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Ertugrul Sevsay: Handbuch der Instrumentationspraxis
von ta anno 2006

Ertugrul Sevsay: Handbuch der Instrumentationspraxis

Es gibt ja da diesen Scherz von dem kleinen Bub, der einmal in die Bonbondose greifen darf und seinen Opa bittet, es für ihn zu tun. Warum? Der Großvater hat die größeren Hände.
Was hat das mit Sevsay zu tun? Nun, dieser nennt sein Instrumentations-Kompendium "Handbuch der Instrumentationspraxis" und vernachlässigt damit den kleinen Buben, der das gute Stück niemals längere Zeit in der Hand wird halten können, weil es mit einer Höhe von einem guten Viertelmeter und der bescheidenen Anzahl von 668 Seiten auch ein entsprechendes Gewicht aufweist. Handbuch? Dass ich nicht lache. Macht aber nix, denn dafür ist das Werk ja auch gut geworden.
Das "Handbuch ..." ist tatsächlich ein Kompendium im ursprünglichsten Sinne des Wortes: Ein Lehrwerk, das nicht nur begriffliches Wissen vermittelt, sondern die Anwendungsmöglichkeiten dieses Wissens gleich mit illustriert. Und diese Anwendung betrifft natürlich die Instrumentation eines Musikstücks und der Adressatenkreis dieses Buches wird sich zu großen Teilen in Menschen erschöpfen, die solche Musikstücke schreiben und/oder instrumentieren, Komponisten und Dirigenten. Und noch ein letztes Wort zum Kompendiumscharakter: Weil es hier um Know How geht, welches eben dadurch charakterisiert ist, dass es eine direkte praktische Anwendung findet, teilt Sevsay sein Buch in einen Theoretischen (1) und einen Praktischen Teil (2), d.h. einen Teil, in dem sukzessive Instrumentationswissen vermittelt wird (1) und einen Teil, in dem dieses Wissen genutzt wird, weil es eine Technik an die Hand gibt, mit der Musikstücke im Hinblick auf ihre Instrumentation transparent gemacht werden können (2). Der zweite Teil findet seine Realisierung zweifach: Einmal in Partiturausschnitten von Haydn, Brahms, Skrjabin, Tschaikowsky und vielen anderen (insgesamt werden zwanzig Komponisten auf fünfzig Partiturbeispiele verteilt), an welche Übungen für den Leser des ersten Teils gekoppelt werden (Schwierigkeitsgrad steigend), und einmal in den Analysen der Partiturabschnitte durch den Autor selbst. Sevsay hierbei auf die Finger zu sehen, ist durchaus spannend und erkenntnisbringend, allerdings sei das Studium der entsprechenden Beispiele und die Selbstprüfung an ihnen völlig auf den potentiellen Leser des "Handbuchs ..." verlagert, denn eine Behandlung dieses Teils würde den Rezensionsrahmen weit sprengen.
Ergo zum ersten Teil. Wie geht Sevsay vor? Vermutlich so detailliert, wie man es sich nur vorstellen kann. Ein Buch für angehende Komponisten klassischer Musik muss natürlich das Material vorstellen, an dem eben diese Komponisten sitzen, wenn sie über die Instrumentation ihrer Stücke nachdenken. Dieses Material ist spätestens vor den versammelten Musikern nichts anderes als ein ganzer Berg an Instrumenten. Und genau den stellt Sevsay vor: Einen ganzen Berg an Instrumenten. Sevsay unterscheidet hier fünf Instrumentgruppen, nämlich Streich-, Blas-, Schlag-, Zupf- und Tasteninstrumente (wobei sämtliche elektronischen Instrumente - man denke nur an die Hammond-Orgel -, die bekanntermaßen auch Einzug in den Bereich der sog. E-Musik gefunden haben, aus Gegenstandseinschränkungsgründen erst im Anhang Erwähnung finden und dies auf denkbar knappen anderthalb Seiten). Ein zweiter Schritt differenziert die verschiedenen Typen dieser fünf Gruppen und diese Typen werden sukzessive thematisiert. Hierbei geht Sevsay auf jeden Typ gesondert ein, Ausnahme bleibt die in sich relativ geschlossene Kollektivabhandlung der Streichinstrumente. Diese dürfte sich schnell damit erklären lassen, dass etwa die Spieltechnikunterschiede zwischen einer Violine und einem Cello weniger groß sind als die Unterschiede zwischen dem Bedienen eines Xylophons und dem Bedienen einer Kesseltrommel, nur, um mal ein Exempel zu statuieren. Aber Moment mal. Der angehende Komponist will die Instrumente, für die er schreibt, doch nicht selbst spielen, sondern von Anderen spielen lassen. Weshalb nimmt ein Handbuch zur Instrumentation also zu einem so großen Teil Bezug auf den Spielenden und nicht den Klang des Instruments? Antwort: Weil der angehende Komponist wissen muss, was überhaupt spielbar ist. Von einem