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von ta

PSYCHOTIC WALTZ: A Social Grace/Mosquito    (Metal Blade)

In der vorderen Hälfte der Neunziger des 20. Jahrhunderts, nämlich 1990 und 1994, sind zwei Alben erschienen, von denen zumindest eins in Szene-Kreisen einen anbetungswürdigen Status innehat und die auch in ihrer wiederveröffentlichten Form 2004 an Klasse den größten Teil anderer Metalbands in ihre Schranken verweisen. Was hier akut wie eine verkaufsfördernde Phrase klingen mag, soll eigentlich sein, was ich denke, wenn ich über "A Social Grace", die erste, und "Mosquito", die dritte von Psychotic Waltz veröffentlichte Silber-, eigentlich Goldplatte, sinne. An bandinternen Streitereien ist das Quintett aus San Diego nach "Bleeding" (wird demnächst ebenfalls neu aufgelegt) zerbrochen und diese Re-Releases kündigen hoffentlich keine lauwarme, weil nur von alten Glanztaten zehrende Reunion an, auch wenn Psychotic Waltz zu den Bands gehören, denen selbst im 21. Jahrhundert eine maßgebende Platte gelingen könnte, sowie dies mit Alben wie "A Social Grace" und "Mosquito" vor zehn, fünfzehn Jahren geschehen ist.
"A Social Grace" ist Progressive Metal, keine Frage. Aber bei Psychotic Waltz ist Progressive Metal über alle Maßen exquisit und unnachahmbar, wozu jeder Beteiligte scheinbar mühelos beiträgt. Die Gitarrenriffs von Brian McAlpin und Dan Rock sind durchflutet vom Charakter einer Granitwand, die sich so steil in die Höhe erhebt, dass ein Ende nicht ersichtlich ist, scheinbar unbegrenzt in Variationsmöglichkeiten, ebenso Melodiebögen - spannend wie knochenhart, mit der selben Selbstverständlichkeit hochkomplex ausufernd wie auf nötige Grundtöne reduziert, auseinanderdriftend und wieder zusammenfallend und sogar in den meisten Akustikparts von einer Rastlosigkeit und Weite, die ihresgleichen sucht. (Im Prinzip ist damit jeder neue Durchlauf des Albums ein neues Entdecken der einzelnen Songs, ein immer neuer Blick unter einem anderen Licht. Die Immensurabilität eines solchen Phänomens - wenn man das mal so sagen darf - ist begeisternd.) Das Rhythmusduo Ward Evans/Norm Leggio sorgt für die Pfunde genauso wie für lockere Spielereien, wobei besonders Leggios Drumming nicht hinter reinem Metal Halt macht, was in der späteren Entwicklung der Band noch stärker hervortreten wird. Speerspitze dieser musikalischen Wunderwaffe ist Buddy Lackey, verantwortlich für Gesang, Querflöte und Texte, brillierend in jedem der drei Bereiche. Was nach fünf Hördurchläufen noch wie bizarr in den Raum improvisiert scheint, was stetig pendelt zwischen ausbruchsartig-emotional und abgehoben-irrational, lässt einen nach dem sechsten Durchlauf nicht mehr los und fällt in ein völlig unkonstruiert anmutendes System aus Komplexität, in dem gar nicht mehr zwischen Instrument und Gesang, Musik und Text unterschieden werden kann. "A Social Grace" ist ein Gewitter auf die gebeutelte Seele, ein musikalischer Sommerregen, textlich auf seine Art und Weise hervorzuheben. Die Texte von B. Lackey (eigentlich heißt er Devon Graves) kreisen um die Suche nach Sinn und Bestimmung, suchen einen Standort von Menschheit und Individuum. Die Gedanken, die Lackey entspringen, kleidet er jedoch in ein poetisch-abgehobenes Gewand, wie es in praktisch sehr ähnlicher Weise King Crimson und Jethro Tull taten und welches Psychotic Waltz gerne den Ruf einer reinen Marihuana-Band (von Kiffenden, für Kiffende) einbrachte. Wer sich durch das Geflecht aus Phantasien über Sterne und das Fliegen (taucht ständig auf) und weiterer verdächtiger Metaphorik jedoch einmal gekämpft hat, wird das Gedachte ohne sein grasgrünes Gewand aufzuspüren und anzufragen vermögen, stelle es sich dann als banal oder gewichtig-herausfordernd heraus.
