www.Crossover-agm.de VICKI VOMIT & DIE MISANTHROPISCHEN JAZZ-SCHATULLEN: Für'n Appel und 'n Ei
von rls

VICKI VOMIT & DIE MISANTHROPISCHEN JAZZ-SCHATULLEN: Für'n Appel und 'n Ei   (Goodlife Records)

Es gab Zeiten, da konnte man Platten von Vicki Vomit nur als Gesamtkunstwerk betrachten. "Ich mach's für Geld" war so eine, deren übergeordnete Klammer lediglich durch den Humor gebildet wurde, wohingegen man musikalisch alles in einen Topf warf, was nicht schnell genug geflüchtet war, wenn man sich beispielsweise an die brillante Volksmusikadaption "Hollahi" erinnert oder auch an den Reggae "Paul". So stark die Einzelelemente für sich betrachtet auch waren - die Linie kam nur durch die Texte hinein, und damit blieb die Zielgruppe der Band natürlicherweise auf den deutschsprachigen Raum beschränkt, denn im Gegensatz zu beispielsweise Rammstein, in deren Texten es auch für Ausländer praktisch nichts zu verstehen gibt, ist der mal subtile, mal eher holzhammergeprägte Humor im Falle von Vicki Vomit für das Verständnis dieser Platten zwingende Voraussetzung. Das hat sich mittlerweile aber geändert: "Für'n Appel und 'n Ei" kann man völlig unter Ausblendung der Texte als starkes traditionelles Rockalbum genießen, dem die Stilvielfalt zwar etwas abhanden gekommen ist (wiewohl es den einen oder anderen nicht ganz artreinen Einschlag schon immer noch zu bestaunen gibt, beispielsweise das ausführliche Stoiber-Sample in "Stoi, Bär!"), das aber durch eine hohe musikalische Geschlossenheit besticht, was dennoch nicht in Eintönigkeit mündet, denn dazu sind die Beteiligten dann doch zu erfahren, wenngleich sich die Besetzung über die Zeiten hinweg durchaus verjüngt zu haben scheint - so ist etwa Langzeittrommler Kai Pfützenreuter nicht mehr dabei, und der zwischenzeitliche Gitarrist Tommy Feiler (mit dem Vicki schon in Urzeiten bei Prinzz und Blitzz zusammenspielte - damals kannte man den heutigen Hauptprotagonisten noch unter Flatzz I. Wanhoff oder schlicht unter Jens Hellmann) ist wieder auf seinen Produzentensessel zurückgekehrt. Aber natürlich ist ein Vicki Vomit-Album aus Sicht des Deutsch verstehenden Hörers inkomplett ohne die Betrachtung der Texte, und hier schießt der Erfurter mal wieder aus allen Rohren außer aus dem fäkalischen, das zwischenzeitlich mal etwas zu stark die Oberhand gewonnen hatte, mittlerweile aber wieder auf ein verträgliches Maß zurückgefahren wurde, denn sich auf dieses Niveau hinunterzubegeben hatte der Barde nun wahrlich nicht nötig. Dafür wird er sich für den Opener "Hartz IV", der das rauschende Leben eines Empfängers der titelgebenden Stütze behandelt, Ärger einhandeln, denn bei oberflächlicher Betrachtung scheint er sich hier tatsächlich über all jene lustig zu machen, die mit diesem Geld hinten und vorne nicht auskommen - man muß also schon etwas tiefschürfender graben, um den gesamtgesellschaftlichen Kontext zu entdecken, der schließlich in der grotesken Überzeichnung gipfelt, daß der Titelheld aus seiner Stütze heraus letztlich die komplette CDU "für'n Appel und 'n Ei" kauft. "Weiche Birnen", das den Rausch für alle fordert, damit das Volk nicht mehr auf die Idee kommt, die Maßnahmen der Regierenden zu hinterfragen, ist musikalisch tatsächlich ein wenig verkifft ausgefallen, wozu auch Ines Nabel ihren Teil beiträgt, indem sie ihren Keyboards hauptsächlich alte Seventies- oder gar Sixties-Sounds entlockt, was sie übrigens auch im weiteren Verlaufe des Albums oft und gern praktiziert. "Miss Beinebreit" geht als große Hymne durch, die die Praxis der Mißwahlen als verkappte Fleischbeschau geißelt, und fährt im Solo auch in die Seventies zurück, denn die Talkbox erinnert an beste Peter Frampton-Zeiten. Locker-flockig, aber mit energischem Gesang wird der "Pickelhitler" (der übrigens auch als geschickte Bild-Umsetzung auf der CD prangt) in die Ecke gestellt, aus der er leider immer wieder hervorkommt, um politische Macht zu übernehmen. Am Thema Problembär ist