Klavierspieler etwa zu verlangen, einen vollen Akkord aus elf Tönen anzuschlagen, um einmal ein plakatives Beispiel zu wählen, ist natürlich erst mal ein Unding, ergibt aber dann Sinn, wenn sich zwei Töne mit einem Finger spielen lassen und das Ganze vielleicht nicht mitten in einer schnellen Bach-Fugen-Adaption passiert. Oder, um ein Beispiel von Sevsay selbst zu wählen: Von einem Geiger darf verlangt werden, dass er Mehrfachgriffe, also Akkorde spielen kann. Aber nicht jedes wohlklingende Intervall, das ein Komponist zurechtzimmert, ist dem Geiger ein Vergnügen. Woran erkennt der Komponist, was spielbar ist und was nicht, wenn er nicht selbst Geiger ist, also nicht selbst auf der Geige nachprüfen kann, ob sein Akkord sich auf einen Griff auf die Saiten und auf zwei, drei, vier Finger verteilen lässt? Sevsay bietet auf S. 44ff. ein sicheres Verfahren, in dem sich die Spielbarkeit bestimmter Akkorde allein anhand der Notation des Griffes und einigen Transpositionsschritten ermitteln lässt. Analoges geschieht bezüglich der Posaune und ihrer Möglichkeit, Glissandi zu spielen (vgl. S. 125f.). Das ist instrumentationstechnische Detailarbeit, zweifellos, die ich von keinem vergleichbaren Werk kenne, und hier wird - sozusagen unter der Hand - die Notation der entsprechend entworfenen Passage gleich mitgeliefert, wobei Sevsay in gelegentlichen historischen Exkursen nicht nur verschiedene Notationsmöglichkeiten, sondern manchmal auch ihre Überführung ineinander vorstellt (vgl. S. 113ff. zum Horn), was bei der Beschäftigung mit historischen und nicht eigenen Kompositionen zweifellos äußerst hilfreich ist. Hier hätte auch gerne noch mehr "Übersetzungsarbeit" in Sevsays Buch Einzug finden können, allerdings ist - wie bereits bemerkt - das Anliegen dieses Buches eher systematischer als historischer Natur (mehr Historie bietet z.B. Peter Josts an anderer Stelle besprochenes Studienbuch "Instrumentation") und die Übergangsflächen zwischen der einen und der anderen Natur können nicht in jedem Fall ausgemalt werden (ich hatte den sehr kurzen Abriss zu den elektronischen Instrumenten erwähnt). Praktisch auch für andere Zwecke ist aber - jetzt als Beispiel einer Übergangsfläche, die eben doch ausgemalt wird - das im Anhang abgebildete Begriffsregister, das die populärsten deutschen Begriffe für Einzelinstrumente ihren englischen, italienischen und französischen Entsprechungen gegenüberstellt.
Die Bemerkungen zur Spieltechnik sind natürlich nicht der gesamte Inhalt des Theoretischen Teils. Die Bemerkungen zu dem, was man allgemeinhin meint, wenn man von Instrumentation spricht, nämlich der Kombination verschiedener Instrumente zum Zwecke des Generierens einer bestimmten Klangfarbe, nehmen den anderen Teil ein, wobei Sevsay Instrumentation von Orchestration, nämlich der wirkungsästhetischen Kategorisierung der Instrumentation, streng getrennt wissen will. Behandelt werden beide Aspekte, der Kombinations- und der Wirkungsaspekt (einmal vom Stück, einmal vom Rezipienten her gedacht), wobei mir jedoch gerade zweiter Aspekt im Vergleich mit den ausführlichen Erörterungen zur Spieltechnik zu geringfügig betrachtet zu worden scheint (man betrachte etwa die Bemerkungen zu den "Effekten", die man durch Einsetzen des Stimmschlüssels oder perkussiver Elemente an der Harfe erreichen kann, S. 242ff.). Natürlich sind die Möglichkeiten heftigen Gegenwindes für jemanden, der ästhetische Behauptungen aufstellt, ebenso wie die Möglichkeiten der Überbewertung genuin historisch gebundener Bewertungsmuster nicht eben gering. Aber insofern die Spieltechnik-Abschnitte den Mammutteil des Theoretischen Teils stellen, ist auch der Theoretische Teil eigentlich praktisch, der wirklich theoretische Teil dagegen leicht unterrepräsentiert.
Nichtsdestotrotz: Unter praktischer Hinsicht ist das "Handbuch …" ein kleines Schmuckstück geworden, systematisch nachvollziehbar und übersichtlich gestaltet (Sevsay kann jahrelange Lehrerfahrung als Professor in Wien vorweisen), in bewundernswerter Feinarbeit aufgearbeitet und gut verständlich geschrieben. Interessierte Komponisten mögen sich an die nächste Buchhandlung mit der ISBN 3-7618-1726-6 und dem Verlagsnamen Bärenreiter im Kopf und 68,- Euronen in der Geldbörse wenden. Das Orchester wird's danken.
 






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