"Mosquito" ist anders. In ihren konstitutiven Grundzügen sind alle mit zwei vorhergehenden Alben manifestierten Trademarks der Band auch hier vertreten, aber "Mosquito" ist eine auf seine Art und Weise reduziertes Album im spielerischen, ein dafür um so bewegenderes im emotionalen Maße. Was früher explizit gehandelt wurde, also technische Fertigkeiten, verschachtelte Einzeleinheiten aus verschiedenen Instrumentgruppen und Gesang, das rationale Bestreben, progressiv zu agieren etc., tritt in den Hintergrund und entwirft ein Bild, welches ebenso völlig anders als "A Social Grace" (und der Zweitling "Into The Everflow", der ebenfalls wiederveröffentlicht werden soll) aussieht, dabei aber unverkennbar Psychotic Waltz und nichts anderes symbolisieren kann. Mit "Mosquito" haben Psychotic Waltz sich von einer Band mit Musikern zu einem einzigen musikalischen Phänomen entwickelt. Dieses Phänomen umfasst die Musik auf dieser CD, die eigentlich eine Reise ist und einen ganz woanders aufstehen lässt als dort, wo man sich legte, ebenso wie die Reaktion des Hörers. "Mosquito" nimmt einen weit mit sich fort. Das mag daran liegen, dass die über jeglichen Zweifel erhabenen Melodien eingängiger, die Songs in ihrer Vielfalt und Ausuferung viel reduzierter sind, als man es von den beiden Vorgängeralben kennt (und das hat vielen Fans der ersten Stunde, zu denen ich nicht gehöre, missfallen), die Richtung, die "Mosquito" vorgibt, also weitaus eindeutiger ist. Doch im Angesicht der Faszination dieser Musik, die wie ungekünstelte, völlig von Rationalität befreite Emotion zu sein scheint, die so wirkt, dass sie eigentlich gar nicht komponiert, d.h. konstruiert werden kann, versinkt jegliche rationale Schwächenkritik im Nichts. Wenn "A Social Grace" mit aus dem Progressive Metal gängigen Stilmitteln operiert und Songs enthält, also durchaus mit den Werken anderer Bands vergleichbar ist, bleibt dieses Album, "Mosquito", ein einziger Song, der musikalisch mit nichts auch heute noch vergleichbar ist. Ein einzigartiges Album, für mich der Zenit in der vier reguläre Studioalben umfassenden Discographie von Psychotic Waltz.
Mit einem Re-Release kommen zumeist ein paar Extras. Hier handelt es sich zum Einen um Linernotes einer gewissen Ula Gehret, die beinahe nur die nötigsten Informationen zu Bandgeschichte und Studioaufenthalt geben und weit hinter den ausführlichen, hochinteressanten Begleittexten ähnlich gearteter Veröffentlichungen, etwa der Neuauflage des Savatage-Backkatalogs, zurückbleiben. Wesentlich spannender ist da schon die DVD zu "A Social Grace": Die Videoclips zu den beiden "Bleeding"-Songs "Faded" und "My Grave" machen keinen übermäßig aufwändigen Eindruck, was sicherlich am Geldmangel seitens der Band gelegen hat, sind aber durchaus sehenswert, wirklich greifen tut einen aber nur der 28-minütige, fünf Songs umfassende Live-Mitschnitt der "A Social Grace"-Record Release-Party aus San Diego/dem Jahre 1991, aber nicht in mentalen, sondern primär körperlichen Zonen, speziell den Lachmuskeln. Bild- und Tonqualität sind wirklich unterirdisch, die Band (Brian McAlpin im Sitzen) kleidet sich ganz unkonventionell in Shorts und farbige T-Shirts, Devon Graves aka Buddy Lackey tänzelt gänzlich unmetallisch wie ein Hippie über die Bühne und der Ton erscheint stets eine halbe Sekunde vor dem dazugehörigen Bild auf der Leinwand. Was ich außerdem nicht unbedingt erwartet habe, sind pogende Fans. Aber man lernt nie aus. Ob diese DVD beweist, dass Psychotic Waltz live nicht annähernd die Macht wie auf CD demonstrieren konnten, was viele "Zeitzeugen" (ich bin leider keiner) nicht so sehen, sei dahingestellt. Ein erheiterndes und/oder unterhaltsames Stück Klang/Anblick-Konglomerat stellt sie jedenfalls dar.
Apropos Anblick: Was die neuen Cover und Booklets für einen Sinn machen sollen, weiß der Deibel. Nichts gegen Travis Smith, der gewohnt surrealistische Abstraktionen gestaltete, aber als Altfan kauft man ein Re-Release sicher nicht wegen eines neuen Covers und als neu Hinzugekommener braucht man auch kein neues Booklet, weil man das alte gar nicht besitzt, abgesehen davon, dass das Original-Cover von "Mosquito" in Verquickung mit der Musik in meinen Augen weitaus mehr Sinn machte als die 2004er, viel zu collagenartige Version. Sei's drum. Wer "A Social Grace" und "Mosquito" noch nicht besitzt, sei besorgt und ändere dies schleunigst, denn ohne diese Alben fehlt ihm ein überaus lebendiges Stück Leben. Das sei aber auch die letzte Phrase dieses Textes.
Kontakt: www.metalblade.de

Tracklist:
A Social Grace:
1. ... And The Devil Cried
2. Halo Of Thornes
3. Another Prophet Song
4. Successor
5. In This Place
6. I Remember
7. Sleeping Dogs
8. I Of The Storm
9. A Psychotic Waltz
10. Only In A Dream
11. Spiral Tower
12. Strange
13. Nothing

Mosquito:
1. Mosquito
2. Lovestone Blind
3. Haze One
4. Shattered Sky
5. Cold
6. All The Voices
7. Dancing In The Ashes
8. Only Time
9. Locked Down
10. Mindsong



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