der Erfurter auch nicht vorbeigekommen, und dabei kam ihm sein Russischunterricht aus der Schule zu Hilfe: "Stoi" bedeutet im Russischen soviel wie "Halt", und so kommt man dann auf einen Songtitel namens "Stoi, Bär!" - da der Bär auf diese Aufforderung natürlich nicht reagiert, wird er von der Staatsmacht letztlich vernichtet, das ausführliche Stoiber-Sample in der Songmitte wurde bereits erwähnt, und selbst das Bandbackdrop hat eine neue Textierung erfahren - statt "Saufen & Humanismus United" gibt es jetzt "Schadbär & Problembär United". Cool übrigens das treibende Riffing unter dem eher lockeren Oberbau, das scheinbar die Jagd auf den Bären symbolisieren soll. Danach gibt's dreieinhalb Minuten Klangwaberung, auch hier wieder in Seventies-Manier mit gewisser fernöstlicher Schlagseite, die sich letztlich als Intro für einen eher basischen Rocker namens "Flugzeug vor dem Fenster" entpuppt, mit dem sich der Barde nach fünf Jahren zum Thema 9/11 äußert und auch hierbei wieder jede Menge Porzellan zertrampelt, noch nicht mit der reggaeuntermalten Feststellung, daß der Pilot offensichtlich nur einen Drive-In suchte, um den american way of life zu leben, aber dann mit dem Trauernachtrag, der hier und da dann doch etwas übers Ziel hinausschießt, humoristische Behandlung des Themas hin oder her. Da überzeugt "Ich und meine Ich-AG" deutlich mehr, wenn es die Schilderung eines solchen Menschen vornimmt, der Arbeitgeber und -nehmer in einer Person ist und schließlich als sein eigener Mehrheitsaktionär noch zur dritten Persönlichkeitsabspaltung wird - auch hier muß man, um die Systemkritik zu entdecken, wie schon in "Hartz IV" ein wenig zwischen den Zeilen lesen, auch hier wird die Talkbox wieder angeworfen, und der Orgelsound ist originalgetreu von Procul Harums "A Whiter Shade Of Pale" übernommen. Danach kommt Armin zu neuerlicher medialer Ehre, "Der Kannibale von Rotenburg", wieder eher locker-flockig, völlig unernst, aber eher in Richtung des Gegessenen und der sensationsgeilen Öffentlichkeit schlagend als dem Täter damit noch zuviel Öffentlichkeit verschaffend. "Getränkeunfall" thematisiert die Hoffnungslosigkeit des in ostdeutschen Neubauvierteln lebenden jugendlichen Bodensatzes der Gesellschaft, der Chapman Stick im Intro transportiert hier keine Wärme, sondern Verzweiflung, und der Refrain hat trotz energischen Gestus keinerlei aufrüttelnde Wirkung. Schlußendlich brauchen wir noch eine Beziehung der Platte zum Cover des Digipacks, in dem sie steckt, und der Affenmensch, der da am Mikrofon steht, wird zustandekommensseitig im Closer "Der Affe" erklärt - ein Erbstück eines Onkels aus Amerika, das ganz allmählich zum Bandleader mutiert und damit seinen Vorgänger überflüssig macht, da es mittlerweile Effektgeräte gibt, die auch dem untalentiertesten Sänger noch ein Belcanto ermöglichen; eine alles andere als irreale Vorstellung, wenngleich bei einem Blick auf die heutigen Charts deutlich wird, daß es in vielen Fällen selbst einer gewissen Sangeskunst gar nicht mehr bedarf, um zumindest zu Eintagsfliegenruhm zu kommen. Dieser Affe hier wird also mit technischer Hilfe zum Rockstar - eine wunderbare Sezierung des Musikbusiness, wie man sie in dieser Qualität und mit gleichzeitiger Ausschüttung des Humorfüllhorns selten antrifft. Damit endet ein über weite Strecken hochklassiges Album, das man wie beschrieben durchaus auch rein musikalisch goutieren kann (man beachte die starke Soloarbeit!), das aber seinen Reiz aus der Kombination aller Faktoren erhält und damit als eines der besten Alben im Vicki Vomit-Katalog durchgehen kann, auch wenn der Genußfaktor live noch höher ausfällt als in der Studiovariante.
Kontakt: www.vicki-vomit.de, info@goodliferecords.de

Tracklist:
Hartz IV
Weiche Birnen
Miss Beinebreit
Pickelhitler
Stoi, Bär!
Flugzeug vor dem Fenster
Ich und meine Ich-AG
Der Kannibale von Rotenburg
Getränkeunfall
Der Affe
 




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