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Harald Schroeter-Wittke, Gotthard Fermor (Hrsg.): Kirchenmusik als religiöse Praxis
von *tf anno 2005

Harald Schroeter-Wittke, Gotthard Fermor (Hrsg.): Kirchenmusik als religiöse Praxis

Ein spannendes Buch, suggeriert der Titel. Und praxisnah, könnte man vermuten. Beides löst die vorliegende Neuerscheinung leider nur zum Teil ein. Das ist schade, wird doch von Kantoren, Gemeindepädagogen und Pfarrern zunehmend Wegweisung im unübersichtlichen Feld von Kirchenmusik zwischen Verkündigung, Gemeindearbeit und Ausstrahlung in die Welt erwartet. Die Probleme, die dazu führen, dass die Veröffentlichung nur bedingt empfehlenswert ist, sind hausgemacht. So ist die Versuchung, möglichst viele Autoren und damit möglichst vielfältige Perspektiven in die Diskussion einzubringen, unweigerlich verknüpft mit der Gefahr des Fehlens einer durchgängigen Argumentierung und einer zielführenden Dramaturgie. In der Tat gleicht die Lektüre einem Puzzle aus verschiedenen Teilen, denen das übergeordnete Motiv fehlt. Weiterer Schwachpunkt ist der äußerst knapp bemessene Umfang der einzelnen Artikel, der selten fünf Seiten übersteigt. Auf solch engem Raum lassen sich Perspektiven gerade noch flüchtig skizzieren, mehr aber auch nicht. Das ist vor allem deswegen ärgerlich, weil die offensichtlich herausgeberische Idee, einen Rahmen vorzugeben, in dem sich die Autoren bewegen können, damit nur begrenzt Erfolge verzeichnen kann.
Im Detail: Das Buch ist in zwei übergreifende Themenblöcke - "Kirchenmusik als religiöse Praxis" und "Kirchenmusik als praktische Theologie" - aufgeteilt, wobei der erste entgegen der Verheißung des Buchtitels lediglich ein Fünftel umfasst. Hier kommen die Autoren zu den Stichworten Hören, Singen, Komposition, Improvisation, Rhetorik, Klang, Rhythmus, Harmonik und Melodik, Arrangement, Atmosphäre sowie "Das Geräusch der Stille" zu Wort. Abgesehen davon, dass dieses umfangreiche Repertoire innerhalb von etwas über fünfzig Seiten kaum Platz hat, sich zu entfalten, ist auch die Systematik der Auswahl nicht stringent. Warum ist Stille Geräusch, anderes aber Klang? Kann Improvisieren nicht auch als eine Art des Komponierens verstanden werden? Ist das anthropozentrische Vorgehen Methodik oder lediglich Ausdruck dessen, dass der Mensch und nicht die Musik im Mittelpunkt steht? Ohne auf die einzelnen Artikel näher eingehen zu wollen, bleibt festzuhalten, dass durch die Parallelität der Artikelentstehung ohne gemeinsamen Abgleich des Geschriebenen eine Reihe begrifflicher Mehrfachverwendungen und Doppelungen von Argumentationssträngen zu verzeichnen sind. Das ist hinsichtlich des begrenzten Umfangs dieses Teils doppelt ärgerlich. Auch die unterschiedlichen Stile der Artikel taugen nur bedingt für eine Gesamtschau der Problematik. Hier vermisst der Leser den lektorierenden Einfluss des Verlages.
Der wesentlich umfangreichere zweite Teil des Buches steht ganz im Zeichen der praktischen Theologie. Dies verwundert nicht, sind doch bis auf wenige Ausnahmen alle Autoren dem theologischen Bereich zugehörig. Misslich nur, dass es laut Titelverheißung eigentlich um Musik gehen sollte. Unterteilt ist der zweite Teil in fünf Themenbereiche, die mit "Wahrnehmung und Kontexte", "Verkündigung und Kommunikation", "Bildung und Sozialisation" (kein einziger Sozialwissenschaftler kommt allerdings hier zu Wort), "Seelsorge und Diakonie" sowie "Leitung und Organisation" überschrieben sind. Neben einigen flüssigen Beiträgen gibt es auch einige aus meiner Sicht überflüssige. Zu ersteren ist sicher "Populäre Kirchenmusik" aus der Feder von Wolfgang Teichmann zu zählen (übrigens einer der ganz raren Beiträge, die auch das Populäre unter den Kirchenmusikbegriff subsumieren), zu letzteren sicher der Beitrag, dessen Conclusio die Verwendung der Melodie des Chorals "Großer Gott wir loben dich" als Handyklingelton für ein gelungenes Beispiel der Verbindung zwischen Cyberspace und Spiritualität hält. Als gelungen kann dagegen der Artikel zu "Kirchenmusik in der theologischen, gemeinde- und religionspädagogischen Aus- und Fortbildung" aus der Feder von Jochen Arnold gelten. Äußeres Zeichen dieser Qualität ist schon ein überdurchschnittlicher Seitenbedarf von immerhin zehn Seiten, damit unangefochtener Spitzenplatz des gesamten Buches (interessant auch, welche Artikel mit lediglich vier Seiten auskommen: "Kirchenmusik und Kabarett", "Kirchenmusik als Diakonie" und "Kirchenmusik und Kirchenleitung" - da lässt sich so einiges vermuten ...). Kurz vorher noch der aus meiner Sicht unangefochtene inhaltliche Sieger der Lektüre: der Beitrag "Kirchenmusik als Gemeindekulturpädagogik" von den Verfassern Martin Steinhäuser und Jens Seipolt. Hier wird in die richtige Richtung gedacht. Fast könnte man den Artikel schon als innovativ bezeichnen, dafür ist er allerdings leider zu knapp und damit folgerichtig zu grob gestrickt.
Fazit: Die von mir lobend erwähnten Artikel rechtfertigen den Erwerb des Buches zwar bedingt, als Praxisbuch ist es allerdings weder konzipiert noch geeignet. Hier liegt die Chance des Verlages für eine Folgeveröffentlichung, denn der Bedarf - siehe oben - ist da. Und potentielle Käufer damit auch ...
Als kleine Beigabe noch die Hitliste der zitierten Autoren - und damit offenbar den ausgewiesenen Fachleuten für Kirchenmusik (in numerischer Reihenfolge): Bach, Luther, Schroeter-Wittke, Fermor, Bubmann. Unter "ferner liefen": Nena, Quintilian, Sting, Rösing und die Kastelruther Spatzen.

Harald Schroeter-Wittke, Gotthard Fermor (Hrsg.): Kirchenmusik als religiöse Praxis. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2005. 288 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 3-374-02304-5
 






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