www.Crossover-agm.de ROZ VITALIS: L'Ascensione / Painsadist
von ta

ROZ VITALIS: L'Ascensione   ROZ VITALIS: Painsadist   (Eigenproduktion)

Im Jahr Neunzehnhundertvierunddreißig klang der Orgelzyklus "L'Ascension" erstmals von den Emporen irdischer Kirchen und rief nicht überall Begeisterung hervor, schien er doch eher Martyrium als Himmelfahrt. Olivier Messiaen, der Komponist, ist von jeher nicht zu den Vertretern plakativer Schönklänge zu zählen, wird in den Fünfzigern gar zu einem Hauptvertreter des Serialismus (in welchem das kompositorische Schlussresultat, das Musikstück, bekanntlich durch vorher festgelegte Parameterreihen bestimmt wird).
Ob ROZ VITALIS mit dem Werk des französischen Komponisten vertraut sind, ist mir nicht bekannt. Der Verdacht liegt allerdings nahe; schließlich fokussiert das russische Quartett seinen Blick ebenfalls auf eine Melodik, die auf der vielbeschworenen Auflösung der Tonalität im zwanzigsten Jahrhundert (welche sich dann doch nur auf die sogenannte E-Musik beschränkte) beruht und der akribisch-progressive Umgang mit Rhythmik geht auch partiell in beeindruckender Analogie mit Messiaens rhythmischer Raffinesse daher. Die Umsetzung freilich sieht auf "L'Ascensione" (2002) und der mit vierzig Minuten recht großzügig bemessenen Mini-CD "Painsadist", beide aus dem Stall von Roz Vitalis, vollkommen anders aus, weil hier ein musikalisch dann doch differierendes Terrain verteidigt wird, das nämlich der elektronischen Musik. Nun ist heute ja Musik in den meisten Fällen mit Elektronik verbunden, wird man mit naivem Blick auf die Popular-Charts meinen. In Bezug auf die E-Musik allerdings meint elektronische Musik nicht nur den freien Umgang mit von Stromzufuhr gespeisten Geräten und Instrumenten, sondern auch ein prinzipielles Umkrempeln melodischer, besser: klanglicher Gewohnheiten, die Emanzipation des Hantierens mit neuen Möglichkeiten, die sich in geräuschhaften Klängen wie Rauschen oder Laser-Gewitter-Imitieren oder Brrrzzzln oder Schnarrrrrrrrrggln manifestieren konnte. Soviel zum musiktheoretischen Exkurs. ROZ VITALIS sind mit den Möglichkeiten des Computers und des Synthesizers so sehr vertraut, dass sie andere Chancen zur Produzierung von Musik gar nicht erst in ihre Komponierstübchen gelassen haben, sieht man von vereinzelten Gesangssequenzen mal ab. Damit dürfen Rockfans aufhören, diese Rezension zu lesen.
Pause.
Ich schreibe weiter. Daß hier nun, trotz evidenter Verweigerung vor der Gattung der bloß unterhaltend geschimpften Musik, mitnichten Klassik vorliegt, dürfte somit ebenfalls klar sein. Nun lösen sich ROZ VITALIS aber nicht vollständig in elektronische Spielereien auf, sondern sind bemüht, auch dem konventionellen Hörgewohnheiten unterliegenden Hörer, welcher jeder Hörer, wenn auch in differierendem Maße, ist, ein paar Anhaltspunkte zu liefern, an denen er sich durch den Verlauf der Scheiben entlanghangeln kann, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Die schon erwähnte rhythmische Komponente setzt eine entsprechende Maschine um, die unter dem Terminus "Drumcoputer" mehr oder weniger verdiente Popularität erlangt hat und bevorzugt mit polyrhythmischen Figuren trumpft, nachzuhören zum Beispiel in "The Risk-Burden-Taker (L'Ascensione I)". Und natürlich existieren auch genug Melodien, die man nach ein paar Hördurchläufen wiederzuerkennen in der Lage ist, bspw. diverse Themata aus dem Titelstück der EP von 2003. Allerdings ebenso selbstverständlich ist die Existenz von fremdartig-chaotischer Tonführung unter dem Diktum der konsequenten Atonalität nicht zu leugnen, auch wenn sie, wie man nach intensiver Beschäftigung mit der Musik von ROZ VITALIS feststellen kann, nicht ein oberes Prinzip an sich darstellt, sondern nur bei Bedarf genutzt wird, soll heißen, im Gegensatz zu zugänglicherer, weil tonaler Kost, den kleineren Teil der Spielzeit wegnimmt. Analog funktioniert hier der Umgang mit Harmonik. Das konsequente Übereinanderlegen von Sekundenintervallen oder der Bau einer Melodielinie auf einem von dieser stark differierendem harmonischen Akkordfundament sind gerne verwendete, doch nicht schlussendlich dominierende Umgangsarten mit dem Erbe einer neuen (?) Ästhetik des zwanzigsten Jahrhunderts, die noch immer den Hörer in hohem Maße herauszufordern in der Lage ist. Solche Modalitäten der Musikoffenbarung fallen bei ihrem Auftritt einfach nur mehr auf (wodurch leicht ein mißlicher Eindruck von der Musik entstehen kann). Womit wir bei den "Sounds" angekommen wären. Die schweifen nun gerne aus in eine Geräuschkulisse, die sich gut für die Untermalung der nächsten Star Trek-Weltraumschlacht eignen würde und auch das Ausloten extremer Frequenzen wird dabei konsequent mitgenommen, so dass man manchmal unwillkürlich den Kopfhörer vom Ohr zu reißen verlangt ist ("Through a spiral ...").
