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Hans Jürgen Schultz: Dietrich Bonhoeffer - Umkehr zum Leben
von rls anno 2010

Hans Jürgen Schultz: Dietrich Bonhoeffer - Umkehr zum Leben

Im April 1943 wurde der Theologe Dietrich Bonhoeffer verhaftet und sollte bis zu seiner Hinrichtung wegen Wehrkraftzersetzung zwei Jahre später nicht mehr freikommen. Aber er wußte die Zeit in der Haft für eine entscheidende Weiterentwicklung seiner Theologie zu nutzen, wenngleich es natürlich ein radikaler Fehlschluß wäre, den Nationalsozialisten für die Verhaftung und die daraus resultierende Möglichkeit dieser theologischen Entwicklung in einer gewissen Isolation dankbar sein zu wollen. Viel von dieser theologischen Entwicklung ist dem gemeinen Kirchenvolk der Nachkriegszeit allerdings verschlossen geblieben und dem heutigen je nach Herangehensweise noch mehr oder aber in ähnlichem Maße, während sein letztes Zeugnis aus dem Gefängnis, das Gedicht "Von guten Mächten treu und still umgeben", Eingang auch in den Volksglauben gefunden hat und heute in einer seiner x Vertonungen bei jeder passenden oder auch unpassenden Gelegenheit gesungen wird. Dieses Gedicht schlägt auch eine Brücke zu einem anderen Bonhoeffer, einem, den bis 1992 niemand so richtig auf der Rechnung hatte. In diesem Jahr nämlich wurde der erhalten gebliebene Teil des Briefwechsels zwischen Bonhoeffer und seiner Verlobten Maria von Wedemeyer erstmals veröffentlicht, und man merkte plötzlich, daß der Bonhoeffer dieser Zeit keineswegs ein mönchisch-asketischer Gottesstreiter (für den man ihn, wenn man ausschließlich sein spätes theologisches Werk kennt, halten konnte), sondern ein ernsthaft und ehrlich verliebter Mensch war. Dabei mutet die Verbindung kurios an, nicht nur aufgrund des Altersunterschiedes von fast 20 Jahren: hier der tiefdenkende Gottesmann, da ein unbeschwerter Springinsfeld, gerade frisch mit dem Abitur in der Tasche. Beide hatten sich nur einige Male getroffen, als sie bemerkten, was da zwischen ihnen vorging, und gegen einige Widerstände von außen kam es im Januar 1943 quasi zu einer Art Blitzverlobung, deren Standfestigkeit ein Vierteljahr später mit Bonhoeffers Verhaftung auf eine harte Probe gestellt wurde. Sie hat diese Probe glänzend bestanden.
Das vorliegende Buch von Hans Jürgen Schultz beleuchtet den späten Bonhoeffer nun genau von diesen beiden Seiten. Schultz selbst muß eigentlich gar nicht so sehr viel dazu sagen, aber das, was er sagt bzw. schreibt, ist dann doch recht hilfreich: Er umreißt in einem 30seitigen Essay die biographischen Hintergründe der Verbindung Bonhoeffer-von Wedemeyer, stellt beides aber in den Kontext der beiderseitigen Familiengeschichten. Die theologische Reflexion bettet er in Bonhoeffers biographische Entwicklung ein, wobei, für den Außenstehenden vielleicht erstaunlich, Mahatma Gandhi eine nicht unerhebliche Rolle in den Gedankenkonstrukten spielt (man kommt nicht umhin, wieder einmal die erstaunlich flache Schürfung des Woodencross-Textes "Gandhi" zu erkennen). Die Hauptworte aber überläßt Schultz den Protagonisten selbst: Für die theologische Entwicklung zieht er Bonhoeffers Briefe an Eberhard Bethge heran, einen alten Freund und Wegbegleiter. Hier entwirft Bonhoeffer auf etwa 200 erhaltenen Briefseiten schrittweise sein Konzept eines nichtreligiösen Christentums, das wieder lernt, sich auf das Wesentliche zu besinnen (Vermögensverwaltung gehört da im übrigen nicht dazu), gleichzeitig aber auch bereit ist, das alte Lenin-Prinzip "Lernen, lernen, nochmals lernen" auf das eigene Leben und vor allem den eigenen Geist anzuwenden. Wenn man die hier vorliegende Auswahl liest, beschleicht einen das ungute Gefühl, daß es irgendwie für Bonhoeffer das Beste war, daß er nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr lebte: Er wäre früher oder später, vermutlich früher, in den Mühlen der Amtskirche zerrieben worden, die sich bekanntlich noch heute in ihrer Rolle sonnt. Das, was er an Denkimpulsen noch überliefern konnte, hätte eigentlich schon für einen geistlichen Umsturz gereicht, wenn man es