www.Crossover-agm.de SYMPHONY X: The Odyssey
von ta

SYMPHONY X: The Odyssey   (InsideOut)

Der Donnerschlag "The Divine Wings Of Tragedy" war 1998 (also ein Jahr nach der regulären Veröffentlichung) mein erster Kontakt mit dem sogenannten Progressive Metal und öffnete mir die Tür in ein ganz neues Metier. Gnadenlose Power, Breitwandriffs, fulminante Bassläufe, Göttermelodien und Göttergesang, bis dato ungewohnt vertracktes Material, komplexe und trotzdem eingängige Songs, eine unfassbare Kreativität und Leichtigkeit und Unbeschwertheit und Naivität der Darbietung, die gar nicht verkopft wirken wollte, eine Riesenportion Spielfreude, sprich: ein Album, das so unglaublich war, dass ich es erst jetzt zu schildern versuchen kann. Symphony X, die auf ihrer ersten Tour überhaupt, selbiger nämlich zum guten "Twilight In Olympus"-Album, in Deutschland teilweise nicht einmal 50 Leute in den Club locken konnten, waren für mich so mitreißend wie keine Band zuvor. Das 2000 erschienene Opus "V - The New Mythology Suite" hatte einen kompositorisch gesehen stark apollinischen Einschlag, der sehr strukturiert und konstruiert wirkte, obwohl die gewohnten Trademarks noch immer en masse vorhanden waren. Qualitativ war "V" beinahe makellos komponiert und arrangiert, die Unbändigkeit älterer Tage war jedoch eingeschränkt. Mein erster Kontakt mit dem neuen Album "The Odyssey" war eine kleine Kollision. Im Camp der Amerikaner hatte und hat eine Reorganisierung stattgefunden: Die Melodiösität vergangener Alben wurde zugunsten einer schon früher angedeuteten Rauheit, die nun bis zur Dominanz ausgebaut wurde, beschnitten, erste Vokaleindrücke von Russell Allen verstörten aufgrund eines erhöhten Aggressivitätsfaktors, die großen, epischen Emotionspfeiler waren eingekerbt, die harmonische Chorarbeit wurde zurückgeschraubt, statt zu streicheln wurde zu oft geschlagen und das überstanden nicht alle markanten Kennzeichen, die in der direkten Konfrontation erst als solche bewusst wurden. Nachdem das Problem anfangs das Album zu sein scheint, ist es nach kurzer Denkpause jedoch der Fakt geworden, dass ich die vorhergegangenen Alben kannte. Ein Symphony X-Begegnungsdebütant hätte möglicherweise von Anfang an mit "The Odyssey" keine Schwierigkeiten. Es fand sich jedoch auch für mich und hoffentlich viele andere möglicherweise vor den Kopf gestoßene Die Hard-Fans, denen ich an der Stelle Grüße zusende, des Dilemmas Ausweg, der so einfach ist, dass es schon wieder schwer scheint: Symphony X als neue Band kennen, akzeptieren und in letzter Konsequenz lieben lernen. Denn was hier vorliegt, ist in letzter Konsequenz ein sowohl Prog- als auch Metal-Highlight allererster Güte. Erschrickt man zuerst angesichts der unbarmherzigen und dominanten Stakkato-Gitarren, kombiniert mit uneinprägsamen und mit shoutender Stimme vorgetragenen Vocallines von "Wicked" oder "King Of Terrors", möchte man sie nach dem sechsten Durchlauf gar nicht mehr missen, weil sie den exquisiten Charakter des Albums formen helfen. Was mit der ungewohnt aggressiven Attitüde zudem einhergeht, ist eine partielle Rückkehr der alten Verspieltheit und Unbekümmertheit. Wirkt das direkte und mit teils thrashigem Geböller ausgestattete "Incantations Of The Apprentice", welches mit 4:19 Minuten das kürzeste Stück der Platte darstellt, noch spartanisch reduziert, bietet "King Of Terrors" schon einen überlangen Solopart, "Wicked" wieder die rainbow'schen Gitarren-Keyboard-Duelle und eine bluesige a capella-Vokallinie am Ende der Bridge und das flotte "The Turning" ein kreischendes und schön unmelodisches Gitarrensolo zu Beginn, um nur ein paar Exempel zu statuieren. Die Freiheit, in dem 24-minütigen Titeltrack derart ungeniert soundtrackartigen Bombast der Neuzeit mit der albumimmanenten Direktheit zu kombinieren, einen Teil der schwelgerischen Epik aus dem Gesang und den Gitarren von ruhigen "The Divine Wings ..."