www.Crossover-agm.de FLUTE HARMONIQUE: Venus, du und dein Kind
von ta

FLUTE HARMONIQUE: Venus, du und dein Kind   (querstand)

Zweitausendundfünf Jahre nach Christi Geburt: Der rîter packt seine Laute aus und singt der angebeteten vrouwe ein Lied. Die Zeit ist stehengeblieben. "Venus, du und dein Kind" ist eine Ansammlung nahezu unbekannter Minnesänge höfischer und völkischer Prägung, die allesamt zwischen 1250 und 1600 komponiert, getextet und aufgezeichnet, 2005 durch das niedersächsische Ensemble Flûte Harmonique wieder aus Handschriftenkerkern/-museen befreit und gemäß ihres ursprünglichen Zweckes, dem Vortrag, verwendet wurden.
2005 ist der Ritter ein Mezzosopran. Maria Jonas verzaubert mit elegischem, weichem Gesang vom ersten Ton an. Ihrer sensiblen vokalischen Interpretation der alten Melodien verdankt das ganze Projekt etwa die Hälfte seines Gelingens. Selbst ein mal gewagt angegangener Ton, d.h. einzelne Glissandi oder noch einzelnere starke Schwingungen in der Stimme ("Es gieng guot tröscher über land") werden in voller Absicht zu anbetender Klage, hochmütiger Selbstdarstellung, inniger Umarmung. "Wie die döne löne schöne", "T'andernaken" oder die erste Interpretation des zum Hinschmelzen gemachten "Ich sachs eins mal" werden alleine von ihrem Gesang geführt und bestimmt - ein Genuss.
2005 wird die Laute in die zweite Reihe gesetzt. In erster Linie ist Flûte Harmonique ein, voilà, Blockflötenensemble. Silke Jacobsen und Simone Nill besorgen die mehrstimmigen Melodien mit dem richtigen Gespür für tänzerische Leichtigkeit ("Es nahet gen der vasennacht") oder besinnlichem Schweifen in der Weite melancholischer Empfindung, die es auch im tiefsten Mittelalter schon gegeben haben soll. Im direkten Vergleich mit den Stücken mit Gesang treten jedoch die rein instrumentalen, die immerhin ein gutes Drittel der CD ausmachen, mit Blick auf Qualität ins hintere Glied; technisch zwar durchaus sauber vorgetragen - lediglich im "Nota" an achter Stelle gibt es ein paar, dafür aber auch recht auffällige Aussetzer -, musikalisch aber aufgrund der doch etwas fernen Prä-Renaissance-Polyphonie nicht ganz so packend. Besonders im mittleren Teil der Kompilation gibt es in dieser Hinsicht einige Längen zu bemängeln, die sich primär der hohen Instrumentallastigkeit und der instrumentierungstechnisch gesehenen Reduktion (nur Flöten) verdanken. Aber das betrifft nun eher die Anordnung der Stücke.
Hinzu kommen ein Portativ (ebenfalls S. Nill) und, jawohl, eine Laute (Axel Wolf), welche zwar mehr (Laute) oder weniger (Portativ) selten auftauchen, aber, zumindest was das Zupfinstrument betrifft, echte Akzente setzen können, etwa im vielfältigen "Tota pulchra es", und - es sei dem Rezensenten ein etwas legerer Tonfall erlaubt - die ganze Chose angenehm auflockern. Denn auch wenn man zwischen einem im Rahmen der vorgegebenen Zeitspanne früher komponierten Stück wie "Ich warne dich" und dem zweihundert Jahre später entstandenen "Elzleyn, lipstis Elzeleyn" bei der direkten Betrachtung auf musiktheoretischer Ebene sicherlich bemerkenswerte Unterschiede feststellen kann, was die Melodieführung betrifft, ist es im Ganzen doch die oberflächliche Ähnlichkeit der Stücke, die für "Venus, du und dein Kind" eine gewisse Anlaufzeit mitzubringen rät. Nach Vermutung des Rezensenten liegt das - was jetzt in keinem Falle als Wertung verstanden werden darf, sondern lediglich intersubjektive Hörergewohnheiten widerspiegelt - an 400, 500, 600 Jahren musikgeschichtlicher Entwicklung (die ja auch dafür sorgen, dass alles, was vor Bach kam, in der musikbegeisterten Öffentlichkeit - zu Unrecht, wie nicht zuletzt die vorliegende CD bezeugt - relativ unpopulär ist).
Die sämtlich abgedruckten Texte erfordern nur partiell die sprachliche Umstellung auf ein schwierigeres Mittelhochdeutsch, sind also im Allgemeinen leicht verständlich transkribiert und umfassen die ganze Bandbreite von Sehnsucht, Anklage, Beweihräucherung, Loblied und kessem Bauerngespaße ("Greyner zanner eifrer"), wobei gerade die eindringliche Metaphorik mancher Stücke in ihrer Einfachheit betörend wirkt, so im Falle "Elslein, liebstes Elselein". Die Marienminne beschränkt sich auf ein Stück, "Tota pulchra es".
Für die Genießer: "Venus, du und dein Kind" ist ein äußerst hörenswertes, besinnliches Stück Musik, lebendig interpretiert und hat ebenso künstlerischen wie musikhistorischen Wert (wobei zweiterer sich freilich nicht auf so etwas wie "Originaltreue" oder "Authentizität" - woran sollte man diese auch erkennen? - stützt).
Und für die Ökonomen: Mit fast einer Stunde Spielzeit, einem robusten Digipack und fünfunddreißig Seiten Booklet wird auch auf materieller Ebene einiges geboten.
Kontakt: www.vkjk.de

Tracklist:
1. Jacob Regnart (um 1540-1599)
  Venus, du und dein Kind
2. Glogauer Liederbuch (vor 1480)
  Ich sachs eins mal
3. Jacobus Barbireau (um 1420-1491)
  Een vroylic wesen
4. Jacob Obrecht (um 1450-1505)
  Ein fröhlich wesen
5. Johannes Herr (?) (um 1489-1533)
  Alia compositio super "Ein fröhlich wesen"
6. Anonymus (spätes 13. Jh.)
  Nota
7. Oswald von Wolkenstein (ca. 1377-1445)
  Ain tunckle farb
8. Anonymus (spätes 13. Jh.)
  Nota
9. O. v. Wolkenstein
  Es nahet gen der vasennacht
10. Anonymus (spätes 13. Jh.)
  Nota
11. Glogauer Liederbuch
  Czenner, greyner, wy gefelt dir das?
12. Paul Hofhaimer (1459-1537)
  Greyner zanner eifrer
13. Liederbuch des Johannes Herr
  Es gieng guot tröscher über land
14. Liederbuch des J. Herr
  Jezund fart har die zit
15. Wizlâv III. von Rügen (1265/8-1325)
  Ich warne dich
16. Zilies von Seyne (um 1300)
  So wol dem hove
17. Heinrich von Meißen (ca. 1250/60-1318)
  Wie die döne löne schöne
18. Heinrich Isaac (um 1450-1517)
  Tota pulchra es
19. Anonymus
  T'andernaken
Antoine Brumel (um 1460-um 1520)
  Tandernac
20. Glogauer Liederbuch
  Elzeyn, lipstis Elzeleyn
21. Ludwig Senfl
  Ach Elselein, liebes Elselein mein (Strophe 2)
Hans Newsidler (1508-1563)
  Ach Elslein, liebes Elselein mein
L. Senfl
  Ach Elselein, liebes Elselein mein (Strophe 3)
22. Orlando di Lasso (1532-1594)
  Fantasia Undicesima
23. H. Isaac
  Isbruck, ich muss dich lassen



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