www.Crossover-agm.de DDT: Greatest Hits
von rls

   (Nowy Mir)

Sich als Rockband in der Sowjetunion in den frühen 1980er Jahren nach einem Insektizid zu benennen, dessen negative Nebenwirkungen zu dieser Zeit gerade durchzusickern begannen, hatte neben dem üblichen Schockeffekt noch einen besonderen subversiven Unterton - immerhin war es erst ein paar Jahrzehnte her, seit sich die sowjetische Agrarwirtschaft vom Lyssenkoismus (einem aus heutiger Sicht kurios anmutenden, zahlreiche biologische Grundregeln außer acht lassenden Versuch) gelöst hatte, und die Erinnerung an Mao Tse-Tungs Kampagne zur Ausrottung der Sperlinge als Getreideschädlinge (die dazu führte, daß Mao einige Jahre später Sperlinge aus der ungeliebten Sowjetunion importieren mußte, weil sich mangels Fraßfeinden zahlreiche Schadinsekten rapide vermehrt hatten) war auch noch relativ frisch. Der Sänger Juri Schewtschuk jedenfalls entschied sich für diesen Namen, als er 1980 in Ufa eine Rockband zusammenstellte, und mit dieser spielte er eine zentrale Rolle in der russischen Rockszene der 80er, wobei auch mannigfache Umbesetzungen der Bandarbeit nicht schadeten. Bis 2006 hatte der optisch an eine Mischung aus Reinhard Mey und Klaus Lage erinnernde, aber überwiegend etwas rauher als diese beiden singende Schewtschuk laut der Diskographie, die auf dem vorliegenden Digipack abgedruckt ist, immerhin 20 Alben herausgebracht, und zwischenzeitlich sind auch nochmal mindestens zwei hinzugekommen, außerdem schon 2005 eine Best Of namens "Gljadi Peschkom". "Greatest Hits" aus dem Jahr 2006, angeblich eine offizielle Veröffentlichung, in deren Impressum sogar eine Lizenznummer abgedruckt ist, nun versammelt auf zwei CDs insgesamt 29 Songs aus der langen Bandgeschichte, allerdings ohne Informationen, auf welchen Originalalben die einzelnen Tracks denn nun standen (von denen abgesehen, die man als Titeltracks bestimmten Alben zuordnen kann) bzw. ob es irgendwelche raren oder gar unveröffentlichten Kaufanreize gibt. Der Besitzer anderer der genannten 20 Alben wird eine zumindest partielle Zuordnung vornehmen und im gleichen Atemzug entscheiden können, ob er sich diesen Digipack (ohne Booklet, aber mit aufgedruckter Bandhistory und der erwähnten Diskographie) zulegt oder nicht. Eine Zuordnung anhand stilistischer Kriterien ist schwierig, da DDT generell als sehr vielfältig galten und vom klassischen Singer-/Songwriter-Gestus bis zu heftigen Metalriffs alles am Start hatten, zusammengehalten jeweils durch die markante Stimme des "Chefs". Auffällig ist allerdings, daß der Compiler die härteren Songs überwiegend an den Anfang der ersten CD gepackt hat und die Dichte an metalkompatiblem Riffing nach hinten heraus deutlich abnimmt. Selbst die eröffnende Radioversion von "W Boi" enthält partiell feiste Gitarrenparts, während das folgende "Swjesda" zwischen ruhigen und harten Parts hin und her pendelt. "Schto Takoje Osjen" stellt mit seiner Singer-/Songwriter-Ausrichtung dann einen Gegenpol da, dem mit der Jazzballade "Doschd" ein weiterer beigegeben wird, bevor der wohl beste Song unter den hier vertretenen 29 erklingt: "Russki Rok" beginnt harmlos mit einem folkloristischen Frauenchor, der sich in einer balladesken Periode fortsetzt, bevor DDT den Rockhammer zu schwingen beginnen