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Christoph Urban, Timo Rieg (Hrsg.): Das vergessene Jahrzehnt. Kinder-Jugend-Gottesdienst: Warum sich Kirche ändern muss
von tk anno 2004

Christoph Urban, Timo Rieg (Hrsg.): Das vergessene Jahrzehnt. Kinder-Jugend-Gottesdienst: Warum sich Kirche ändern muss

"Jugendliche brauchen Gottesdienst." Mit diesem Appell richten sich 35 Autoren aus Theologie und Gemeindepraxis an die Gemeinden von heute, die nach neuen Visionen, Angeboten und Vorschlägen suchen, um Jugendliche effektiver in das geistliche Leben vor Ort einzubinden und mit Jugendlichen zusammen Zukunftsperspektiven für eine Kirche von morgen zu entwickeln. Der Titel dieses Bandes "Das vergessene Jahrzehnt" bezieht sich indes auf den oftmals starken Rückzug der 10-20jährigen aus dem kirchlichen Leben, was entwicklungspsychologisch zwar nachvollziehbar erscheint, aus ekklesiologischer Sicht aber häufig katastrophale Folgen nach sich zieht. Beim Blick ins Inhaltsverzeichnis wird deutlich, dass die Autoren, die in der Gemeindepraxis überwiegend hauptamtlich tätig sind, zwar ganz unterschiedliche fromme Prägungen wie auch Erfahrungen mit Jugendlichen gemacht haben, über ihr gemeinsames Anliegen, kreativ und aktiv sakrale Räume für Jugendliche zu schaffen, jedoch einen gemeinsamen Nenner gefunden haben. Insofern trifft hier das Sprichwort "Viele Köche verderben den Brei" mal ausnahmsweise nicht zu.
"Das vergessene Jahrzehnt" ist in folgende fünf große Abschnitte aufgegliedert:
1. Gottesdienst und Gemeinde
2. Musik im Jugendgottesdienst
3. Liturgie und Raum
4. Sprache und Inhalt
5. Handwerk und Management
Damit ist auch eine thematische Übersichtlichkeit gegeben, die einem wildes Blättern erspart und schnellen Zugriff auf ein bevorzugtes Thema ermöglicht. Neben biblisch-theologischen Einführungen und Praxisentwürfen für Jugendgottesdienste kommen auch TV-Bischöfin M. KÄßMANN und T. GUNDLACH, seines Zeichens Oberkirchenrat der EKD, interviewtechnisch zu Wort.
Das erkenntnisleitende Interesse soll aus CrossOver-Perspektive dem musikalischen Aspekt gelten, da Jugendliche sich besonders über die Musik mit einer institutio identifizieren und deren Attraktivitätsgrad selbiger nicht selten vom musikalischen Angebot abhängig machen. W. TEICHMANN stellt treffend fest, dass in der populären Musikkultur "fast alle Musik computergestützt, mit aufwändigen Samples sowie den passenden Videoclips produziert" wird, aber "auf der anderen Seite spielen sehr viele Jugendliche privat in Rockbands (...) und lernen damit Jazz, Pop und Rock von der ganz praktischen Seite kennen und auch lieben" (S. 165). Natürlich spielt TEICHMANN hier auf die postmoderne, durch VIVA und MTV geprägte Medien- und Musikkultur an, die geradezu danach schreit, einen Gegenpol durch aktives, handwerklich ansprechendes Musizieren zu bilden. Allerdings möchte ich mich der These nicht anschließen, jegliche Form der aktuellen Popmusik, wenn sie in sakralen Räumen erschallt, als Neues Geistliches Lied (NGL) zu deklarieren. Überhaupt erscheint mir die Begrifflichkeit "NGL" sehr dehnbar und im Zusammenhang mit frommer Musikkultur eher verwirrend als sinnstiftend zu sein, denn rückblickend auf die TEN SING-Bewegung, die Mitte der Achtziger Jahre von Norwegen aus ihren Siegeszug in deutsche Teenagerkreise und CVJMs antrat und sich häufiger der Interpretation weltlicher Popsongs bediente, wurde damals nicht von neuen geistlichen Liedern gesprochen. Es gehörte wie selbstverständlich dazu, dass auch fromme Teenager weltliche Pop- und Rockmusik gerne hörten.
Vor diesem Hintergrund erscheinen mir P. BUBMANNs Thesen zur Gospelmusik rein hypothetischer Natur; vor allem, wenn er versucht, verkrustete verhaltensphysiologische Mutmaßungen beim Konsumieren von Musik als Faktum zu verkaufen und sich sogar zu folgenden vagen Behauptungen hinreißen lässt: "Es ist vielmehr so, dass über die heute dominierenden Musikstilrichtungen House und Rap musikalische Stilelemente im Vordergrund stehen, die wieder näher am Sound des Gospel liegen als etwa während der Dominanz der Punk- oder Heavy-Metal-Rockmusik in den 80er Jahren (...)" (S. 173).
Desaströs fallen R. FRANKs "Streifzüge durch die gottesdienstliche Musiklandschaft" aus, hier insbesondere seine Ausführungen zum Thema "White Metal". Aber schon über die stilistische Variante des Sacro-Rap tun sich unter dem Kirchenmusiker einige Abgründe auf. So behauptet er, dass gerade in jüngster Zeit (womit er wohl das junge 21. Jhdt. meint) sich christliche Komponisten dem Rap zuwenden (vgl. S. 196), was die Vermutung nahe legt, dass der Kinder- und Jugendchorleiter aus Rodgau noch niemals etwas von Künstlern wie T-Bone, Alton Hood oder DC Talk (als diese noch lupenreinen Rap fabrizierten), die bereits in den 80ern fromm-rappend durch die Lande zogen, gehört hat. Seine Ergüsse zum Thema "White Metal", die er bei KÖGLER aufgeschnappt hat, sollten als Klops des Jahres unter der Rubrik "Themen zur Sache" eigentlich in voller Länge online gestellt werden. Hier ein kurzer Ausschnitt:

White Metal, manchmal auch als "Heavens Metal" bezeichnet, ist eine religiöse Musikrichtung die aus den USA kommt und dort schon seit Ende der 80er Jahre existiert. (...) Black Metal ist eine satanische, düstere Unterart des Heavy Metal und wird durch das Wort "Black" (dunkel, schwarz, finster) mit dem Bösen und der Finsternis verbunden. (...) Wenn also Black Metal satanische Inhalte hat, so hat White Metal religiöse, christliche Inhalte in seinen Texten. Die Musik ist harter Rock (...) mit verzerrter E-Gitarre (...) (S. 197).

Wer unter den metalkundigen Lesern jetzt immer noch nicht unter dem Tisch liegt, bekommt auf der folgenden Seite noch reichlich Gelegenheit dazu.
Neben solchen, wirklich verhängnisvollen Auswüchsen werden zu den nachfolgenden Themen aber auch sehr fundierte und pädagogisch wertvolle Beiträge beigesteuert, hier insbesondere der Beitrag des Kollegen M. STEMPLE "zur inhaltlichen Erneuerung evangelikal geprägter Jugendgottesdienste", in der er auch Mut zu weltlichen Bezügen fordert. "'Treue im Kleinen', Hingabe im Alltäglichen statt großer Worte von der besonderen Frömmigkeit und der großen Erweckung; nüchterne Schritte der Nachfolge im Bezug auf Umgang mit dem Geld, Zuwendung zu Hilfebedürftigen (...)" (S. 341).
Resümierend kann gesagt werden, dass mit "Das vergessene Jahrzehnt" ein längst überfälliger Diskussionsbeitrag in Buchform erschienen ist, der - von einigen inhaltlichen Darstellungsschwächen mal abgesehen - in der innerkirchlichen Debatte um Reformen in der Jugendarbeit wichtige Schwerpunkte setzt und allen haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern in der kirchlichen Jugendarbeit als Rüstzeug und zur praktischen Arbeit zur Verfügung gestellt werden sollte.

Christoph Urban, Timo Rieg (Hrsg.): Das vergessene Jahrzehnt. Kinder-Jugend-Gottesdienst: Warum sich Kirche ändern muss. Beispiele, Provokationen und Visionen aus dem kirchlichen Leben. Biblioviel Verlag Bochum, 1. Aufl. 2004. 400 Seiten, Hardcover. ISBN 3-928781-72-3. EUR 18,-
 
 




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