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Lift - Discographie-Check
von ta anno 2016

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Lift sind ein wichtiges Kapitel Ostprog. Als sie 1973 - Moment, was zur Hölle soll Ostprog sein?
Also, noch mal von vorn. Ostprog gibt es nicht bei Google, ist aber der proggige Ausläufer des Ostrock. Nach der Wende gelang es den wenigsten Ostrockbands, auch im wiedervereinigten Deutschland unter den neuen ökonomischen Bedingungen Fuß zu fassen. Die meisten der noch existierenden Ostrock-Bands haben heute daher dasselbe Publikum, das sie bereits vor 1989 hatten. Das sieht man besonders an den Progbands, die nie die Massenkompatibilität von geradlinigem Rock Marke Puhdys (die bereits vor dem Mauerfall auch im Westen auftraten) erreichten. Electra, die Stern-Combo Meißen und Lift spielen heutzutage als "Sachsendreier" vor Leuten, die gern nochmal an die guten oder bösen alten Zeiten ihrer DDR-Jugend erinnert werden wollen. Und aktuell sind zum Beispiel Lift in einem Besetzungsarrangement unterwegs, das an die 70er-Phase der Band anschließt, mit zwei Keyboards und Saxophon.
Aber so weit, so normal. Das Nostalgie-Phänomen trifft ja "Westrock" und dessen Publikum ebenso und vielen altgedienten Bands gelingt es nicht, sich eine neue Hörergeneration zu erspielen. Was beim Thema Ostrock häufig untergeht, ist aber, dass unabhängig vom Nostalgie-Faktor auch einfach mal geile Musik entstanden ist, die als ernstzunehmender Beitrag zum (Retro-)Prog zählen kann, ja: muss. Der Rezensent selbst ist ein Beispiel für diese andere Rezeption des Ostprog. Als Lift ihr letztes reguläres Studioalbum veröffentlichten, war er gerade erst seit einer Weile stubenrein. Als er Lift kennenlernte, war die innerdeutsche Trennung bereits seit einer Dekade Geschichte. An dieser Stelle soll daher das Schaffen von Lift aus der ganz un(n)ostalgischen Sicht eines Nicht-Zeitzeugen gewürdigt werden.

Lift (Amiga, 1977)
Lift (Amiga, 1977)
Von den drei relevanten Lift-Alben ist das Debüt die eingängigste Platte. Die Basis ist warmer, souliger Rock. Den trägt ein angefunkter Bass, auf welchen Synthesizer aller Art und diverse Blasinstrumente addiert werden. Gitarren gibt es auf diesem Album keine, was schon mal stilprägend ist. Zudem punkten der emotionale Gesang von Henry Pacholski und die mehrstimmigen, anspruchsvoll arrangierten Refrains. Jethro Tull und Crosby, Stills and Nash treffen sich und singen mit einem Mal Deutsch, ein wenig so klingt "Lift". "Wasser und Wein" ist sicher der bekannteste Track des Albums, stinkt aber komplett ab gegen die zwei wahren Höhepunkte: Die zehnminütige "Ballade vom Stein" ist ein hochdramatisches Prog-Epos von Genesis-Dimensionen und die "Abendstunde, stille Stunde" nach wie vor eines der schönsten und traurigsten Abendlieder ever, mit herrlich einfachen und darum so eindrücklichen Metaphern: "Und das Gold, das Gold der Felder/Wird schon bald zu Brot gebrannt".
"Arbeiterlyrik" nannte ein guter Freund von mir das mal polemisch. Gerade den eingeschränkten Bildbereich der Texte kann man aber auch als Stärke sehen. Die Botschaften sind dadurch recht zeitlos geblieben: Am Ende eines Tages solltest du noch in den Spiegel sehen können ("Wasser und Wein"), Frieden ist besser als Krieg ("Und es schuf der Mensch die Erde"), die Menschheitsgeschichte ist bewegt ("Ballade vom Stein"). Wer widerspricht? Die Beziehungstexte, die das Botschaftspathos ausgleichen, sind an der einen oder anderen Stelle etwas cheesy ("Komm her"), während an anderer Stelle ("Jeden Abend", "Du falsche Schöne") gerade ihre Direktheit berührt.
Tracklist:
1. Wasser und Wein
2. Fällt der erste Reif
3. Und es schuf der Mensch die Erde
4. Jeden Abend
5. Früh am Morgen
6. Ballade vom Stein
7. Du falsche Schöne
8. Komm her
9. Abendstunde, stille Stunde

