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von ta

SCARVE: Irradiant  (Listenable Records)

Wissen ist Macht. Man kennt das, glaubt das zu kennen. Aber interessiert das? Natürlich! Wo Wissen voranschreitet, werden die Wege an den Rändern breiter. Präzedenzfall: Die Eugenik-Debatte ist (hoffentlich) in aller Munde und Köpfen; in Zeiten, in denen über ein vollständiges Menschenbild letztlich im Labor entschieden wird, ebbt der Bedarf nach Diskussion so schnell nicht ab. Aktiver Teilnehmer dieser Diskussion ist Dirk Verbeuren, Schlagzeuger und Texter der Franzosen Scarve, die mit "Irradiant" bereits das dritte Album vorlegen, welches sich dem ethischen Schlagabtausch um Genforschung und Nanotechnologie widmet. "Irradiant" hat als kritische Hinterfragung eines Forschungsprozederes, das "können" und "dürfen" in greifbare Nähe zueinander rückt, den gleichen warnenden Charakter, welcher der Contra-Seite der Wissenschaftler, die die Fortschritte und Möglichkeiten der Eugenik reflektieren, berechtigterweise so zu Eigen ist. Denn mit jedem Schritt der Genforschung, der Fortschritt ist, wachsen die Möglichkeiten der manipulativen Eingriffe und die Vervollkommnung (?) der Spezies "Mensch" verliert plötzlich ihren utopischen Charakter, offenbart dabei eine äußerst fragwürdige Seite und stellt die Frage nach dem Wert des menschlichen Lebens neu. "Irradiant" beschreibt in diesem Rahmen ein Verschwörungsszenario, das kritische Betrachter nicht nur als "futuristisch" (das ist es zweifellos), sondern auch als "überzogen" abstempeln könnten. Doch so leicht nicht dies ... Denn Verdeutlichung braucht manchmal die Übertreibung, allerdings nicht als maßlose Ausweitung, sondern als Näherbringung eines Problemgegenstandes, der fern oder nicht relevant, klein scheint - als Übertreibung wie ein Mikroskop übertreibt. Wenn der gemeine Metaller (denn niemand anderen dürften Scarve musikalisch ansprechen) also bei "Scarve" spätestens jetzt, ab diesem Album, immer das "Gentechnologie" mitdenkt, ist immerhin schon etwas erreicht und Verbeuren hat sich nicht ganz umsonst die Mühe gemacht, englische Zeilen zu finden, die sich als vollkommen phrasenfrei erweisen. Was freilich mit sich führt, dass ein Wörterbuch beim Studium der Texte unerläßlich ist und selbst dann nicht die Garantie allgemeinen Verständnisses gegeben werden kann. Zumindest mir ist manchmal nicht ganz klar, worauf der Mann hinauswill: "HyperConscience" wird mir wohl auf ewig verschlossen bleiben, wenn sich nicht ein CrossOver-Leser findet, der das Dunkel lichtet. (Wer das als Aufruf verstanden hat, liegt nicht ganz falsch.)
Musikalisch lassen sich Scarve grob unter Extreme Metal einordnen. Im energetischen Gebräu des Sextetts mit Doppelsängerbesetzung treffen sich Death und Thrash Metal, gehen weiterführend eine tiefe Liaison mit dem Meschugge Metal von Meshuggah ein, so dass das Ergebnis ein mächtig brutaler Kotzbrocken ist - aber stets fein gewürfelt. Scarve musizieren dennoch leichter verständlich als ihre hochkomplexen schwedischen Verbündeten, kleiden sich auch nicht durchweg in schmerzendes Dunkelschwarz und hacken vor allem nicht nur einmal alles gnadenlos in Grund und Boden. Das Opening-Triple "Mirthless Perspectives", "An Emptier Void" und "Irradiant" ist gespickt mit Blasts übelster Sorte und die Doublebass-Sechzehntel prasseln im Sekundentakt auf den Hörer ein. Dabei bleibt aber genug Raum für zweistimmige, primär wunderbar disharmonische Riffteppiche, wabernde Akustikklänge und abgefahrene Arrangements. Zweifler testen "Irradiant" mal an: Auf einen dezent angejazzten Blast legt sich ein solisierendes Basstapping, zu dem sich ein Ultraschall-Doublelead der Gitarren gesellt. Klingt nett; ganz und gar nicht nett aber die dunklen, melancholische bis depressive Stimmungen assoziierenden Härtner "Asphyxiate" und "The Perfect Disaster", welche sich beide in niederen Temporegionen durch ein Feld aus Schmerz und Wut kämpfen - und das musikalisch nicht immer ganz einfach nachvollziehbar. Hierbei: Der Chorus von "The Perfect Disaster" bleibt vermutlich von der Band unerreicht in spe. Die vielen anderen Gesangslinien, die Sänger Guillaume Bideau in den Refrains clean darbietet, sind doch mit Ausnahme vom vielschichtigen, achtminütigen "Boiling Calm" leere Ein-Ton-Effekthascherei, die selbst mit Gitarrenharmonien nicht viel hermachen und sich besser bei den New-Metallern Linkin Park einfügen würden. Das Gebrüll bis Gekreische des Duos Bideau/Pierrick Valence allerdings entfacht mächtigst Energien. Tiefer Death Metal-Gesang bleibt weitestgehend außen vor, wird aber auch nicht vermisst. "Irradiant" ist, von welcher Seite man es betrachtet, eine runde Sache ohne Ausfälle. Das Cover gar stimmt ... mit dem Thema der Texte überein. Gipfel des Entzückens ist die "Deluxe Edition" des Albums, die mit zwei zusätzlichen Live-Mitschnitten vom Debüt "Translucence" aus dem Jahre 2000 und einem CD-ROM-Part aus u.a. den Videos zu "Mirthless Perspectives" und "Emulate The Soul" ausgestattet ist. Meshuggah-Fans, Darkane-Verehrer, Todesblei-Liebhaber, Mathematikstudenten und Brezelbäcker dürften an "Irradiant" mehr als Gefallen finden. Kontakt: Listenable Records, B. P. 73, 62930 Wimereux, France oder www.listenable.net. Hingen, äähh, -gehn!

Tracklist:
1. Mirthless Perspectives
2. An Emptier Void
3. Irradiant
4. Asphyxiate
5. HyperConscience
6. The Perfect Disaster
7. Molten Scars
8. FireProven
9. Boiling Calm



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