Im Gegensatz zur "instrumentellen", elektronischen Musik, die mit ihrem weltfremden, gleichzeitig verspielt und statisch-sterilem Charakter eine vorsichtig zu betretende neue Sphäre zu entwerfen vermag, steht der (russische) Gesang von Nadezhda Regentova, Vassily Raskov und den Gastsängerinnen Ekaterina Sofronofa und Natalie Agapova. Dass bei einem solch geringen Auftreten der Komponente "Gesang" wie auf diesen Veröffentlichungen, nämlich bei schätzungsweise fünf Prozent der Gesamtspielzeit, überhaupt Gastgesang herangezogen wird, ist schon merkwürdig genug. Dass dann aber dieser Gesang auch derart in seinem naturbelassenem Zustand belassen wird, dass jeder Schlenker in der Stimme zu hören ist, entwirft eine so seltsame Diskrepanz zum Rest der Musik, dass ich ob solch eines komischen Verhältnisses bei den ersten Hördurchläufen unwillkürlich in schallendes Gelächter ausbrechen musste. Solche Paradoxien lösten sich im Verlauf des Annäherungsprozesses, den "L'Ascensione" und "Painsadist" bei und von mir verlangten, nicht vollständig auf, aber sie werden relativiert unter dem Hinweis, dass sich jede Frage - und das ist das Höchste, selbstverständlich gleichzeitig Verstörendste, was Musik erreichen kann - in des Hörers Hingabe an das Sujet "Musik" selbst beantworten, verwerfen und erübrigen kann.
Wie nun aber dorthin kommen? Von einer einladenden Atmosphäre im Sinne einer willenlosen Darreichung der eigenen Seele an die Musik kann hier doch keine Rede sein! ROZ VITALIS kosten nicht den Moment aus, sondern fallen von einer Idee in die nächste und der Hörer fällt mit. Musik, die reinen Stress markiert. Hier ist Musik, die fragen lässt: Wie gehe ich mit ihr um? Wie kommt sie zu sich? Wie kann ich mir das anhören? Am Stück, Song für Song, Minute für Minute? Rückwärts, wenn es eine LP wäre? ROZ VITALIS machen Musik, die schwerlich für sich alleine bestehen kann, Musik, bei der man leicht geneigt ist, das Feld der bloßen, komprimierten Ästhetik ("Gefällt mir das oder gefällt mir das nicht?") zugunsten außermusikalischer (nicht im Musikstück selbst befindlicher), theoretischer Fragestellungen zu verlassen und eine Einordnung in universalere Kontexte, seien sie bspw. historischer oder künstlerisch-idealistischer Art. Dafür ist Reflexion nötig, solche freilich spielt im Umgang mit Musik heute, gerade im U-Bereich, eine eher untergeordnete Rolle (was sich wiederum in einen größeren Kontext stellen ließe, worauf ich hier verzichte), ein Umstand, der ROZ VITALIS' Ausdrucksform einer speziellen, auf einen eher kleinen Konsumentenbereich zugeschnittenen Zielgruppenorientierung obliegen lässt. Soviel dazu.
Anderer mag meinen, dass diese CD eher die Frage aufkommen lässt, ob jeder, der einen Computer, respektive: Synthesizer sein Eigen nennen kann, befugt ist, sich musikalisch zu äußern? Aber noch einmal: ROZ VITALIS machen nicht Techno. Sie strukturieren ihre Songs vielschichtig und auch überlegt. Allein ein Blick auf die Liedlängen (von anderthalb Minuten bis beinahe einer Viertelstunde ist alles dabei) sollte ahnen lassen, dass hier nichts "einfach mal so dahingezimmert", geschweige denn kommerziellen Gelüsten unterworfen wurde. Techno ist dumpf (ist ja auch Sinn der Sache) und zwingt vermutlich keinen Menschen unter Dreißig mehr zur Erörterung eines neuen Feldes. Ein solches loten ROZ VITALIS aber aus. Was daraus geworden ist, entscheide jeder für sich, mit einer Portion Eigeninitiative und vielleicht dem Willen, nach drei Mal Lachen auch ein einziges Mal Hören zuzulassen.
Kontakt: irozmain@yandex.ru

Tracklist:
"L'Ascensione"
1. The Risk-Burden-Taker (L'Ascensione I)
2. From Heaven To Earth (St. Mark 9, 5-18)
3. The Unpurified Substance Of A Soul
4. Through A Spiral Of Vanity To The Reflections About The Decline Of Extinct Superstar
5. Dreamy Memories
6. Ascension Dream
7. Before The Outset Of The Way
8. Repentance (L'Ascensione II)

"Painsadist"
1. Painsadist
2. Vision Of Loving Fire
3. Play With Everlasting Fire
4. Exodus
5. Miles Tonight
6. Smile Tonight
7. Painsadist (Ascension DreaMix)
 




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