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Katharina Vollmer Mateus: Wenn nur noch der Pfarrer singt - Zum Rezeptionsprozess von Gemeindegesang
von Michael Glier anno 2008

Katharina Vollmer Mateus: Wenn nur noch der Pfarrer singt - Zum Rezeptionsprozess von Gemeindegesang

Die Elemente eines Gottesdienstes werden meist sorgfältig vorbereitet, aber eine direkte Rückmeldung durch die Gemeinde ist selten. In der vorliegenden Untersuchung werden Gemeindeglieder modellhaft zum Gemeindegesang befragt: Wie nehmen sie die Auswahl- und Gestaltungskriterien wahr, welche Faktoren beeinflussen sie besonders? Was ist für sie hilfreich, was weniger? Was wirkt weiter? Aufgrund der Ergebnisse sollen ein bewusster Umgang mit Kirchenliedern als Medium der Glaubensweitergabe begründet und Vorschläge zur praktischen Umsetzung gemacht werden. Über diese gemeindepädagogische Zielsetzung hinaus besteht auch ein kulturwissenschaftliches Interesse: Rezeptionsprozesse von Gebrauchstexten sollen in ihrer dialektischen Spannung zwischen distanziert ästhetischer und identifizierender Wahrnehmung beobachtet werden.
Zu Beginn des Buches stellt die Autorin Katharina Vollmer Mateus die Frage nach dem Sinn eines Gottesdienstes, den zu behandelnden Inhalten, die resultierende Wahrnehmung der Gemeindeglieder aus Auswahl- und Gestaltungskriterien der zu singenden Lieder. Sie möchte herausfinden, welche eigenen Wünsche und Kriterien der Gottesdienstbesucher an die Stücke hat, wie diese auf jeden einzelnen Wirken und was davon mit nach Hause oder in den Alltag genommen wird.
Sie zitiert in diesem Zusammenhang E. Wyss-Jenny: "Im Einstimmen ins gesungene Gebet erfährt sich die/der Glaubende mitgenommen in den Strom der Zeuginnen und wird selbst zum Zeugnis für diejenigen, die noch kommen werden. Weil sich Lieder im Gedächtnis besser festsetzen, weil sie sich immer neu wiederholen lassen (und auch wiederholt werden wollen!), sind sie in besonderer Weise Träger des Glaubensgutes."
Das vorliegende Buch soll nach Aussage von K. Vollmer Mateus klären, wie der Text und die Musik aufeinander wirken. Dies geschieht in vier Interviews mit aktiven Mitgliedern einer französischsprachigen reformierten Gemeinde.
Dabei geht sie auf die Thematik "Gesang" besonders ein, indem sie folgende Fragen auf das Gottesdienstsingen projiziert: Wer singt wann, wo und wen versucht man damit zu erreichen?
Katharina Vollmer Mateus greift hierbei die Gedanken Augustins auf, dass das Singen eine Ausdrucksform des christlichen Glaubens sei - als Notlösung dessen, was der Mensch durch bloße Worte nicht auszudrücken vermag.
Die Autorin zitiert weiter u.a. Luther, Henky, Rössler und Adamek, mit den Aussagen, dass sich das Singen als "jederzeit verfügbares musiktherapeutisches Selbstheilungspotential" entfalten kann. Jedoch nur dann, wenn man es ausübt und übt!
Im Singen von Kirchenliedern sieht K. Vollmer Mateus die Besonderheit, dass sich der Sänger in die geschichtliche Gemeinschaft derer gesellt, die diese Lieder komponiert, gedichtet oder niedergeschrieben haben, die diese schon gesungen haben oder noch singen werden.
Der Gottesdienst bekommt den Nebeneffekt einer gebührenfreien Singstunde mit Erfahrungsaustausch.
Des Weiteren kommt hinzu, dass das Singen und Verstehen der Texte entweder fesseln und neugierig machen oder aber entfremden kann. Aufgrund dieser Tatsache können die Auswahl der zu singenden Lieder im Gottesdienst verändert oder sogar Texte geändert werden.
Für den eigentlichen Rezeptionsprozess wählte K. Vollmer Mateus zwei Osterlieder, mit der Begründung, dass diese "eigentlich jeden Sonntag, bei jeder Gelegenheit gesungen werden müssen" und "in ihnen die Grundlagen des christlichen Glaubens" und die "Frage nach dem Sinn des Lebens" auffindbar sind.
