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Frank Westerman: Ararat. Pilgerreise eines Ungläubigen
von rls anno 2010

Frank Westerman: Ararat. Pilgerreise eines Ungläubigen

In allen gängigen Sintflutmythen kommt ein Berg vor, an dem das Schiff der Überlebenden landete, und da fällt einem natürlich als erstes der Ararat ein, an dem Noah samt seiner Arche gestrandet sein soll und den Kreationisten das unlösbare Rätsel aufgab, warum bei der Wiederbesiedlung der Erde die nordamerikanischen Ureinwohner zwar Klapperschlangen mitnahmen, aber die weit nützlicheren Pferde vergaßen. Nun ist die Identifizierung des Berges Ararat mit der Strandungsstelle schon aus linguistischen Gründen zweifelhaft - näher am Original liegende Bibeltexte sprechen nämlich von etwas, was man mit "Land Ararat" übersetzen könnte, und dabei handelt es sich nun wieder um das ehemalige Reich Urartu, die Heimat der Urartäer, eine der frühesten Kulturnationen im Nahen Osten. Soll heißen: Die Arche Noah könnte man, wenn man sie suchen will, auf einem riesigen Gebiet der heutigen Türkei und der auf dem asiatischen Kontinent angrenzenden Staaten suchen (und mancher Sucher definiert sich ja auch über das Suchen, nicht über den erhofften Fund). Immerhin hat der Rezensent im August 2010 in Georgien unter den Nordwänden des Chaukhi-Massivs eine alte Gletschermoräne gefunden, die in der Form einem kieloben schwimmenden Schiff glich und damit einer Deutung als Arche Noah mindestens genauso nahe kommt wie die komische Struktur, die man östlich von Dogubayazit in der Nähe der türkisch-iranischen Grenze heute als die Reste der Arche zu präsentieren pflegt, ohne aber jemanden in die Nähe zu lassen.
Es kommt also immer auf den Maßstab und die Herangehensweise an. Eine sehr interessante wählte dabei der niederländische Journalist Frank Westerman, den eine sonderbare Verkettung von Umständen an den Ararat führte. Zum einen sah er den Berg von Armenien aus, als er dienstlich dort war, und forschte dem dortigen Mythos des unerreichbaren Sehnsuchtspunktes nach - seit dem Ersten Weltkrieg und dem damit verbundenen Armeniergenozid liegt der Berg nicht mehr auf armenisch erreichbarem Territorium. Zum zweiten stellte er an sich selbst eine seltsame Affinität zu Erscheinungen fest, die irgendwie an den Sintflutmythos erinnerten (sei es im Rahmen einer Wattwanderung oder bei einem Unfall als Kind im Alpenurlaub, als er vom plötzlich anschwellenden Fluß Ill mitgerissen zu werden drohte), und begann daraufhin, sich genauer mit den Sintflutmythen in den verschiedenen Religionen zu befassen. Die Verknüpfung dieser beiden Elemente lag nahe, bedurfte aber noch eines dritten Elementes: Westerman war in klassischer Manier des niederländischen Calvinismus erzogen worden, u.a. auf einer christlichen Schule, hatte sich aber von dieser Tradition mit dem Erwachsenwerden radikal abgewandt und bemerkte nun immer wieder neuerliche religiöse Impulse aus seinem Umfeld, die er rational zu erklären und in ein großes Ganzes zu stellen versuchte. Aus diesen drei Elementen speiste sich schließlich das Verlangen, den Ararat zu besteigen und dort vielleicht die eine oder andere zusätzliche Antwort zu finden. Im September 2005 reiste der Autor also in die Türkei und machte sich auf in deren Ostzipfel. Was dort dann passierte, soll im Rahmen dieser Rezension nicht verraten werden - schließlich soll der Leser auch noch etwas zu entdecken haben. Nur soviel: Man rechnet während des Lesens mit zahlreichen möglichen Finalszenerien, aber nicht mit diesem ...
Westermans Bericht ist im Stil der klassischen Strategie "Der Weg ist das Ziel" aufgebaut - soll heißen: Man erfährt viel über das Wie und auch das Warum, wenngleich der Ararat hier nicht unbedingt nur Mittel zum Zweck ist. Bis sich der Autor überhaupt in Richtung Türkei begibt, ist das halbe Buch schon längst vorbei, man hat viel um den riesigen Problemkomplex der Sintflutmythen erfahren, aber auch über die Ersteigungsgeschichte oder ganz andere Probleme, etwa den Vulkanologenstreit über die Hintergründe der Vernichtung des Dorfes Arguri an der Nordostflanke des Ararat anno 1840. Der ist gar nicht so unwichtig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn sein immer noch ungeklärter Ausgang ist wichtig für die Aussage, ob in absehbarer Zeit (will heißen: im 21. oder 22. Jahrhundert) mit einem katastrophalen Ausbruch des Berges zu rechnen sein dürfte oder eher nicht. Den Reisebericht in diesen Informationskomplex einzubinden und ihn auch noch von der ersten bis zur letzten Seite spannend zu halten ist eine immens schwierige Aufgabe für jeden Reiseberichterstatter, und dieser Aufgabe entledigen sich Westerman (und die Übersetzer Stefan Häring und Verena Kiefer) in staunenswerter Manier. Einen Mehrwert entwickelt das Buch wie jedes andere gute Reisebuch speziell für den Leser, der die bereiste Region aus eigener Anschauung kennt. Das trifft in diesem Fall auf den Rezensenten zu, der im Juni 2008 selbst am und auf dem Ararat unterwegs war und der sich über manche Bestätigung eigener Erkenntnisse, aber auch über neue Informationen und Sichtweisen sehr gefreut hat. Aber auch unabhängig von einem solchen Hintergrund ist das Buch hochspannend, und man muß nicht mal Bergsteiger sein, um es mit Genuß zu lesen (wer einen alpinistisch gefärbten Besteigungsbericht nach dem Prinzip "Der Gipfel ist das Ziel" erwartet, könnte sogar eher enttäuscht werden). Ein ausführliches Literaturverzeichnis erleichtert zudem die Hineinarbeitung ins Thema auf mehr oder weniger wissenschaftlicher Grundlage, und ein paar mehr oder weniger offensichtliche kleine Fehlerchen trüben den Lesegenuß nicht entscheidend, wenngleich man beim ersten dieser Fälle (S. 14 spricht von der "damaligen Sowjetunion", allerdings im Zeitbezug auf November 1999) schon heftig mit dem Kopf zu schütteln beginnt. Man muß dem Autor auch in keiner seiner Theorien zwingend zustimmen - es zeigt sich vielmehr mal wieder die Richtigkeit des alten Ausspruchs "Die Situation ist total einsichtig - je nachdem, wer sie einem gerade erklärt". Selber denken ist also Trumpf und bei einer derartigen Verquickung von Religion, Wissenschaft und Alpinismus ganz besonders. Der Bildteil enthält einige historische Sintflutdarstellungen und aktuelle Fotos des Ararat, allerdings keines mit dem Konterfei des Autors, so daß unklar bleibt, ob er hinterher auch so ausgesehen hat wie der Rezensent am 16. Juni 2008 (siehe das Foto, das zum Rezensionszeitpunkt auf dessen Personalseite steht), wenngleich es aufgrund der verbalen Schilderung des Aufstiegs zu vermuten ist.

Frank Westerman: Ararat. Pilgerreise eines Ungläubigen. München: Piper/Malik National Geographic 2010. 288 Seiten. ISBN 978-3-492-40380-1. 12,95 Euro
 






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