-Zeiten zu addieren und dann noch in der musikalischen Mottenkiste aus dem Urzeitprog der 70er zu wühlen, eröffnet erwartungsgemäß neue Dimensionen, garantiert Hörgenuss der interessanten Klasse und hätte so definitiv auf keinem anderen Album der Band stehen können. (Marginal erwähnt: Michael Romeo verdient eine explizite Würdigung! Wer in einem Abschnitt wie "Circe" derart harmonisch Musik und Text sich gegenseitig in immer höhere Ebenen der angenehmen Becirzung schrauben lässt, gehört zweifellos zur obersten Songwriterliga.) Neben den enorm spannenden Neuerungen kokettiert Sänger Russell Allen natürlich nach wie vor mit eingängigen Melodien, die mal - clean gesungen - Reminiszenzen an alte Tage darstellen ("Inferno (Unleash The Fire)"), mal mit angriffslustigerem Unterton daherkommen ("Incantations ...", "The Turning"), vor allem aber immer begeistern, und die Instrumentalisten Romeo (git), Lepond (bass) und Rullo (dr) präsentieren sich versiert wie eh und je; geschickte Taktsprünge, nicht mitzählbare Breaks und ein Gitarrenlegato, welches einem Szeneguru wie John Petrucci (Dream Theater) in nichts nachsteht ("Incantations ..."), sind eben trotz aller Neuerungen verläßliche Konstanten. Lediglich Michael Pinella, der Hochschulabsolvent an den Tasten, setzt zwar sein Instrument auf die gewohnte Art ein, kann aber nicht immer neben der übermächtigen Gitarre bestehen, was sich gelegentlich in der ersten Hälfte des Albums bemerkbar macht. Unersetzbar bleibt er selbstverständlich, wenn er filigran die besinnlicheren und emotional elektrisierten Lieder bereichernd zu gestalten weiß oder gekonnte Abwechslung zwischen die unzähligen Gitarrensoli streut. Bei drei bisher unerwähnten Songs streift man vergessen Geglaubtes (was progressiv wiederum natürlich nicht unbedingt ist): Das melancholische "The Accolade 2" wäre ein Überflieger, gäbe es nicht den gleichnamigen ersten Teil auf "The Divine Wings ..." noch hochklassiger zu hören, und unterliegt im Refrain einem wahlweise stimmungsraubenden oder geniehaften Antagonismus zwischen der sphärischen Musik und Text (Zitat: "On the field with sword and shield, (...) war is waged - and the battle will rage"), der vielschichtige 8-Minüter "Awakenings" ruft Assoziationen an das Jahr 1995 und "The Damnation Game" hervor und das nur auf der Digipack-Version des Albums, welche übrigens auch mit ausführlichen Linernotes aller Bandmitglieder zu den einzelnen Songs und einer Menge Studiofotos glänzt, befindliche "Masquerade" (in einer Erstfassung bereits auf dem selbstbetitelten Debüt zu finden) erinnert nicht nur ebenfalls an die gerade genannte Scheibe, sondern liebäugelt auch mit Bach-Fugen und Vivaldi-Referenzen im Intro. Statt sakraler Thematik greift man in den Texten selbstverständlich weiterhin durchweg mythologisch-phantastische Inhalte auf, die den Bezug zu aktuellen Themen inzwischen sehr verdeckt gestalten, was ich nicht unbedingt befürworte.
Musikalisch erhält "The Odyssey" jedoch mein vollstes Plazet. Diese Band kann kein Album schreiben, das nicht 100%ig nach SymphonyX klingt. Und damit auch kein schlechtes. Wenn das hier eine Odyssee darstellt, würde ich den Protagonisten des Ursprungsmythos sofort mit vor Sehnsucht bebender Brust zum Rollentausch auffordern. Das war jetzt ein wenig pathetisch. Entschuldigung.



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