www.Crossover-agm.de REYKJAVÍK WIND QUINTET: Cantus Borealis - Wind Music From The Faroe Islands
von rls

REYKJAVÍK WIND QUINTET: Cantus Borealis - Wind Music From The Faroe Islands   (BIS/Tutl)

Wer in den letzten Monaten regelmäßig die neuen Reviews bei CrossOver verfolgt hat, wird dort eine ganze Reihe von Künstlern entdeckt haben, die von den Färöer Inseln stammen. Irgendwie scheint dort jeder der gerade mal 45000 Einwohner (um einen deutschen Vergleichswert zu nehmen: Das entspricht ungefähr einer Stadt wie Altenburg!) eine Affinität zur Musik zu besitzen, nimmt man die Anzahl der Veröffentlichungen, die beispielsweise das Tutl-Label generiert, als Anhaltspunkt. Allerdings war das nicht immer so, wie uns der Booklettext der vorliegenden CD belehrt: Zwar dienten beispielsweise färöische Gedichte schon länger als Vorlage für beispielsweise Chorwerke dänischer oder anderer Komponisten, aber aktives Komponistentum war bis 1984 auf den Färöern kaum verbreitet. Das änderte sich in diesem Jahr, als das Westjütländische Kammermusikensemble aus Dänemark in der färöischen Hauptstadt Tórshavn einen Kompositionsworkshop durchführte, mit einer Generation junger färöischer Komponisten an deren Werken arbeitete, diese auch aufführte und damit eine Art Urknall auslöste. So entstand in der Folge eine immense Menge an neuen Kompositionen, immer neue junge Komponisten wuchsen heran, maßgeblich gefördert u.a. auch durch das seit 1992 bestehende Sommerfestival "Summertónar", wo es regelmäßig zu Uraufführungen neuer Werke kommt. Und obwohl jeder der färöischen Komponisten seinen eigenen Stil besitzt, so kann man doch auch diverse Parallelen in ihren Werken feststellen, beispielsweise das häufige Vertonen von landschaftlichen oder sonstigen naturentnommenen Bildern (was dann im Extremfall schon mal zu Kompositionen über die Formen der Inseln des Archipels führt, wie im Falle von Kristian Blaks "Firra" geschehen). Nun kommt also beim durchaus mit einem guten Namen in der Klassikwelt behafteten schwedischen BIS-Label eine CD heraus, welche färöische Kompositionen für Holzbläserquintett (das eigentlich kein echtes ist, da das integrierte Horn ja zu den Blechblasinstrumenten zählt) oder davon abgewandelte Besetzungen beinhaltet. Für die Einspielung zeichnet allerdings ausnahmsweise mal kein färöesisches Ensemble verantwortlich, sondern das Reykjávik Wind Quintet, das - der Name verrät es schon - in Island beheimatet ist und - das ist selbst in der klassischen Musik mit ihren langlebigen Ensembles ungewöhnlich - zum Zeitpunkt der Aufnahmen (das war 1999 - übrigens exakt 1000 Jahre nach der offiziellen Einführung des Christentums auf den Färöern) immer noch in der Gründungsbesetzung mit dem Flötisten Bernhardur Wilkinson, dem Oboisten Dadi Kolbeinsson, dem Klarinettisten Einar Jóhannesson, dem Hornisten Jósef Ognibene und dem Fagottisten Hafstein Gudmundsson spielte.
Einer der absoluten Höhepunkte der CD steht gleich an erster Stelle der Tracklist: "Intermezzo No. 1" von Pauli í Sandagerdi (der einzige der sechs vertretenen Komponisten, der bereits vor dem oben genannten Workshop an die Öffentlichkeit getreten war) bezieht sich auf den Teil der Weihnachtsgeschichte aus Lukas 2 in den Versen 1 bis 20 und stellt eine wunderbar lyrische Stimmung in den Raum, welche dankenswerterweise ohne die heute weit verbreitete weihnachtliche Gefühlsduselei auskommt und wahren "Weihnachtsfrieden" verkündet. Atli Petersen will Sandagerdi da nicht nachstehen und läßt sein "Trio for flute, clarinet and horn" im ersten Satz (passenderweise auch "Inngangur" betitelt) ein wunderschönes Hornthema evozieren, in das man sich am liebsten hineinlegen möchte, bevor man im weiteren Verlaufe des Stückes aus der Traumwelt wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt wird, die aber immer noch viel Spaß macht. Analoges gilt für das "Allegro energico", den zweiten Satz aus Kári Baeks "Hugleidingar (Fantasia)", nachdem man im ersten Satz dessen Titel "Andante espressivo" mehr oder weniger wortgetreu umgesetzt hat und