www.Crossover-agm.de EX.CES: Zahn um Zahn
von ta

EX.CES: Zahn um Zahn   (Raumer Records)

Exzess!
Zahn um Zahn!
Sollte in nächster Zeit eine Demonstration gegen Ausbeutung, Kapitalismus oder Reformdruck anstehen, stehen hiermit bereits zwei gleichsam aufmüpfige wie niederschmetternde Parolen. Jens-Paul Wollenberg, Hirn und Stimme dieser völlig neben der Spur musizierenden Truppe, stände in der ersten Reihe und skandierte: "Die sitzen weiter fest in ihren Chef-Etagen/ Und sichern sich die dicken fetten Gagen" oder wahlweise auch "Man stopfe diesen Wohlstandsfressen/ Den eig'nen Wohlstandsmüll hinein/ Und erst wenn sie dann rückwärts essen/ Bitte ich sie, mir zu verzeihn".
Exzess!
Zahn um Zahn!
Das Quintett mit Proberaum in Leipzig hat indes musikalisch mit Punkrock überhaupt nichts zu tun (und auch textlich weniger als sich anhand der zitierten Stellen vermuten lässt). Ex.ces vereinen in ihren Kompositionen gleichsam eine unbekannte Anzahl an Pfunden Großhirnrinde mit einer guten Portion Bauch, das Ergebnis spricht folgerichtig sowohl den Kopf als auch den Hintern an, lässt sich trefflich Chanson, Tango, Rock, Jazz, Hillybilly, kurz: Crossover Chanson (Bandlabel selbst), gewitzt, vertrackt und krank schimpfen, und stellt - all dies zusammengenommen - den vorerstigen Höhepunkt im Metier des progressiven Musikuntergrunds deutschsprachiger Gefilde seit einer Ewigkeit dar. Ganz in echt und ungelogen.
Jens-Paul Wollenberg, mindestens Jahrgang 1960, hat den Blues mit der Muttermilch aufgesogen. In frühester Jugend kam der Whiskey dazu, die Zigarillos waren nur noch Ehrensache. 2005 singt, spricht, brüllt der Mann mit verrauchter, rauher, tiefer Stimme, gespenstischem, herablassendem, hysterischem, klapsmühligem Ton über die permanent begegnenden Dinge des Alltags (Schnitter Tod, Strangulierte, Prostituierte, Rattenfamilien, sich selbst usf.) und egal, was seine Lippen verlässt: Es klingt gar natürlich und so selbstverständlich wie man Brötchen einkauft. Was bei Versmonstren wie "Schon werd ich alt/ Und spür' der kranken Bäume Qual/ Doch nun mehr in dem weißen Schein/ Wie sehn ich mich nach deinem krausen Haar/ Und tierischem Design" einem echten Kunstgriff gleichkommt. Wollenberg ist in einer dunklen Ballade wie "Rendevouz in Einzelhaft" die Verkörperung der vielbeschworenen Grenze von Genie und Wahnsinn (zugegeben, mit Tendenz zu Zweiterem), beschwört, klagt, lässt alle Sicherungen durchknallen - ein Hörgenuß sondersgleichen, Wolf und Großmutter in einem.
Aber Ex.ces ist nicht Wollenberg. Vier Musiker, die sich Wolf, Glucharen, Meyer und Fleischfresser nennen (vermutlich sogar so heißen), singen mit, spielen abwechselnd Schlagzeug, Perkussion, Klavier, Trompete, Ventilposaune, Keyboard, E-Gitarre, Tuba, Bassgitarre und Akkordeon - das ganze im Angesicht der relativen Fülle noch einmal zum Mitdenken und grob nach Art und Weise des Spiels geordnet:
Trompete
Posaune
Tuba
Schlagzeug
Perkussion
Klavier
Keyboard
Akkordeon
E-Gitarre
Bassgitarre -
und sorgen dafür, dass "Zahn um Zahn" auch für den interessant wird, der das Booklet immer zum Fischeinwickeln benutzt und einen Kehlkopf ab 30% Teerdecke überhaupt nicht als etwas wahrnimmt, das Geräusche zum Hinlauschen hervorbringen kann. Daniel Wolf und Mike Meyer sind zuallererst für den Groove (dr, bass, tub) zuständig. Der fällt leichtfüßig und verspielt (Titeltrack, mit legendärem Refrain) oder flott-Humppa-gerichtet aus ("Die alten Bäume", "Ich hab' mich in dein rotes Haar verliebt"). Wenn sich im morbiden "Der Schnitter" auf das melancholische Bassthema von Meyer Wollenbergs dreckiger Gesang - der Schnitter höchstselbst hält das Mikrophon - legt, ist die Gänsehaut unausweichlich und mit dem schleichenden Akkordeoneinsatz langt sie