www.Crossover-agm.de Religion und Kultur - paßt das zusammen?
von Matthias Petzold
(Columnäe aus CrossOver 4/98)

So unmittelbar vor diese Frage gestellt, kommt sie einem reichlich abgestanden vor. "Religion" und "Kultur" - das sind doch zwei ausgetretene Schuhe! Die haben so viele Zeiten mitgemacht, daß sie schon irgendwie zusammenpassen, ganz gleich, ob sie sich in der Vergangenheit einander befördert haben oder ob die eine Seite der anderen gelegentlich im Wege gestanden hat. Mögen also Religion und Kultur durch ihre lange gemeinsame Geschichte irgendwie zusammengehören, heute jedenfalls werden diese abgelaufenen Schuhe nicht mehr gebraucht.
Ein solches Urteil ist schnell gesprochen. Trifft es aber wirklich zu?

"Schalke ist unsre Religion" schallt es durchs Gelsenkirchener Parkstadion. Was da aus rauhen Kehlen in der Fußballarena angestimmt wird, hat in seiner inbrünstig gesungenen Verehrung für den Club Verwandtschaft mit Chorälen. Die Rock- und Pop-Szene lebt vom Kult um die Stars. Und mancher Heavy Metal-Musiker ergeht sich gar in der Verherrlichung des Satans. Ich sehe schon den Einen oder die Andere die Nase rümpfen, so etwas als Beispiele von Religion und Kultur zu werten. Aber ich meine, wir sollten uns von Beidem nicht ein zu enges Bild machen.

Machen wir uns nicht ein zu enges Bild von Religion! Es geht ja dabei nicht nur um die Kirchen und ihre Lehren und um die Praxis der Kirchenmitglieder. Die Soziologie hat den Blick geschärft, daß Religion, Religiosität unterschwellig in vielen Lebensäußerungen mitspielt: in dem Wunsch nach Erfahrungen und Erlebnissen, die über die Wirklichkeit unseres nüchternen Alltages hinausgehen; in Ritualen, die die Gewißheit vermitteln, zu einer Gruppe zu gehören; und in Therapien und Meditationen, die heilen sollen und die auf die Erfüllung einer unstillbaren Sehnsucht nach Heil aus sind. Daß wir den religiösen Charakter solcher und vieler anderer Phänomene nicht übersehen!

In ähnlicher Weise sollten wir uns vor zu engen Vorstellungen von Kultur hüten. Von "Freizeitkultur" wird überall geredet. Sie bildet einen wesentlichen Teil der Kultur unserer Gesellschaft, die der Soziologe Gerhard Schulze als "Erlebnisgesellschft" in seinem gleichnamigen Buch analysiert hat. In deren Kultur, die so ganz am Individuum orientiertt ist, deckt Schulze neue Milieus auf, z.B. das Selbstverwirklichungsmilieu und das Unterhaltungsmilieu. Diese Milieus trifft er besonders in der jüngeren Generation an. Kultur ist immer zu finden, wo es Menschen gibt. Wir dürfen uns von den hergebrachten Formen nur nicht den Blick für die neuen Ausdrucksweisen und Stilempfindungen versperren lassen.

Nun kann man darüber ein Klagelied anstimmen, daß sich von all dem wenig in den Kirchen wiederfindet. Religiöse Orientierung vollzieht sich heute meist außerhalb der Kirche, in esoterischen Zirkeln, in alternativen Therapien und in der Sport- und Musikszene. Sicher gibt es aus christlicher Sicht manches Kritikwürdige unter diesen Phänomenen. Aber anstatt auszugrenzen, sollte Kirche nicht vielmehr Heimat für religiöse Sehnsucht sein, die dort kritische Gesprächspartner sowie Raum für Selbstentfaltung findet? Ähnlich stellt sich die Frage im Hinblick auf die Kultur. Mit Hilfe von Schulzes Typenlehre der neuen Milieus hat der Religionssoziologe Michael E. Ebertz (Kirche im Gegenwind, 1991) die kirchliche Praxis kritisch unter die Lupe genommen. Das Leben in den Kirchen hätte sich vor allem vom Selbstverwirklichungs- und vom Unterhaltungsmilieu abgekoppelt, so sein Urteil. Derartig geprägtes Lebensgefühl werde von den Kirchgemeinden kaum noch erreicht, ja wer nicht in das innerkirchliche Harmoniemodell hineinpaßt, werde moralisch oder gar theologisch ausgegrenzt, etwa mit Argumenten gegen den Ich-Kult im Selbstverwirklichungsmilieu und gegen die Konsum-Orientierung im Unterhaltungsmilieu.
In Wirklichkeit liege aber der eigentliche Differenzpunkt in dem vom Milieu geprägten Stilempfinden. Seine kritische These lautet daher: die Kirchen, wie wir sie vorfinden, leiden unter "ästhetischer Milieuverengung".

Die Devise muß daher sein, die Milieus in der Kirche aufzubrechen, damit hier die unterschiedlichsten Prägungen und Stilempfindungen zu Hause sein können. Nicht unkritisch sie hinzunehmen heißt das, sondern sie in ihrer Unterschiedlichkeit anzunehmen. Wenn Kirche Heimat wird für Spiritualität unterschiedlicher Art wie für die verschiedenen Milieus unserer Gesellschaft, kann Religion auch wieder kulturvoll werden und Kultur sich wieder auf ihre religiösen Wurzeln besinnen. Tun wir also daran mit, daß in den Kirchen zusammenwächst, was zusammengehört!
 

Matthias Petzold war acht Jahre Gemeindepfarrer in Bautzen und ist nach Lehrtätigkeit an der Kirchlichen Hochschule Leipzig seit 1994 Professor für Fundamentaltheologie und Hermeneutik an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig, darin befaßt mit Grundfragen des christlichen Glaubens und Grenzfragen der Theologie zu Philosophie, Soziologie, Geschichtswissenschaft und Naturwissenschaften.



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