und in fast postrockiger Manier eine große Klangwand aufbauen, die nach hinten hin mit geringen Variationen immer stärker verdichtet wird und den Song letztlich auf fast elf Minuten Gesamtlänge bringt. Hier wäre wirklich mal das Entstehungsjahr interessant zu erfahren, denn derartige Postrockwälle wurden im angloeuropäischen Kulturkreis erst im Laufe der 90er langsam salonfähig, und wenn da jetzt plötzlich ein früher Vertreter aus einer ganz anderen geographischen Ecke daherkäme, muß doch das eine oder andere Musikgeschichtsbuch umgeschrieben werden. In noch etwas zurückhaltenderer Ausprägung findet sich dieses Stilmittel auch in "Aktrisa Wjesna". Ansonsten schrecken DDT auch nicht vor Geigen, Hörnern, Flöten oder Saxophonen zurück, nehmen sich generell alles her, was sie für ihre Zwecke zu gebrauchen glauben, und verlassen sich darauf, daß Schewtschuks markante Stimme schon dafür sorgen wird, daß man das Ergebnis als DDT-Komposition identifizieren kann. Und diese Strategie geht auch durchaus auf, wenngleich nicht jeder Hörer die kompletten 150 Minuten gleichermaßen lieben wird. Westliche Vergleichsbands zu nennen fällt aus den genannten Gründen schwer, denn kaum erinnert mal ein Song beispielsweise an U2 (wie "W Poslednjuju Osjen"), schon wechseln DDT zumindest in der hiesigen Zusammenstellung das Genre wieder radikal und legen mit "Milizioner W Rok-Klubje" klassischen flotten Rock'n'Roll aufs Parkett, nur um in "Adam I Ewa" gleich wieder eine von der Harmonik fast grungeverdächtige, aber nicht nur durch die stark präsente Hammondorgel stärker nach Siebzigerrock klingende Halbballade aufzufahren, mit "Dorogi" dann in den Siebziger-Artrock Marke Renaissance zu wechseln, wo Flöte, Geige und Glockenspiel markante Akzente setzen, und mit "Pobjeda" ein düsteres, fast soundtrackartiges Neoklassikstück hinzuzusetzen. "Plastun" wiederum hat etwas von poppigerem Britprog der 80er, "My" wiederum tangiert gotisch-düstere Gefilde, und "Leningrad" erklingt gar a cappella als Mixtur aus Märchenonkel und Vorsänger. Auf der zweiten CD sind übrigens auch noch einige Liveversionen enthalten, allerdings herkunftsseitig nicht näher benannt. So geht es also kreuz und quer durch die populäre Musik der letzten 50 oder 60 Jahre. Wer wissen will, ob die einzelnen Alben in sich stilistisch geschlossener gehalten sind, der fange erwerbsseitig bei ihnen an - zwar sind die meisten der 80er-Veröffentlichungen damals nur undergroundig auf Tape erhältlich gewesen, aber mittlerweile dürfte sicherlich das Komplettwerk auch auf CD zu bekommen sein. Wer allerdings erstmal einen Überblick über die beschriebene Vielfalt gewinnen möchte, für den ist die vorliegende Zusammenstellung sicher gut geeignet. Frage ist nur, wo man sie herbekommt; der Rezensent hat sein Exemplar in Tbilissi erworben.
Kontakt: http://ddt.ru

Tracklist:
CD 1:
W Boi (Radio version)
Swjesda
Schto Takoje Osjen
Doschd
Russki Rok
Ja Polutschil Etu Rol
W Poslednjuju Osjen
Milizioner W Rok-Klubje
Adam I Ewa
Dorogi
Pobjeda
Post-Intelligent
Plastun

CD 2:
Osjennjaja
My
Notsch Ljudmila
Odnorasowaja Schisn
Nje Streljai
Propawschij Bjes Wjesti
Rewoljuzija
Wjeter
Agidjel
Ty Nje Odin
Poet
Maschory
Leningrad
Aktrisa Wjesna
Roschdjennyi W SSSR
 




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