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Roland Smith: Entscheidung am Mount Everest
von rls anno 2011

Roland Smith: Entscheidung am Mount Everest

Bergsteigerdramen haben in allen Zeiten Konjunktur, aber es gibt bestimmte Perioden, wo sich der Fokus der Öffentlichkeit ganz besonders auf die scheinbar der Schwerkraft trotzenden Menschen (und vor allem die, die es in einem entscheidenden Moment nicht geschafft haben, der Schwerkraft zu trotzen) richtet. Solche Perioden haben entweder reale Ursachen (also wenn mal wieder von einer zehnköpfigen Expedition zu einem Achttausender nur ein Mitglied zurückgekehrt ist) oder bilden die Begleiterscheinung geschickt plazierter Promokampagnen zu bestimmten kulturellen Reflexionen des Bergsteigerlebens, also beispielsweise der unlängst in die Kinos gekommenen filmischen Aufarbeitung des berühmten Aufstiegs der Messner-Brüder zum Nanga Parbat anno 1970, der bekanntlich mit Günthers Tod endete und den auch Reinhold nur knapp überlebte. Viele der Bergsteigerdramen orientieren sich dabei an realen Geschehnissen, denn bekanntlich ist kein Drehbuchschreiber so einfallsreich wie das Leben selbst; daneben trifft man aber auch auf reine Phantasieprodukte, unter denen noch diejenigen mit tatsächlich unrealem Hintergrund und diejenigen, die theoretisch genau so passiert sein könnten, zu unterscheiden sind.
Zu letzterer Kategorie zählt das Buch "Entscheidung am Mount Everest" von Roland Smith. Dessen Held und Ich-Erzähler ist der 14jährige Peak Marcello, der seinen Vornamen ("Gipfel") seinen bergverrückten Eltern verdankt - möglicherweise eine Anspielung auf Nanda Devi Unsoeld, die nach dem Himalaja-Siebentausender Nanda Devi benannte Tochter des Bergsteigers Willi Unsoeld, die später bei einem Besteigungsversuch ebendieses Berges ums Leben kam (man erinnere sich an die Theorie, kein Drehbuchschreiber sei so einfallsreich wie das Leben selbst). Peak jedenfalls hat, nachdem er mit seiner Mutter von Wyoming zu seinem Stiefvater nach New York City gezogen ist, kaum noch Klettermöglichkeiten und steigt deshalb heimlich die Außenwände von Wolkenkratzern noch, bis er dabei erwischt wird, allerdings aufgrund eines Deals aller Prozeßbeteiligten nicht in den Jugendknast wandert, sondern quasi in die Verbannung geschickt wird. Die sieht so aus, daß er zu seinem leiblichen Vater nach Chiang Mai in Thailand gehen soll - allerdings leitet der ihn schnell nach Kathmandu um und von dort aus über die chinesische Grenze ins Basislager der Nordroute auf den Mount Everest. Und dabei soll es nicht bleiben: Es kommt nach zahlreichen Irrungen, Wirrungen tatsächlich auch zu einem Gipfelversuch, und wenn Peak den Gipfel erreichen würde, wäre er der jüngste Bergsteiger, der je ganz oben auf dem Dach der Welt gestanden hat. Freilich haben der chinesische Sicherheitsoffizier (daß der Captain Shek heißt, ist sicherlich keine zufällige Namensgebung seitens des Autors), das Wetter, die Kondition und noch mancherlei andere, an der Nordseite des Berges befindliche Personen ein Wörtchen mitzureden, was den potentiellen Gipfelerfolg angeht. Und was dann ganz oben am Berg passiert, soll an dieser Stelle selbstverständlich nicht verraten werden. Nur so viel: Smith scheint viel über die Gipfeleuphorie und deren Auswirkungen positiver wie negativer Art gelesen zu haben ...
Ein gutes Stichwort: Smith, so sagt der Klappentext, war nie selbst auf dem Everest - aber er muß sich ein immenses Wissen über diesen angelesen haben, denn er schildert die Nordseite mit großer Detailkenntnis, und bei einigen Elementen des Umweges, den Peak auf den Berg nehmen muß, ist sich eher der Rezensent sicher, daß er nochmal die Geländetopographie genau studieren müßte, um sich hier ein genaues Urteil zu erlauben, ob Smith die realen Gegebenheiten auch real in Worte gefaßt hat. Freilich umschifft der Autor die schwierige Klippe, als knapp 60jähriger mit den Worten und Gedanken eines 14jährigen zu erzählen, nicht ganz - einige Gedankengänge und Handlungsweisen passen schlicht und einfach nicht zu einem Jungen von 14 Jahren, auch wenn er genetisch doppelt bergsteigerisch vorbelastet und auch sonst recht gewitzt ist. Dafür hält sich Smith aber von übertriebener Pseudo-Jugendsprache fern, was er mit einem kleinen literarischen Kunstgriff begründen kann: Der Text des Buches stammt vorgeblich aus zwei Moleskines, in die Peak eine Art Abschlußaufsatz seines Schuljahres, das er aufgrund der Verbannung nicht regulär beenden kann, notiert. Interessanterweise bemerkt man beim Lesen, wie Peak das anfangs ungewohnte dramatische Erzählen später immer flüssiger und mit immer weniger eingeschobenen Erläuterungen von der Hand geht bzw. aus dem Stift fließt, und das hält beim Leser auch das Interesse wach, das durch die spannende Geschichte ja sowieso schon geweckt worden ist. Natürlich sollte man grundsätzlich wenigstens einen gewissen Draht zum Bergsteigen haben, um das Buch in seiner ganzen Tiefe und allen Details zu verstehen, aber es ist nicht notwendig, Spezialkenntnisse in dieser Welt zu haben, wenngleich die beim Lesen natürlich auch nicht schaden, sofern man eben keinen wissenschaftlichen Ersteigungsbericht erwartet, sondern sich auf die literarische Fiktion einlassen kann. Gute Teile der hedonistischen Jugend von heute werden dem Buch wenig abgewinnen können, andere werden dafür umso begeisterter sein, und die Zahl der potentiellen letzteren dürfte, wenn man den Zulauf an den Kletterwänden in vielen Städten Deutschlands sieht, gar nicht mal so klein sein.

Roland Smith: Entscheidung am Mount Everest. Hamburg: Carlsen 2010. 304 Seiten, Paperback, ISBN 978-3-551-35899-8. 9,95 Euro. www.carlsen.de; zum Rezensionszeitpunkt auch als Sonderausgabe für 4,95 Euro erhältlich



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