ob der sorgfältig gewählten Klangspektren (man höre auch auf das tiefe Gepauke) bis in die Fingerspitzen. Für jenen Einsatz ist Birgit Fleischfresser, Chefredakteuse bei "Tier und Mensch" (dummer Spaß), zuständig. Die Frau besorgt dir den Tango (welcher hier eigentlich fast gar nicht zu hören ist, aber das Klischee besagt es eben so), zaubert Harmonieflächen und mitreißende Melodien, ebenso Michael Glucharen, Trompeter und Posaunist, einer der drei Klavierspieler, Hendrix-Lookalike. Das Ergebnis verweigert sich der Kategorisierung allzu oft, darum an dieser Stelle nur ein paar bröckelweise Annäherungen:
"Exzess am Galgenmast" bietet Gespenstermusik, gleichzeitig düster und bissig. Über die eingängige Leitharmonik kündet Wollenberg - wie auch an verschiedenen anderen Stellen in sehr freien Nachdichtungen von Francois Villon-Ergüssen - im Sprechgesang von den letzten Stunden der Gehängten. Die poppigen "aaaahh"-Chöre im Background sind als pure Ironie zu werten und der verhunzte Barmusik-Teil in der Mitte ist völlig obskur, wird allerdings von sakraler Orgel und an Bach entlehntem Säuselklavier im Ausklang um zwei Obskuritätenpunkte mehr auf der Skala von eins bis drei überboten. Herrlich.
"Als angebrochen war die Zeit" hat demhingegen etwas beinahe Mantra-haftes. Ganze zwei minimalistische Themen wechseln sich minutenlang ab, während Wollenberg in seiner Interpretation eines ursprünglich französischen, nun eingedeutschten Marschtextes für Verstörung sorgt. Seine natürliche Erzählstimme steht in gänzlichem Kontrast zu den künstlichen Erzählpausen im Versrhythmus und spätestens als sich dem Rezensenten erstmals beim parallelen Blick ins Booklet ein bestimmtes Detail (Geheimniskram, Geheimniskram ...) offenbarte, war eine, ach, semantische Schwebe am Geschehen, die einer kongenialen Text-Musik-Kombination entspringt. Überhaupt verstecken sich im Beieinander von Wort und Ton einige mindestens äußerst gewitzte Einfälle, die nicht zuletzt die Ironie der Band aufzeigen. Wenn etwa zu Kerzenschein-Klavierklängen auf einfühlsame Weise "Zentral beheizt erfrier' ich ziemlich heiß" auf "(...) bis zum Halse steht mir schon der Scheiß" oder "was nächtens gilt" auf "habe ich gekillt" gereimt wird ("Dejávillonmultiple"), ist ein Konglomerat an musikalisch-poetischer Brillianz erreicht, das dem Rezensenten das eine ums andere Mal ein Grinsen so breit wie Otfried Fischers Taille ins Gesicht meißelt. Bitterböse Haßtriaden wie "Bastard" oder "Mein neues Testament" gewinnen durch ihre musikalische Umsetzung an Boshaftigkeit (erstere) oder werden ironisch gebrochen (zweitgenannte). Aber "Zahn um Zahn" ist nicht einfach Spaßmusik. Der Spaß hockt erst unter der Oberfläche, durch die es vorher zu dringen gilt. Vordergründig - hintergründig allerdings auch - sind Ex.ces bissig, düster, morbide und: schön. Und in fixen Momenten auch: tanzbar. Das volle Programm. Hier gibt es mehr zu entdecken als im Disney Land und alles, was entdeckt wird, wird an anderer Stelle oder beim näheren Blick wieder hingeworfen, ein Prinzip, das sich bis in die Dankeslisten zieht.
Dieses Album ist ein Gesamtkunstwerk im ursprünglichen Sinne, ein kleines Geniestück und beste Unterhaltung dazu. Musikliebhaber jeder (ernstzunehmenden) Sparte sollten schnellstens 12 Euronen aus der Tasche zaubern und unter www.ex-ces.de oder www.raumer-records.de nachhaken. Und jetzt alle im Chor:
Exzess!
Zahn um Zahn!

Tracklist:
1. Der Schnitter
2. Zahn um Zahn
3. Die alten Bäume
4. Exzess am Galgenmast
5. Der Kreuzschatten
6. Bastard
7. Rendevouz in Einzelhaft
8. Ich hab' mich in dein rotes Haar verliebt
9. Als angebrochen war die Zeit
10. Mein neues Testament
11. DejaVillonMultiple



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver