrt in der Wiege, als die Polizei eintraf, die Lottmann selbst alarmiert hatte." So "stand es in den Zeitungen, im Lokalblatt wie in der New York Times, und beiden war der Fall etwa fünf Zeilen wert". Patricia Highsmith schildert Alltag, der kaum spürbar aus den Fugen gerät. Untiefen werden sichtbar. Die Katastrophen sind lang schon vorher angelegt, ein banaler Moment bringt sie zum Ausbruch. Rettung scheint da kaum möglich. Peter Handke: "Beim Lesen ihrer Bücher, so verzweifelt und ohne Hoffnung diese auch sein mochten, hatte man das Gefühl, im Schutz einer großen Schriftstellerin zu sein."
Die Kinos werden dieses Jahr "Ripleys Game" uns zeigen. Die Romane und Geschichten der Highsmith Kunst und Kommentar der Zeit. "Aus einem unerfindlichen Grund wird Patricia Highsmith, eine der bedeutendsten Erzählerinnen der Moderne, ... für eine Kriminalautorin gehalten. Sie ist ... mit Sicherheit eine der interessantesten Schriftstellerinnen des zwanzigsten Jahrhunderts." Den Worten Gore Vidals fügen wir nichts hinzu und empfehlen. Empfehlen!
 




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