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Frank Willmann (Hrsg.): Leck mich am Leben - Punk im Osten
von san anno 2016

Frank Willmann (Hrsg.): Leck mich am Leben - Punk im Osten

Wenn man dieses Buch in die Hand nimmt, ist man sich der wahren Bedeutung des Titels anfangs bei weitem nicht bewusst. In der Erwartungshaltung von Punk-Klischees, die man aus westdeutschen Veröffentlichungen kennt, liest man zuerst etwas oberflächlicher über die teilweise amüsanten Geschichten, Gedichte und Berichte der 32 zeitgenössischen Autoren, wie sie sich auf ihre Art gegen die gesellschaftlichen Zwänge auflehnten. Wenn man sich aber klar macht, um welche Gesellschaft, nämlich das Leben in der DDR und die damit verbundenen Repressionen gegenüber der Andersartigkeit, es sich handelt, bekommt der Titel eine gänsehauterregende Wahrhaftigkeit, so zum Beispiel beim Lesen des Beitrages von Dirk Moldt mit "Greatnix, Sue - Erinnerung an Katharina Gajdukowa".
Henryk Gericke, einer der Autoren, beschreibt auf der weiterführenden Webseite toomuchfuture.de, was Punk in der DDR wirklich war: "... keine Reaktion von sozialen oder künstlerischen Randexistenzen auf eine satte Konsumgesellschaft. Es war die Reaktion auf eine Mangelgesellschaft, welche nicht nur materiell, sondern auch mit elementarsten Freiheiten unterversorgt war."
Ende der 1970er Jahre tauchten die ersten Punks in der DDR auf, die sich bis 1982 zu einer überschaubaren Szene unter Gründung erster Punkbands vornehmlich in Berlin und Leipzig zusammenfanden. Später erstreckte sich das Netzwerk der Punkszene über die ganze DDR bis nach Warschau und Budapest. So auch zu lesen im persönlichen Erlebnisbericht "Der letzte Pogo in Warschau" von Mitautor Guillaume Paoli.
So kreativ wie die Szene beim Organisieren von Bandaufnahmen auf Kassetten, Konzerten, Styling, Lesungen und der Veröffentlichungen von sogenannten Samisdaten sein musste, so "brutal-kreativ" war ab 1983/84 das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) unter Führung von Erich Mielke mit seiner Aufforderung mit aller "Härte gegen Punks" vorzugehen und die nicht in die sozialistische Welt der vergreisten Märchenonkel passende Jugendrevolution zu zerschlagen. Zwar konnten die Punks zusammen mit z.B. anderen subkulturellen Künstlern, Avantgardisten und später auch Skins unter dem Schutzmantel der Evangelischen Kirche Veranstaltungen abhalten, aber das hinderte das MfS nicht daran, die Straßen von "negativem Unrat" zu befreien. In diesem System, beschreibt Gericke, "war man am Ende sicher vor sich selbst". Das bedeutete Zwangseinweisungen in Jugendwerkhöfe, wie im Fall von Katharina Gajdukowa, die tatsächlich Kindererziehungsanstalten waren, Gefängnisaufenthalte wie beispielsweise bei Bandmitgliedern von Namenlos, Zwangsrekrutierungen in die Armee oder sonstige Disziplinierungen seitens der Staatssicherheit. Auch wurden inoffizielle Mitarbeiter (IMs) in die Punkbewegung eingeschleust - als solche entpuppten sich später gar Mitglieder von Punkbands. In dem Bewusstsein dieser Gefahren und dem dahingehend im Buch Geschilderten verinnerlicht sich der Titel zunehmend.
Das Buch gibt Anlass, sich mit weiteren Veröffentlichungen der Autoren, wie z.B. "Wir wollen immer artig sein", herausgegeben von Ronald Galenza und Heinz Havemeister, und mit der Tatsache zu beschäftigen, wie (lebens-)gefährlich Punksein in der DDR tatsächlich war und wie insbesondere die Biografien der Autoren, aber auch der Zeitgenossen allgemein körperlich sowie vor allem seelisch geprägt wurden. Das Beschäftigen mit diesen Geschichten bedingt die Notwendigkeit der gesellschaftlich neuzeitlichen Aufarbeitung der Geschehnisse und Rehabilitierung der Betroffenen, der sich einige Autoren wie Gericke verschrieben haben und anprangern: "Punk und Underground im Osten bleiben einem Expertenwissen vorbehalten und bis heute Subkultur."
"Leck mich am Leben - Punk im Osten" ermahnt Mitglieder heutiger Subkulturen in freien westlichen Kulturen in ihrem Bewusstsein, wie wertvoll unsere Freiheit und die Möglichkeit zur Selbstbestimmtheit sind.

Frank Willmann (Hrsg.): Leck mich am Leben - Punk im Osten. Berlin: Verlag neues Leben 2012. ISBN 978-3-355-01807-4. 272 Seiten. 19,95 Euro. http://www.eulenspiegel.com/verlage/neues-leben/titel/leck-mich-am-leben.html, http://www.toomuchfuture.de/
 






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