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"Bänkelsängers Nachtgesicht" (Michael Günther und Sebastian G. Birr)
von Roland Krispin anno 1999

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Vorgeschichte:

Es war einer dieser unerwarteten Anrufe: Ich war auf der Autobahn unterwegs von Hamburg nach Berlin, als das Telefon klingelte. Michael Günther war dran und fragte, ob ich nicht Lust hätte, einen Artikel über sein neues Projekt zu schreiben. Ich sagte zu. Wir verabredeten Ort und Zeit, und ich freute mich über den Ort: Die kleine Konzerthalle in Eberswalde, da habe ich in der Vergangenheit manch prägendes Konzert erlebt und selber das eine oder andere Mal spielen dürfen. Kommen wir zur Zeit: Denkbar ungünstig, dachte ich. Sonntag Abend, nach dem Love Parade-Wochenende bin ich sicher nicht gerade fit. Und das war auch so.

bänkelsängers dienstfahrzeug

Aber ich bin hingefahren und will nun folgende Geschichte erzählen:

Geschichte:

Nach den Unverbindlichkeiten des Love Parade-Wochenendes gab es am Sonntag Abend, etwa 50 km Luftlinie davon entfernt, noch etwas anderes. Ort: Kleine Konzerthalle in Eberswalde, Location (die Terminologie ist noch vom Vorabend) der besonderen Art. Art = Kunst. Love Parade und Techno ist o.k., und mit Goa kann ich auch gut leben. Aber, wer noch was anderes zum Leben braucht, war heute abend in der alten Backsteinlocation gut aufgehoben. Keine beabsichtigt schrägen Chords, höchstens 76 spielbare bpm (beats pro minute), jede Menge Handarbeit und nacherlebbare Dinge erwarteten mich.

Warum?

Michael Günther und Sebastian G. Birr stellten ihr erstes gemeinsames Programm „Bänkelsängers Nachtgesicht“ vor.

Atmosphäre:

Die Bühne glich einem improvisierten Wohnzimmer, auf einem Tisch stand ein Schachbrett (man kann da wunderbar miteinander gegeneinander spielen), die „Bild“-Zeitung lag daneben, leere Bierflaschen und ein Eimer, dessen Sinn sich mir erst später erschloß, spickten den Boden. Die „Bild“-Zeitung, einerseits Synonym für den kollektiven Voyeurismus, anderseits als Gelegenheit, seine Ignoranz zu bekunden oder seinen Geist zu bremsen. Mal sehen, dachte ich, was sie damit machen. Ich sollte später erleben, daß der Eine sie wirklich las, während der Andere sang. (Offenbar läßt sich das Leben besser bei der Lektüre von Deutschlands auflagenstärkstem Buntpapier ertragen.) Dann kamen sie, wie zufällig, gaben sich und ihre Lieder, spielten exzessiv Schach, lasen gelangweilt in der Zeitung. Sebastian G. Birr mit abstrakt geschminktem Gesicht, Michael Günther mit schwarzer Weste und einem Hut, bei dessen Form mich wunderte, daß er ihm nicht pausenlos vom Kopf fiel. Sie kamen daher wie Dahergelaufene, so mal eben auf’n Sprung. Man konnte das Nachtgesicht der Bänkelsänger erkennen, und es war unmöglich, sich dieser unkonventionellen Art zu entziehen. Sie gingen auf der Bühne miteinander um, als wäre außer ihnen (so gut wie) niemand da. So, als würden die Bänkelsänger nach getaner Arbeit den lieben Gott einen guten Mann sein lassen und sich endlich mal um sich kümmern. Sie haben sich buchstäblich angesungen, ja angefeuert: „Sing ein Lied für mich“ - so klang es eindringlich und fast flehentlich, so als bräuchte man Hilfe in einer vom Sinn entleerten Welt. Es war die Art von äußerlichem Auftreten, die sich mit dem Wort Entfremdung umschreiben läßt. Das Rollenspiel als Wegbereiter zwischen dargestellter und eigener Person, immer auf Abstand zwischen beiden bedacht. Die Lieder schienen eine Geburt des Zufalls zu sein. Trotzdem hatte alles seinen Sinn.

Metaphorisch wurde die Schwere der ernsten Lieder bis hin zur Leichtigkeit karikiert und ihnen durch das Kunstmittel der Übertreibung die Spitze genommen. Wann habe ich jemals erlebt, daß bei einem Liebeslied leere Bierflaschen in einem Eimer zertrümmert werden? Ein Bild für die Vergänglichkeit der Liebe, für die Hilflosigkeit und den tiefen Kummer, der damit einher geht.

Die Akteure:

Sebastian G. Birr habe ich das erste Mal gesehen, und ich war angetan von seiner Charakterstimme, die wunderbar die Nuancen seiner Lieder wiedergab. Eine Stimme, die für sich steht, man wird an niemanden erinnert. Seine Texte sind vielleicht nicht unbedingt zu meinem Jahrgang kompatibel, was er beschreibt, liegt offenbar schon weit zurück. Doch seine Poesie hat mehr daraus gemacht als nur eine Zeitreise in die Vergangenheit. Vieles ist mir wieder eingefallen, wie man damals über die Liebe dachte, wie man mit Freunden beim Wein Küchennächte verlebt hat und und und. Ich habe gemerkt, so viel hat sich geändert im Laufe der Jahre, aber so viel Vieles auch nicht; Küchennächte wird es immer geben.

Michael Günther kannte ich schon vor seinem Anruf. Talent habe ich ihm immer bescheinigt, aber dieses gewisse Etwas - Reife, Ausstrahlung, Aura und unverwechselbarer Gesang – das habe ich jetzt erlebt.

Mein Gott, ich hatte danach einen Ohrwurm ...

Michael hatte immer einen guten Whisky im Haus und viele verwegene Ideen dazu. Wenn er davon erzählte, konnte man sich schon mal im Gewirr verirren. Jetzt sind seine Texte schärfer geschliffen als früher, treffen schneller ins Ziel. Die Themen wirken nicht mehr so aufgesetzt und sind nachvollziehbarer geworden. Sein Gesang hat die nötige Tiefe, ein guter Kontrast zu dem lyrischen Gesang von Sebastian. Wenn ich beide vergleichend beurteilen sollte, wäre Sebastian eher der Romantiker, und Michael würde als der scharfzüngige Beobachter durchgehen.

Ablauf:

Die Dramaturgie des Abends war solide gestrickt, tiefe Berge gingen in hohe Täler über.

Das Publikum wurde nicht steil nach oben geschickt und hatte auch keinen beschwerlichen Abstieg durchzumachen. Alles floß auf angenehme, ausgeglichene und vor allem logische Weise in die Sinne. Dramaturgische Effekte waren klug und präzise gesetzt, man wurde weder aufgeputscht noch gelangweilt, alles hatte seinen Sinn und man fühlte sich einfach gut aufgehoben. Exzessive Schachpartien und in Einzelteile zerlegte Bierflaschen blieben die ausnahmsweisen Höhepunkte.

Besondere Vorkommnisse:

Keine.

Resümee:

Die Beiden haben trotz oder gerade wegen ihrer Verschiedenheit etwas geschafft, was ich bei Leuten wie Wenzel und Mensching oft bewundert habe:

Sie karikieren sich selbst und ihre Umwelt, führen alles ad absurdum und holen es danach zurück in die Realität, um es greifbar zu machen.

Und wem dieser Satz zu kompliziert ist, der gehe einfach selber hin.

Roland Krispin, Berlin, 14.08.1999









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