Meeresfahrt (Amiga, 1979)
Meeresfahrt (Amiga, 1979)
Die "Meeresfahrt" ist das am stärksten klassisch beeinflusste unter den Lift-Alben. Da wäre mit "Scherbenglas" eine tolle Kammermusik-Ballade, nur aus Streichern und Gesang bestehend und in den Arrangements barock anmutend. Die "Sommernacht" ist ein reines A-cappella-Stück mit warmen Bariton-Sätzen, die zur Gänsehaut rühren. Das Titellied ist ein Meisterwerk, basierend auf einem wahlweise von Saxophon, Klarinette oder Querflöte dargebotenen Thema, das sich in verschiedenen Variationen durch die 15 Minuten zieht, während Synthesizer und Rhythmusabteilung erst vertrackt abproggen, dann verträumt schwelgen. Dieser Track stellt genau die Reise dar, die der Titel verspricht. Das gilt auch für die "Tagesreise", den zweiten Longtrack des Albums, eine gnadenlose und dabei stimmungsvolle Abfahrt. Was für mitreißende, brachiale Hammondorgeln! Was für abgedrehte Gesangseskapaden! Richtig, richtig geil.
Auf "Meeresfahrt" ist das populärste Stück das eingängige "Nach Süden", dessen diverse rhythmische und gesangliche Schlenker für den nötigen Anspruch sorgen. Mit "Wir fahrn übers Meer" gibt es aber auch einen Ausfall - diesen albern anmutenden Mundharmonikaexzess ausgerechnet als Opener zu platzieren, wird der Klasse des Albums nicht gerecht.
Sänger Henry Pacholski und Bassist Gerhard Zachar, der gleichzeitig als Manager der Band fungierte, erlebten die Veröffentlichung des Albums nicht mehr. Während einer Tournee in Polen nach Produktionsabschluss verunglückten sie im November 1978 tödlich. Der am Steuer sitzende Keyboarder Michael Heubach überlebte schwerverletzt, stieg aber aus der Band aus und tauchte 1980 in Ute Freudenbergs Gruppe Elefant wieder auf, wo er mit "Jugendliebe" augenblicklich einen größeren Erfolg hatte als mit Lift in all den Jahren zuvor - er musste allerdings ein Jahr darauf Elefant schon wieder verlassen, da ihm das MfS nach dem Unfall in Polen keine Reisegenehmigung mehr erteilte.
Tracklist:
1. Wir fahrn übers Meer
2. Nach Süden
3. Scherbenglas
4. Tagesreise
5. Meeresfahrt
6. Sommernacht

Spiegelbild (Amiga, 1981)
Spiegelbild (Amiga, 1981)
"Spiegelbild" ist das enfant terrible von Lift. Mit dem Verlust von Pacholski, Zachar und Heubach verschob sich das musikalische Gefüge, das vorher stark von diesen drei Personen mitgeprägt wurde, deutlich, nämlich in Richtung Jazzrock.
Der ist teils sehr verschroben. "Vincent van Gogh" reiht in seinen ersten Minuten abgefahrene Skalen aneinander, um dann in typisch warmen Synthieburgen/Flötenklängen zu versinken, die aber nur sequenzhaft angespielt werden, und findet sich schließlich in unstrukturiertem Gesangswirrwarr wieder. Auch nach traditionellem Schema aus Strophe und Refrain gegliederte Nummern wie "Sindbad" oder "Zwischenzeit" warten mit allerlei Abfahrten, verjazzten Akkorden und anstrengender, komplexer Melodieführung im Gesang auf. Dennoch sind auch in all diese Nummern melodiöse Widerhaken eingelassen, die den Hörer bei der Stange halten. Es herrscht kein blankes Chaos.
Zudem ist das nur eine Seite von "Spiegelbild". Auf der anderen steht die Melancholie. Das programmatisch betitelte Instrumental "Erinnerung" basiert nur auf einer einzigen, tieftraurigen Melodie, die auch im abschließenden "Einsamkeit" noch einmal aufgegriffen wird. Die Balladen des Albums, "Liebeslied" und eben "Einsamkeit", erschaffen bei einfacher Instrumentierung mit ihrer Melodieführung Schwermut und Komplexität zugleich und sind von Werther Lohse (der auf den beiden Vorgängern noch hauptamtlich Schlagzeuger war) wunderbar gesungen. "Märchenland" ist ein wunderschön vertontes - nun ja, Märchenland eben. Und dann ist da natürlich noch "Am Abend mancher Tage", 1980 zum Hit des Jahres gekürt und der wohl bekannteste Song von Lift, der in seiner Eingängigkeit stark von der sonstigen Gangart des Albums abweicht. Er trennt sich in seiner direkt formulierten Botschaft "Gib nicht auf, denn das kriegst du wieder hin" auch textlich von anderen Teilen des Albums, dessen Reichtum an sonderbaren Metaphern es häufig schwer macht, eine echte Aussage zu identifizieren. Was hat Sindbad da zu suchen? "Will von mir das Wissen stehlen/Dass ein Wechsel ist im Licht" - huh? "Wenn wir wissen wer wir waren/Wissen wir was uns erträgt" - what?
Insgesamt erreicht "Spiegelbild" nicht die Stimmigkeit seiner Vorgänger und ist - allerdings bewusst - eine Herausforderung. Dafür ist die Langzeitwirkung groß. Ich mag das Album heute nicht weniger als seine beiden großen Brüder aus den 70ern.
Tracklist:
1. Rückblick
2. Sindbad
3. Märchenland
4. Alptraum
5. Erinnerung
6. Am Abend mancher Tage
7. Zwischenzeit
8. Liebeslied
9. Vincent van Gogh
10. Einsamkeit

