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Erich Valentin (Begründer): Handbuch der Musikinstrumentenkunde
von rls anno 2004

Erich Valentin (Begründer): Handbuch der Musikinstrumentenkunde

Ein Dauerbrenner: Bereits 1954 erschien dieses Buch erstmalig und erfuhr in den Folgejahren bis 1986 etliche aktualisierte Neuauflagen. Seit diesem Jahr hat sich aber viel geändert - und das sowohl inhaltlich wie auch strukturell. Machten die inhaltlichen Novitäten eine komplette Überarbeitung notwendig, so führten die strukturellen Veränderungen zu einem völlig anderen Problem: Wer braucht im Zeitalter des Internets noch ein solches Buch? Die Herausgeber haben also versucht, eine Gratwanderung zu absolvieren und ein zwar musikinteressiertes, aber unspezialisiertes Publikum zu erreichen; da eine zweistellige Anzahl von Autoren mitgewirkt hat und die Herangehensweise vorab offenbar nur grob skizziert wurde, jeder Autor aber etliche Ausgestaltungsfreiheiten besaß, konnte dieses Ziel zumindest teilweise, jedoch nicht ganz vollständig erreicht werden.
Zum Inhalt: Die Instrumente wurden in verschiedene Gruppen aufgeteilt, denen sich jeweils ein expliziter Fachmann (oder eine entsprechende Fachfrau) bezüglich geschichtlicher, bautechnischer, klangerzeugungstheoretischer, wirtschaftlicher, notationstechnischer und noch manch anderer Hinsicht widmet; ein Kapitel fällt aus diesem Schema heraus. Dieses steht gleich am Anfang und thematisiert die Akustik, also die Theorie des Schalls als zwingende Grundlage jedweder Art von Musik. Als allgemeine Einführung gut brauchbar, fällt hier aber auch schon ein erster Problemfall ins Auge, der noch in mehreren anderen Kapiteln wiedergefunden werden kann: Diverse Fachtermini oder auch Abkürzungen werden beim Leser kenntnishaft vorausgesetzt - und hier wird wohl jeder durchschnittliche Leser über andere ihm bisher unbekannte und damit das Textverständnis erschwerende Termini stolpern; ein Glossar wäre durchaus nützlich gewesen, fehlt aber leider. Richtig los geht's dann mit den Streichinstrumenten, und spätestens hier wird eine erfreuliche Ausgewogenheit deutlich, die wenig mit dem verbreiteten Klischee "Die Violine ist die Grundlage des klassischen Musizierens und muß deshalb den größten Raum bekommen" zu tun hat, sondern lexikalische Strenge und eine positive Ausdeutung der wissensvermittelnden Verantwortung verrät. Natürlich ist die Violine vertreten und auch nicht unterrepräsentiert - aber beispielsweise das Clavichord, ein im heutigen Konzertbetrieb eher seltenes Instrument, bekommt fast die gleiche Seitenzahl eingeräumt. Das Kapitel über die Zupfinstrumente belegt das Nichtvorhandensein von Berührungsängsten gegenüber sogenannter U-Musik (auch ein generelles Problem in der sogenannten E-Musik), indem auch die E-Gitarre oder der Chapman-Stick vorgestellt werden (wenngleich unter der unglücklichen Überschrift "Regionale Sonderformen der Gitarre", wo sich auch die Ukulele oder das bolivianische Charango wiederfinden, wo man aber immerhin lernt, daß Doppelhalsgitarren keine Erfindung diverser Rockgitarristen sind, sondern schon im 17. Jahrhundert existierten). Das Kapitel über die Blasinstrumente sammelt Pluspunkte bei mir, indem es auch das von mir gespielte Instrument nicht vergißt (ein nicht eben häufig anzutreffendes, nämlich eine Ventilposaune), das Orgelkapitel ist eines der wenigen, wo ich auch fachlich ein bissel mitreden kann und Alfred Reichling eine gute Leistung bescheinigen darf, wenngleich auch dieses Kapitel wieder ein Problem beinhaltet, das bereits in anderen in ähnlicher Weise vorgekommen ist: Die Funktionsskizzen setzen ein gerüttelt Maß an Fachwissen voraus, sind also auch für den gebildeten Laien nicht nachvollziehbar (für den Fachmann dagegen nichtig - der weiß eh, wie eine Kegellade in der Orgel oder eine Klavierkielmechanik funktioniert), obwohl's im Orgelkapitel wenigstens noch halbwegs erklärt wird (daran scheitert das Kapitel über die Harmonikainstrumente dann völlig - ob es dort notwendig war, zu jeder Erfindung auch noch die Patentnummer aufzuführen, wäre eine weitere zu klärende Frage). Richtig Spaß macht dann wieder das Kapitel über die Schlaginstrumente (komme niemand und behaupte, erst die neuzeitlichen Komponisten hätten hier einen bisweilen ans Skurrile grenzenden Einfallsreichtum an den Tag gelegt - schon Wagner schreibt im "Rheingold" 16 Ambosse vor, Mahler steht ihm in seiner 6. Sinfonie mit u.a. Herdenglocken und einem Hammer in nichts nach). Komplett neu im Kontext des Buches sind schlußendlich die Kapitel über elektroakustische Klangerzeugung (hier ist positiverweise ein kapitelinternes Glossar vertreten) sowie über Instrumente außereuropäischer Kulturen, und besonders das letztgenannte beantwortet die eingangs gestellte Frage, wozu man ein solches Buch im Zeitalter des Internets noch brauche: Eine derart materialreiche und dennoch kompakte Abhandlung über Instrumente aus aller Welt kann man sich im Internet nur in mühevoller tagelanger Arbeit unter Zuhilfenahme massivster Fremdsprachenkenntnisse zusammensuchen. Wer weiß hierzulande beispielsweise, was eine Ketuk ist? (Eine Bambusschlitztrommel aus Nordsumatra.) Oder eine Changgo? (Eine koreanische Sanduhrtrommel, bezogen mit Hundefell.) Oder eine Masinqo? (Eine äthiopische einsaitige Kastenspießlaute.)
Zusammenfassend stellt sich das Handbuch also als ambitioniertes Projekt heraus, dem der teilweise bereits erfolgreich absolvierte Sprung zu den Erfordernissen des Multimediazeitalters mit den Folgeauflagen sicher vollständig gelingen wird. (Man könnte ja mal 'ne CD mit Klangbeispielen hinzufügen.) Inwieweit es der potentielle Interessent für seine ganz persönliche Weiterbildung einsetzen kann, hängt entscheidend von den jeweiligen individuellen Vorkenntnissen ab, da der Grad der Anschaulichkeit (textlich wie abbildungsseitig, wobei man an manchen Stellen statt dreier Abbildungen in Briefmarkengröße mit einer großen sicher besser gefahren wäre) einigen Schwankungen unterworfen ist und das Lektorat hier und da noch etwas glättend bzw. unlesbare Sätze korrigierend hätte eingreifen können. Als einfaches Nachschlagewerk gut brauchbar ist es über weite Strecken jedenfalls, und dank der ausführlichen Literaturlisten zu den meisten Kapiteln ist eine weitere Wissensspezialisierung seitens des Lesers ohne großen Rechercheaufwand möglich.

Erich Valentin (Begründer): Handbuch der Musikinstrumentenkunde. Komplett überarbeitete Neuausgabe. Kassel: Gustav Bosse Verlag 2004. ISBN 3-7649-2003-3. 420 Seiten. 36,95 Euro






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