eher lautmalerisch-expressiv agierte. Bis hierher fällt bereits auf, daß sich die Musik ausschließlich im tonalen Bereich bewegt hat - atonale Experimente, Cluster und ähnliche Gebilde, deren übermäßiger Einsatz manchem Hörer den Genuß rezenter klassischer Werke verleidet, findet man auf der CD nahezu gar nicht. Der einzige, der ein wenig in diese Richtung schielt, ist Kristian Blak mit seinem fünfsätzigen "Stjornur (Constellations)", aber auch er wählt seine Konstellationen so, daß der Hörer nicht mit dem großen gußeisernen Fragezeichen erschlagen wird, schwebt über "Orion" und "Taurus" zur "Auriga", erreicht seine Klimax mit einem an der oberen technischen Grenze befindlichen Flötentriller in "Nordlýs (Aurora Borealis)" und findet mit dem letzten Satz "Constellations" wieder ins Hier und Jetzt zurück. Vor Blaks Werk kommt aber noch einmal Pauli í Sandegerdi zu Wort, der in dem intermezzoartigen, nur reichlich zweiminütigen "Dialogorr" die Flöte und die Oboe miteinander streiten läßt, obwohl zwischen den beiden grundsätzlich durchaus Sympathie herrscht, was das Goethe-Wort "Im Ehestand muß man sich manchmal streiten, denn dadurch erfährt man etwas voneinander" ins Gedächtnis bringt. Kári Baek zieht in seinem zweiten vertretenen Werk "Elegie og Humoresque" noch ein Klavier hinzu (als Gast spielt Gudridur Sigurdadottir, wie ihre fünf männlichen Kollegen auch hauptamtlich am Isländischen Sinfonieorchester tätig), das im ersten Satz "Elegie" tatsächlich elegische Tonmalerei mit seinem musikalischen Partner, dem Fagott, betreibt und im zweiten Satz (eigentlich müßte sich ja jetzt jeder zusammenreimen können, wie der heißt ...) eher ausgelassen hin und her zu springen beginnt. Mit seinem "Blásarakvintett" (nein, das übersetze ich jetzt nicht ...) stellt Atli Petersen sein goldenes Händchen für ausgeprägte und eingängige Motivarbeit ein weiteres Mal unter Beweis. Der Mann sollte Aufträge für Filmmusiken erhalten - jedenfalls paßt dieses Stück in jedweden hollywoodischen Monumentalfilm und wertet diesen vermutlich sogar noch auf. "Großes Kino!" könnte man doppelsinnig ausrufen. Leider halten die beiden letzten Werke in meinen Ohren den bisherigen Standard nicht ganz, was aber auch Gründe in Stilvorlieben bzw. -nichtvorlieben haben mag: Edvard Nyholm Debess steuert "Badumegin vid (On Both Sides)" bei, ein Stück für Klarinette solo, das etliche gute Ideen transportiert, diese aber nicht konsequent genug zu Ende denkt. Bleibt das Titelstück "Cantus Borealis", geschrieben von Sunleif Rasmussen und fast 13 Minuten lang, das die verschiedenen Ausprägungen des Windes symbolisieren soll, mir persönlich aber des öfteren zu konstruiert und wirr daherkommt, zumal die simulierten Windgeräusche am Anfang eher ein Kinderhörspiel als eine E-Musik-Komposition erwarten lassen. Aber auch für so etwas werden sich Liebhaber finden, und ich konzentriere mich dann halt eher auf andere der vertretenen Stücke. Eine reizvolle Werkschau in die färöesische Bläserwelt ist's allemal, mit knapp 70 Minuten auch nicht unterdimensioniert, und so sollte man, falls man sich belehren lassen will, daß zeitgenössischer Tonsatz nicht zwingend unzugänglich sein muß, dieser CD auf jeden Fall seine Aufmerksamkeit schenken.
Kontakt: www.bis.se, www.tutl.com

Tracklist:
Pauli í Sandagerdi: Intermezzo No. 1
Atli Petersen: Trio for flute, clarinet and horn
  I. Inngangur. Rubato
  II. Millumstykki. Marcato
  III. Sangur. Tranquillo
Kári Baek: Hugleidingar (Fantasia) for wind quintet
  I. Andante espressivo
  II. Allegro energico
Pauli í Sandagerdi: Dialogorr (from "Tónabrot úr Havn") for flute and oboe
Kristian Blak: Stjornur (Constellations) for wind quintet
  Orion
  Taurus
  Auriga
  Nordlýs (Aurora Borealis)
  Constellations
Kári Baek: Elegie og Humoresque for bassoon and piano
  Elegie
  Humoresque
Atli Petersen: Blásarakvintett (Wind Quintet)
Edvard Nyholm Debess: Bádumegin vid (On Both Sides) for clarinet solo
Sunleif Rasmussen: Cantus Borealis for wind quintet
 




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