Nach Hause (1987)
Nach Hause (1987)
Was nach "Spiegelbild" kam, war aus Prog-Sicht nicht mehr relevant. Der Abstieg begann mit "Nach Hause", einem sehr seichten Mainstream-Rock-Album, das extrem nach 80ern und aus heutiger Sicht auch überholt wirkt. Erstmals hatten Lift mit Bodo Kommnick einen Gitarristen im Line-Up, der von den Metallern Formel 1 kam, hier aber eher nach U2 und Roland Kaiser klingt. Das Schlagzeugspiel ist leblos, der sterile Sound antiquiert. Nahezu alle Songs sind zwischen drei und vier Minuten lang, die einzige Ausnahme, "Tief im Blut", hat 04:07 Minuten Lauflänge.
"Nach Hause" ist kein generell schlechtes Album. "Tief im Blut" und "Kleine Ahnung" warten mit eingängigen Hooklines und stimmigen, wenngleich einfachen Arrangements auf. "Charly" ist an den ruhigen Solostücken von Phil Collins orientiert. Und das schmusige "Leb deinen Traum" passt zu einem Abend im Kerzenschein und mit der Liebsten im Arm. Aber die innovativen Strukturen, der anspruchsvolle Satzgesang, die Bläser, die Vielfalt, nichts von dem, was Lift so gut machte, findet sich auf "Nach Hause" wieder. Die Stimme von Lohse, OK.
Im Anschluss an die Veröffentlichung verschwanden Lift immer mehr von der Bildfläche, um sich kurz nach der Wende schließlich aufzulösen. "Nach Hause" blieb ihr letztes richtiges Album.
Tracklist:
1. Tief im Blut
2. Nach Hause
3. Zwei Leben
4. Kameraden
5. Charly
6. Spielplatz
7. Kleine Ahnung
8. Leb' deinen Traum
9. Deine Wege, meine Wege
10. Stunde zum Gehn

Und dann?

Mitte der 90er kehrten Lift zurück, aber nicht als Band, sondern als ein Kollektiv von Musikerinnen und Musikern, das seitdem und bis heute auf Projektbasis arbeitet: Lift goes Ostrockkumpane x, Lift goes Ostrockkumpane y, Lift goes Jan Josef Liefers, Lift goes Klassik, Lift auf Lesetour, Lift unplugged, Lift zum Geburtstag von Werther Lohse, Lift mit old-school-Set, Lift mit Oma Irmgard, Lift im Lift usf. Das alles garniert mit über einem Dutzend entsprechender CD-Veröffentlichungen, auf denen sporadisch auch mal ein neuer Song oder eine Rarität aus alten Tagen auftaucht. Unter denen findet sich neben schnarchnasigen Rohrkrepierern a la "Mein Herz soll ein Wasser sein" auch ein Schätzchen wie die Kammermusik-Ballade "Der Frieden", Lifts Beitrag zur Propagandaveranstaltung "Rock für den Frieden" 1982, veranstaltet vom Komitee für Unterhaltungskunst der DDR.
Wie dem auch sei, schade drum, aber wir haben ja die ersten drei Alben. Und die seien der 70er- wie auch der Prog-Gemeinde allgemein empfohlen.

Ach so, was war nun eigentlich 1973 mit Lift? Da hießen Lift noch Dresden-Septett und sollen eher mittelmäßig gewesen sein. Darüber können nun aber wirklich nur Zeitzeugen Bericht erstatten.









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