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Henner Kotte: Ein Jahr Buch
von Hendrik Pupat anno 2001
Geschichten wie Ohrwürmer
Henner Kottes "Ein
Jahr Buch" fesselt, überrascht und verstört
Heute schon auf die Straße
gegangen? Dann wird Ihnen möglicherweise auch ER aufgefallen sein.
Ein Mann in schwarzrotem Anorak, den Kragen hoch geklappt, darunter ein
grüner Schal. ER schaute den Weihnachtsmännern tief in die Augen.
ER schien etwas zu wittern. ER trug ein scharfes Messer in der Tasche.
ER streunt seit Jahren schon über den Weihnachtsmarkt. Hofft auf Erlösung
durch blutige Rache, seit sich ein Widerling in Rot an ihm vergangen
hat. Hat ER Chancen, den richtigen Weihnachtsmann zu erwischen? „Ich weiß,
dass er den Trubel streift. Der Mann. Sei mein Wissen auch Illusion nur.“
In Henner Kottes Kurzkrimi
„Das Tier“ mutiert der Ich-Erzähler, ein traumatisiertes Opfer, zum
Täter. Erregt erst Mitleid, dann Furcht. Die geschichte ergreift,
fesllet und schwingt so unheilschwanger aus, dass sie im Geist des Lesers
nachklingt wie ein Ohrwurm.
„Das Tier" ist eine von
zwölf "Mordsgeschichten", die der 97er MDR-Literaturpreisträger
in seinem "Ein Jahr Buch" namens "Natürlich tot!" versammelt hat.
Für jeden Monat eine, falls der Leser sich wirklich so viel Zeit nehmen
will. Bequem bewältigt sind die 252 Seiten freilich auch in drei Tagen.
Das perfekte Verbrechen und dessen Aufklärung, Unrecht und Gerechtigkeit
spielen bei Kotte kaum eine Rolle. Der 37-jährige Wahlleipziger
konzentriert sich auf seine Figuren. In inneren Monologen führt er
in ihre Psyche ein. Streut Jugenderinnerungen. Zeigt, wie jemand wurde,
was er ist und warum er tut, was er tut. Wertungsfrei.
Bloßgelegt werden
die Gedankenwelten des biederen Angestelltern, der zur Krönung eines
missglückten Tages einen Obdachlosen erschlägt, des Greises,
den (vermutlich) Wahnvorstellungen dazu verleiten, seine junge Nachbarin
zu attackieren, der Naiven, die sich in den Irren auf der anderen Seite
des Hofes verliebt, der einsamen Mutter, deren Tochter das Glück einer
neuen Liebe zerstört.
Die verstörenden, blutigen,
makabren, überraschenden, mit Klischees spielenden, stets Raum für
Fantasie lassenden Krimis (oder Psychogramme?) bewegen sich irgendwo zwischen
Edgar Allan Poe und Nick Caves „Murder Ballads“.
Kottes Sprache ist so schroff
und kantig wie sein Personal. Unpraktisch nur, dass Sie, lieber Leser,
erst in der Novembergeschichte erfahren werden, warum die Milch im Lebensmittelladen
an der Ecke Rattengift enthält.
Henner Kotte: Natürlich tot! Ein Jahr Buch. Fünf Finger Ferlag, Leipzig 2000. 252 Seiten, 20 Mark
Diesen Artikel entnahmen
wir mit freundlicher Genehmigung der Leipziger Volkszeitung (Januar 2001)
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