Das erste gewählte Stück heißt "Christ est en vie" - vergleichbar mit dem deutschsprachigen Osterlied "Christ ist erstanden" - und das zweite "A toi la gloire" - eher nur bekannt in den reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz - "Dir, Auferstandner, sei Lobgesang". Es ist anfangs unterlegt mit der Melodie des Adventsliedes "Tochter Zion, freue dich".
"A toi la glorie" wurde gewählt wegen der ermüdend auftretenden Häufigkeit, weil es ganzjährig, einschließlich zu Beerdigungen gesungen wird. "Christ est en vie" scheint im Gegensatz dazu kaum bekannt und wenig gesungen, jedoch von Experten als "bestes Liedgut" bezeichnet.
K. Vollmer Mateus möchte nun vielmehr auf folgende Fragen eingehen: Wie kam es zu dieser Entwicklung? Ist das eine leichter singbar als das andere? Hat das eine einfach mehr Chancen, weil es uns häufiger begegnet? Weil die Pfarrerinnen und Pfarrer es häufiger singen lassen? Weil das eine Lied den Menschen nichts sagt, während das andere allen aus dem Herze springt?
Bevor sie jedoch auf die Fragen eingeht, klärt sie den Ursprung der Lieder und die Reihenfolge, in welcher beide in diversen Gesangbüchern vorkommen. Indem sie auf den Text und inhaltliche Bedeutung eingeht, stellt sie Bezug auf Christus, Gemeinschaft und Verständlichkeit her.
Im nachfolgenden Kapitel werden die interviewte Gemeinde und deren Umfeld vorgestellt. Da die zu singenden Lieder auch gewisse Vorgaben in der reformierten französischsprachigen Gemeinde erfüllen müssen, geht sie auch auf diesen Punkt näher ein.
Als nächstes werden der Fragekatalog und dazugehörige Antwortmöglichkeiten erläutert. Die Antworten sollen dem Befragten helfen, die Frage richtig zu verstehen und anhand des Beispiels sich seine eigene Antwort leichter bilden lassen.
Es werden fünf Personen der Gemeinde befragt, deren Aussagen dargestellt, anschließend miteinander verglichen und ausgewertet.
K. Vollmer Mateus kommt danach zu der Schlussfolgerung, dass der gemeinsame Gesang die Bildung einer toleranten und zugleich anspruchsvollen Gruppenidentität in kurzer Zeit fördern kann. Der Gottesdienst wird dadurch zur Seelsorgegemeinschaft, ohne dass man dafür moralische Appelle bräuchte. Wäre der Gesang also kein Bestandteil des Gottesdienstes mehr, würden eine Menge positiver Faktoren wegfallen. K. Vollmer Mateus' Schlusszitat - bezogen auf Calvin: "Es sind insgesamt drei Dinge, die unser Herr befohlen hat zu halten ... nämlich die Predigt seines Wortes, die öffentlichen und feierlichen Gebete und die Sakramente." Der öffentlichen Gebete aber gibt es zwei: "die einen geschehen als einfaches Wort, die anderen mit Gesang".

Den Lesern des Buches "Wenn nur noch der Pfarrer singt" von Katharina Vollmer Mateus (Pfarrerin in Genf) mit seinen 14 Kapiteln und Anhang empfehle ich gute Französischkenntnisse. Sonst bleiben die meiner Meinung nach interessanten Interviews (immerhin 46 von ca. 200 Seiten) dem geneigten Leser verwehrt und man muss sich mit den Vergleichen und Auswertungen begnügen. Auch beim Auftreten von Fremdwörtern empfehle ich ein Fremdwörterlexikon.
Im Großen und Ganzen eine gelungene Ausleuchtung der Singproblematik in Gottesdiensten mit dem Hinweis, dass Nicht-Singen auch keine Lösung ist und doch immer jemand bereit ist zu singen und andere daraufhin einfach "einsteigen" und somit der Gesang für den Gottesdienstaufbau einfach dazugehört.

Katharina Vollmer Mateus: Wenn nur noch der Pfarrer singt - Zum Rezeptionsprozess von Gemeindegesang. Zürich: Verlag TVZ 2006. 217 Seiten. ISBN: 978-3-290-17385-2. 22 Euro






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