denn hätte ernstnehmen wollen. Ganz nebenbei liefert das Buch aber auch noch andere Impulse. Im letzten Kapitel, überschrieben "Gedanken auf dem Weg zur Freiheit", findet sich folgende Passage, leider nicht mit eindeutiger Quellenangabe: "Es gibt Menschen, die es für unernst, Christen, die es für unfromm halten, auf eine bessere irdische Zukunft zu hoffen und sich auf sie vorzubereiten. Sie glauben an das Chaos, die Unordnung, die Katastrophe als den Sinn des gegenwärtigen Geschehens und entziehen sich in Resignation oder frommer Weltflucht der Verantwortung für das Weiterleben, für den neuen Aufbau, für die kommenden Geschlechter. Mag sein, daß der jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht." Diese perfekte Illustration zu Luthers Apfelbäumchen-Satz sollte man von Osama bin Laden bis zu Jehovas Zeugen allen Pseudoapokalyptikern ins Stammbuch schreiben, und man vermutet, daß selbst Rudi Dutschke sie gelesen haben könnte.
Das ist die eine Seite des späten Dietrich Bonhoeffer. Die andere findet man in den Brautbriefen von und an Maria von Wedemeyer, deren Auswahl mit knapp 80 Seiten fast die Hälfte des vorliegenden Büchleins ausmacht. Die Diesseitsorientierung Bonhoeffers, die etwa im wenige Zeilen weiter oben angeführten theologisch determinierten Zitat aufscheint, erfährt durch sie eine Bestätigung, die selbst Schultz in seiner kurzen Einführung zu verblüffen scheint. Der Spannungsbogen gleitet über Momente der puren Verliebtheit, der Ernüchterung, der Selbst- und Fremdzweifel, aber in jedem Falle solche der Ehrlichkeit und der Innigkeit. Das Problem, vor dem die beiden stehen, keine Worte zu finden für das, was sie eigentlich sagen wollen, hat der Rezensent an dieser Stelle auch, und das, obwohl hier keine Zensurbehörde mitliest (auf die Maria in den ersten Briefen hier und da ironisch eingeht). Nicht alle der Briefe erreichten ihren Empfänger, und man kann sich gerne die Mühe machen, kreuzweise Beziehungen zwischen den einzelnen Briefen bzw. Briefausschnitten (sie sind chronologisch nach Verfaßdatum angeordnet, was bedeutet, daß man bei der damaligen Unsicherheit und Langwierigkeit der Postzustellung, noch dazu unter Häftlingsbedingungen, aufeinander bezogene Passagen oftmals in zwei oder mehr Einheiten auseinanderliegenden Briefen findet) herzustellen; man kann es aber auch sein lassen, die Wortwahl der beiden auch ins eigene Herz schließen und versuchen, die eigenen Probleme mit der gleichen Gelassenheit zu sehen wie die beiden (trotz aller Zweifel, von denen auch sie nicht frei waren). Der Briefwechsel findet seinen Höhe- und zugleich Schlußpunkt im Dezember 1944 mit dem Gedicht "Von guten Mächten treu und still umgeben", Bonhoeffers Weihnachtsgabe an seine treue Verlobte und Geburtstagsgeschenk für seine Mutter. So wie er und Maria die Briefe des jeweils anderen bis ins kleinste Detail aufsogen und praktisch auswendig lernten, so entdeckt der staunende heutige Leser Details, mit denen er dort wohl zuallerletzt gerechnet hätte. Bonhoeffer als Prophet der Landfluchtbewegung des späten 20. Jahrhunderts? Man schaue auf S. 102. Und wer S. 113 aufmerksam liest, entdeckt Bonhoeffers Gedanken zu den Editionen von Briefen anderer Leute. Ob man die jetzt beim Lesen des vorliegenden Bändchens beherzigt oder nicht, muß aber jeder mit sich selber ausmachen. Mit seiner übersichtlichen Gestaltung und seiner leserfreundlichen Themenfokussierung ist das Buch ein idealer Einstieg in den Kosmos Bonhoeffers, selbst wenn man entwicklungstechnisch damit das Pferd vom Schwanz her aufzäumt. Aber wer nach dieser Einstiegsdroge mehr will, der wird als nächster Schritt sowieso zu "Widerstand und Ergebung" (hier sind fast alle von Bonhoeffers erhaltenen Briefen an Eberhard Bethge abgedruckt) und/oder "Brautbriefe Zelle 92" (das ist der Briefwechsel Bonhoeffer-von Wedemeyer) greifen.

Hans Jürgen Schultz: Dietrich Bonhoeffer - Umkehr zum Leben. Briefe aus der Haft in neuer Sicht. Düsseldorf: Patmos 2009. 168 Seiten. ISBN 978-3-491-71326-0. 12,90 Euro
 






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