www.Crossover-agm.de
Jeff Wagner: Mean Deviation. Four Decades of Progressive Heavy Metal
von ta anno 2011

Jeff Wagner: Mean Deviation. Four Decades of Progressive Heavy Metal

"Without deviation from the norm, progress is not possible." (Frank Zappa)

Eine Geschichte des Progressive Metal steht vor einem Grundsatzproblem: Soll es eine Geschichte des Stils Progressive Metal sein und damit auch "not-exactly-progressive Progressive Metal" (S. 205) wie den Euro-Metal von Symphony X, Shadow Gallery oder Evergrey umfassen? Oder soll es eine Geschichte progressiven Metals sein und damit etliche Bands umfassen, die man nun nicht unter dem Stilnamen "Progressive Metal" einordnen würde? Wagner entscheidet sich dankbarerweise für zweiteres. "Mean Deviation" ist deshalb kein Buch über die unzähligen Dream-Theater-Clones oder Power-Metal-Bands, die es wagen, zweimal in einem Song die Taktart zu wechseln (wobei natürlich auch die hier und da auftauchen). Als Orientierung jedes Kapitels dient vielmehr die Frage: Hat die Band zu der Zeit, zu der sie dieses-und-jenes Album veröffentlichte, etwas Neues, Innovatives gemacht? Der traditionelle Progressive Metal a la Queensryche und Dream Theater erfüllte zur Zeit seines Aufkommens dieses Kriterium und taucht deshalb auch in diesem Buch auf (alles andere wäre auch ein Witz). Aber es tauchen eben auch Bands auf, die man nun nicht unbedingt erwartet hätte. Als "smarter, more sophisticated metal" (S. 44) werden bspw. Iron Maiden und Megadeth gewürdigt, zu Voivod gibt es lange Ausführungen und die Opernmetaller Therion erhalten ebenso wie die späten Mayhem im hinteren Teil des Buches eigene Unterkapitel. Überhaupt sind die extremen Metal-Bands (ohne Clean Vocals) in diesem Buch in der Überzahl, was ein Licht darauf wirft, wo heute Progress im Metal noch zu finden ist - und wo nicht.
Wagner ist nicht übermäßig streng, was das o.g. Kriterium betrifft. Natürlich taucht nicht alles in diesem Buch auf, was im Metal mal innovativ war (dann müssten die Anfänge des Death Metal, Black Metal etc. aufgefächert werden, was dann doch etwas zuviel des Guten wäre) und natürlich spart der Autor nicht alles aus, was Prog Metal ist, ohne innovativ zu sein (die Brasilianer von Angra tauchen bspw. mehrfach auf) (die mit ihrer so noch nicht dagewesenen Einbindung brasilianischer Folklore auf "Holy Land" aber zumindest einmal hochgradig innovativ, wenn auch nicht durchgängig genial waren - Anm. rls). Künstler, die nicht ohne Umstände in das gewählte Narrativ zu integrieren waren, werden über das Buch verteilt oft in eigenen Listen kurz abgehandelt, so dass "Mean Deviation" am Ende eine Fülle an Hörtipps bereit hält - selbst ich, der ich mit der Materie einigermaßen vertraut zu sein glaube, habe nach der Lektüre eine lange Liste an Alben erstellt, die ich mir mal anhören sollte.
Natürlich ist die Gewichtung in Detailfragen streitbar. Während man über die Bedeutung von Fates Warning, Watchtower, Cynic oder Celtic Frost schnell einen Konsens erreichen wird, ließe sich ewig darüber streiten, welche der kleineren Bands es verdient hat, wo im Buch und wie lange aufzutauchen. Der eine hätte Spastic Ink aus dem Haupttext raus- und Dödheimsgard aka DHG stattdessen reingenommen. Man vermisst dann doch einige Bands wie Veni Domine oder Mar De Grises, sich gleichzeitig darüber freuend, dass Alchemist und Deathspell Omega ganz am Ende doch noch auftauchen. Und meine Liste an "50 recommended Progressive Metal Albums" sähe völlig anders aus als die des Autors (S. 346f.). Aber diese Detaildifferenzen sind am Ende subjektiv und unvermeidbar, wenn das Buch eine lesbare Länge behalten soll. Prinzipiell sind Auswahl und Vorgehen des Autors 100%ig nachvollziehbar und sinnvoll, akzeptiert man das einmal zugrundegelegte Auswahlkriterium der Grenzüberschreitung.
Wagner geht prinzipiell chronologisch vor, beginnt mit dem dadaistischen Jazz Rock von King Crimson und endet 2009/2010 mit den Melo-Death-Prog-Göttern Opeth. Bei den Ausführungen zu einzelnen Bands wird jedoch die komplette Discographie (bzw. die relevanten Alben) am Stück durchgearbeitet, so dass es von Kapitel zu Kapitel auf dem Zeitstrahl kräftig vor und zurück geht - kein Makel und eine bessere Lösung als eine von einzelnen Bands völlig abgelöste Jahr-für-Jahr-Chronologie. An passenden Stellen gibt es Reflexionen darüber, was progressiven Metal überhaupt ausmache, ob und wie sehr technische Fertigkeiten hierfür eine Rolle spielen würden, ob nicht Kreativität wichtiger sei und dergleichen mehr.
Das Buch ist unterhaltsam geschrieben und aufgebaut. Der Autor hat etliche Musiker eigens interviewt, ihre Aussagen zu ihrer Band, anderen Bands, Prog und Progressivem finden sich bunt verteilt über das gesamte Buch, Bilder und Exkurse lockern das Narrativ weiter auf. Wagners Schreibstil ist anschaulich und sauber, der Autor spürbar vom Sujet begeistert. Wagner findet eine Sprache, die sehr plastisch das beschreibt, was bspw. Psychotic Waltz, Extols "Blueprint"-Album oder die Entwicklungsgeschichte von Arcturus im Kern ausmacht. Sämtliche Bands werden mit viel Respekt behandelt und Verrisse tauchen nicht auf.
Machen wir es kurz: Wer auch nur einen Funken Interesse an der Geschichte progressiven Metals hat, muss dieses Buch haben.

Jeff Wagner: Mean Deviation. Four Decades of Progressive Heavy Metal. New York: Bazillion Points 2010. 364 Seiten. ISBN 978-0-9796163-3-4. Derzeit 17,90 Euro bei Amazon.
 






www.Crossover-agm.de
© by CrossOver