www.Crossover-agm.de Jugendkultur(en) und Kirche
von Wolfgang Kabus
(Columnäe aus CrossOver 3/00)

Das Wort des Philosophen Jürgen Habermas von der „neuen Unübersichtlichkeit“ trägt prophetische Züge. Wenn es ein Terrain gibt, wo es ohne jede Einschränkung gilt, dann im Bereich der Jugendkultur. Die kaum überschaubare Vielfalt läßt sie dem Uneingeweihten als „Irrgarten der Pluralität“ (W. Ferchhoff) erscheinen; für ihn ist sie labyrinthisch und verrückt.
Wo Unübersichtlichkeit herrscht, entsteht Bedarf nach Orientierung - wer gibt sie? Ist es nicht gerade die Auffälligkeit unseres Phänomens, die kirchliches Handeln herausfordern müßte? Sollte Kirche in den kulturellen Veränderungsprozessen der Gegenwart nicht nur passives Opfer, vielmehr aktive Mitgestalterin des Neuen sein? Das beträfe dann die Jugendkulturen an erster Stelle.
Das Interesse der Kirche an der Jugend ist kein Diskussionspunkt: Die umworbene Generation ist die (erträumte) Speerspitze ihrer Mannschaft. Trotzdem läßt sich ein starker Wandel beobachten: Wurde die junge Generation noch vor wenigen Jahren als Herzstück der Gemeinde bezeichnet, so ist sie heute bestenfalls eine kirchliche Randerscheinung. Sie wandert aus und geht eigene religiöse Wege. Liegt das am Unbehagen, das die Alten gegenüber dem jugendlichen Auftreten haben? Spricht Jugend heute mit ihren Zeichen, ihrer Kleidung, ihrer Musik ... eine Sprache, die mit Kirche nicht kompatibel ist? Oder liegt das daran, daß die gegenwärtige Jugendkultur von den „Kirchentreuen“ nicht als Normalität, vielmehr als Unfall der Geschichte begriffen wird, den es kirchlich zu reparieren gilt?
Jugend denkt grundsätzlich anders! Das war schon immer so. Heute will sie sich kompromißlos in ihren modernen jugendkulturellen Formen äußern, die für viele Kirchlich-Tradierte fremd, ja sogar bedrohlich sind. Ein Sprichwort rät, erst 14 Tage in den Schuhen des anderen zu gehen, bevor man über ihn redet. Mit Sicherheit ist das der einzige Weg, um den „garstigen Graben“ (Lessing) zwischen Jugendkultur und Kirche zu überwinden.
Um es noch konkreter zu sagen: Jugendkultur offenbart sich im Vollzug. Ihre soziologische Normalität kann nur aus der Nähe begriffen werden. D.h.: Wer sich dem jugendkulturellen Erlebnis verschließt, wer sich vor ihm ziert, kann nicht verstehen, warum es Jugendkulturen gibt. Wenn die Kirche an ihrer Zukunft interessiert ist, bleibt ihr keine andere Wahl, als den Areopag der „Jugend von heute“ zu betreten. Sie wird in der neuen Jugendkultur Werte entdecken, die sie überraschen. Vielleicht gelingt es ihr dann auch leichter, neue Optionen zu finden, statt immer nur Bedenklichkeiten zu äußern. Erst, wenn die Kirche den Abschied von ihrer tradierten übersichtlichen Kultur nicht mehr als Verlust betrauert, vielmehr als Gewinn begrüßt, erst dann tritt sie in einen zukunftsorientierten Handlungsraum ein.
CrossOver meint: Die Über-setzungsarbeit der Kirche zur abgewanderten Jugendkultur ist die einzige Chance, daß kirchliches Handeln im 21. Jahrhundert gelingt. Oder denkt eine Institution mit grauen Schläfen darüber anders?
 

Prof. Wolfgang Kabus:
- geboren 1936; Kirchenmusikstudium in Leipzig, A-Examen 1961
- seit 1996 Professor für Kirchenmusik und Hymnologie an der Theologischen Hochschule Friedensau (ThHF)
- Leiter des Institutes für Kirchenmusik an der ThHF mit dem Forschungsschwerpunkt „Christliche Popularmusik“
- Herausgeber mehrerer Gesangbücher
- Mitarbeiter und Referent bei verschiedenen nationalen und internationalen wissenschaftlichen Gremien und Symposien der Musikforschung und -praxis
 






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