www.Crossover-agm.de DESPAIR: Decay Of Humanity
von rls

DESPAIR: Decay Of Humanity   (Punishment 18 Records)

In der zweiten Hälfte der Achtziger begannen diverse große Thrashbands, ihre bisher hauptsächlich auf hohe Spielgeschwindigkeit und maximale Energieentfaltung ausgerichtete Musizierweise zu modifizieren und ihren Kompositionen eine größere Vielschichtigkeit zu verleihen. Das führte bisweilen zu hochinteressanten komplexen Kompositionen, bisweilen aber auch zu überwiegend langweiligem Riffgeschiebe, und paradoxerweise waren es Metallica, die gleich für beide Varianten die Prototypen ablieferten ("Master Of Puppets" und "...And Justice For All"). Gleichzeitig gründeten sich aber auch junge Thrashbands, die von vornherein eine komplexere, mit zahlreichen Tempo- und Dynamikwechseln, Breaks und Akustikpassagen gespickte Spielart dieses metallischen Subgenres präferierten und späterhin mit dem aus musikgeschichtlicher Rückblickssicht etwas unglücklichen Begriff Techno Thrash belegt wurden, da damals noch niemand auf dem Schirm hatte, daß ein den Stilistika dieser Bands überwiegend diametral erntgegengesetzt arbeitendes Genre unter dem Begriff Techno in die musikalischen Annalen eingehen sollte. Zu diesen Techno-Thrash-Bands zählten auch die Dortmunder Despair um die beiden polnischstämmigen Gitarristen Waldemar Sorychta und Marek Grzeszek, die anno 1989 ihr Debütalbum "History Of Hate" vorlegten. Robert Kampf, der dieses eingesungen hatte, wechselte kurze Zeit danach die Funktion und widmete sich vollzeit dem von ihm gegründeten Century-Media-Label, das bekanntermaßen noch heute existiert und eine wichtige Rolle im internationalen Metal-Geschäft spielt. Seinen Platz am Despair-Mikrofon nahm Andreas Henschel ein, mit dem die beiden Folgealben "Decay Of Humanity" und "Beyond All Reason" entstanden. Wie viele andere, eigentlich so gut wie alle Techno-Thrash-Bands hatten Despair aber mit dem Problem zu kämpfen, daß sie Nischenmusik spielten und trotz teils exzellenter Alben praktisch nie auf einen grünen Zweig kamen (die Liste der in gleicher Weise Leidtragenden ist endlos - ein paar Namen sollen genügen: Anacrusis, Toxik, Dyoxen, Sacrosanct, Poltergeist ...). Auch der heutige Rezensent wurde damals erst intensiver auf sie aufmerksam, als es die Band schon nicht mehr gab, und über die Jahre hinweg wanderten zumindest noch "Decay Of Humanity" (als LP) und "Beyond All Reason" (als CD) in die hiesige Tonträgerkollektion, während "History Of Hate" bis heute nicht den Weg hierher gefunden hat. Von dem Quintett, das die beiden letzten Despair-Alben einspielte, blieben zumindest zwei Musiker im Rampenlicht der Metalszene: Markus Freiwald als heutiger Drummer von Sodom und der bereits erwähnte Gitarrist Waldemar Sorychta, der sich ab den Frühneunzigern als Haus-und-Hofproduzent von Century Media einen Namen machte. Sein Gitarrenkompagnon Grzeszek hingegen wurde zur tragischen Figur: Er beging 2013 Suizid.
Der ein Vierteljahrhundert nach der Erstveröffentlichung nun vorliegende Re-Release von "Decay Of Humanity" bietet eine prima Gelegenheit, diese völlig verkannten Könner mal wieder ein wenig zu beleuchten. Er enthält die gleichen acht Songs wie das Original - wer dieses schon besitzt, muß also nicht ein zweites Mal zugreifen, sondern kann sich damit begnügen, es mal wieder aus der Sammlung zu holen, zu entstauben und in den Player zu werfen. Man entdeckt dabei exzellente instrumentelle Leistungen, die aber stets in den Dienst einer nachvollziehbaren Songidee gestellt werden, zumeist gekrönt von etwas, was große Teile der technischen Metalbands von heute entweder nicht mehr schreiben wollen oder nicht schreiben können: einem merkfähigen Refrain. Den vom Titeltrack etwa hatte der Rezensent immer noch im Kopf, obwohl er die LP seit mindestens anderthalb Jahrzehnten nicht mehr aufgelegt hat (so lange ist nämlich die Nadel seines Plattenspielers schon defekt, und irgendwie ist's reparaturtechnisch bisher immer beim Wollen geblieben, zumal ja da auch noch der wachsende CD-Bestand ist, der gleichfalls gehört werden will ...), und auch so manche andere Passage konnte aus dem hinteren Gehirnskastel wieder nach vorn geholt werden. Einzelne Songs hervorzuheben fällt zumindest bei den jeweils ersten drei jeder originalen LP-Hälfte schwer, denn strukturell aus dem Rahmen fallen nur die jeweiligen vierten und ansatzweise noch der erste der B-Seite. "Victim Of Vanity", A-Seiten-Closer, schlägt nach seinem sanften langen Intro, das eine Ballade in den Bereich des Möglichen rückt, doch noch in einen schnellen Brecher um, summiert wohl sogar der schnellste Track des ganzen Albums und für den vom klassischen Thrash her kommenden Hörer vermutlich der geeignetste Anspielsong - wer schon mit diesem nicht zurechtkommt, wird am Rest des Albums auch keine Freude haben. Aber es gibt genug Gründe, diesen Song zu mögen, und die phantastische Gitarrenarbeit zählt auf alle Fälle dazu: Wie Sorychta und Grzeszek hier Doppelleads spielen und der eine eine epische Melodie in langen Notenwerten spielt, während der andere flitzefingerige Girlanden drumhängt, das gehört in die Schublade "Vom Allerfeinsten". Wer übrigens traurig ist, daß "Victim Of Vanity" keine Ballade geworden ist, der darf im B-Seiten-Opener "A Distant Territory" noch länger auf eine solche hoffen, denn hier erstreckt sich der ruhige Teil weit bis in die eigentliche Hauptideenstruktur hinein, aber auch hier geht's dann wieder hartmetallisch, wenngleich wie in allen anderen Momenten des 38minütigen Albums auch höchst filigran weiter. Was mancher Hörer vielleicht als nicht so filigran empfinden könnte, ist Andreas Henschels Gesang. Zwar setzt der Mann gleich drei grundverschiedene Stile ein, nämlich herbes Shouting, eine sehr hohe Klarstimme und eine mittelhohe, leicht klagend anmutende Klarstimmenvariante, wobei letztere bisweilen (z.B. im erwähnten Eingangsteil von "A Distant Territory") ein wenig an Collin Kock erinnert, der das dritte, völlig unterschätzte, aber brillante Sacrosanct-Album "Tragic Intense" (das freilich mit Thrash so gut wie nichts mehr zu tun hatte) einsang. Zum hörtechnischen Problemfall könnte aber das Shouting werden, das hier und da noch etwas gezwungen wirkt - auf "Beyond All Reason" hatte Henschel dann etwas mehr Sicherheit gewonnen, während er auf "Decay Of Humanity" unter den instrumentalen Könnern noch die niedrigste Faßdaube ist. Mit dem abschließenden Instrumental "Satanic Verses" geben Despair dann noch einen Kommentar zur damaligen Kulturkampf-Lage ab - die Kontroverse um Salman Rushdies gleichnamiges Werk und die daraufhin ausgesprochene Fatwa war seinerzeit brandaktuell und ist es heutzutage auf paradoxe Art wieder. Daß das besagte Instrumental relativ kurz ausgefallen ist und fast wie unvollendet wirkt, könnte diesbezüglich sogar Aussageabsicht sein - wer sich die Lyrics durchliest, kommt sowieso zu dem Schluß, daß Despair zur problembewußten und engagierten Fraktion im Metal zählten, wie das für das Gros der anderen Techno-Thrash-Bands auch zutraf. Und wer nach "Radiated" mit seinem doublebassunterlegten speedigen Mittelteil, der aber mit Akustikgitarren (!) ausstaffiert ist, immer noch nicht überzeugt ist, es hier mit ideenreichen Könnern zu tun zu haben, dem dürfte sowieso nicht mehr zu helfen sein - aber ihm entgeht ein sehr starkes Album, das sich der metallische Gourmet jetzt in die Sammlung holen sollte, sofern es dort nicht schon längst steht.
Kontakt: www.punishment18records.com

Tracklist:
Decay Of Humanity
Cry For Liberty
Delusion
Victim Of Vanity
A Distant Territory
Silent Screaming
Radiated
Satanic Verses
 




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