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Klaus Schnellenkamp: Geboren im Schatten der Angst. Ich überlebte die Colonia Dignidad
von mh anno 2007

Klaus Schnellenkamp: Geboren im Schatten der Angst. Ich überlebte die Colonia Dignidad

Die deutsche Sekte Colonia Dignidad in Chile sorgte jahrzehntelang für Schlagzeilen. Seit 1996 auf der Flucht, konnte ihr Gründer Paul Schäfer erst 2005 verhaftet werden. 2006 wurde er wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern und illegalem Waffenhandel zu zwanzig Jahren Haft verurteilt.
Die "Kolonie der Würde", organisiert wie ein totalitäres System, war ein Staat im Staate, geschützt von der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. Dessen Geheimdienst stellte sie im Gegenzug ihre Bunkeranlagen zur Verfügung - zur Folterung an Oppositionellen.
Die Sekte war ein Mikrokosmos, der mit Hilfe von Angst und Misstrauen zusammengehalten wurde. Schuldgefühle, gegenseitige Bespitzelungen und permanente Demütigung durch drastische Strafmaßnahmen. Und vom alles überschattenden Zorn eines strafenden Gottes ...
Es ist ein autobiografischer Bericht aus der Hölle. Assoziationen in Verbindung mit Kindersoldaten können aufkommen, deren Gewissen ein völlig anderes ist.
Eine Frage des Lesers könnte im Anschluss lauten: "Was hält so jemanden aufrecht?" Die Antwort könnte sein: "Der "echte" Glaube im Gegensatz zu einem "entwickelten" Glauben."
Eine permanente Traumatisierung in der Kindheit und Jugendzeit lassen die ganze Entwicklung dieser Kinder als Lebenszeitdiebstahl erscheinen. Ständiger Druck mit Gehirnwäsche kann sich, wie es nun ersichtlich wird, ins Gegenteil verkehren. "Inseln der Klarheit" konnten sich beim Autoren durch die seelisch kräftigende Erfahrung einer liebevollen Zuwendung von Tante Margret in den ersten Lebensjahren entwickeln. Im tobenden Sturm eines Wahnsinnssystems gab es solche Menschen, die sich um ihn kümmerten. Nur dadurch war es möglich, dass sich bei ihm ein klares Bewusstsein und Urteilsvermögen entwickeln konnte und er zwischen Gut und Böse unterscheiden konnte.
Schäfer schuf sich ein System, in dem er ungestraft schalten und walten konnte. Für ihn gab es nur eigene Regeln und eine sich wiedersprechende Pseudo-Moral für die Opfer.
Mir gefällt das Buch, weil es aus der Sicht des kleinen Jungen geschrieben ist, der im Moment des Geschehens Dinge beschreibt, die er noch nicht verstehen kann. Erst viel später setzt er einzelne Puzzleteile zusammen und reflektiert. Das wird besonders an der Stelle deutlich, als er kurz vor der Gerichtsverhandlung seine Familienzusammengehörigkeit erfährt.
Klaus hat ein eigenes Schuldbewusstsein entwickelt. Er ahnt, dass, wenn er noch länger dem destruktiven, totalitären System ausgeliefert ist, der Schritt vom Opfer zum Täter immer geringer wird. Auch dieses innere Eingeständnis wird zu seinem Freiheitswunsch im Alter von 12 Jahren stark beigetragen haben.
Als intelligentes Kind konnte er Widersprüche im Verhalten der Erwachsenen schnell ausmachen. Diese waren, spätestens ab dann, keine Autoritäten mehr für ihn.
Der Fokus des Buches liegt darin, etwas aufzuzeigen und den Lesenden anschließend am Bewusstwerdungs- und Befreiungsprozess teilnehmen zu lassen. Das macht die Spannung des Buches aus.
Zwischendurch muss der Lesende innehalten, um den Schmerz und die Bedrängnis des jungen Menschen zu verdauen. Es kommt ins Bewusstsein: "Das ist wirklich geschehen."
Tatsache ist, dass Klaus Schnellenkamp das Erlebte, trotz vieler körperlicher Misshandlungen, nicht umgebracht hat, es lässt ihn im Gegenteil seelisch stark werden. Die Frage ist: Wie sieht das bei den anderen "Kindern" aus die sich teilweise mit dem System arrangierten?
Wie Klaus Schellenkamp mitteilt, ist in Chile ist momentan die juristische Küche zum Thema Colonia Dignidad kräftig angeheizt worden. Die allzu lange anhaltende Dunstglocke über diesem Terrorapparat scheint nun doch etwas Licht hindurch zu lassen, wozu seine Öffentlichkeitsarbeit durch das Buch "Geboren im Schatten der Angst" entscheidend beitragen konnte. Wohl mehr aber noch seine informative Zusatzleistung in der Justiz. Es ist daher endlich mit einer definitiven Verurteilung der inzwischen wieder in Freiheit lebenden Führungsclique (darunter sein "Vater") zu rechnen. Dass diese Straftäter verurteilt werden, ist sicher, es ist nur noch eine Frage der Zeit. Vielleicht schon nächste Woche, übernächste oder die darauf, aber aller Voraussicht nach noch in diesem Monat.

Interview mit Klaus Schnellenkamp

Haben sich die Erlebnisse aus Ihrem ersten Leben schon gesetzt?
Ja! Zu meiner eigenen Überraschung mit fortschrittlichem Quantensprung. Natürlich folgte nach meiner Ankunft in Deutschland der gelungenen äußeren Distanzierung die schwierigere innere. Zwar treffen mich die Entwürdigungen und Grausamkeiten in der Colonia Dignidad heute noch tief in der Seele, aber sie wecken keine Rachegefühle in mir. Dabei hilft mir sowohl meine Ratio als auch mein friedliebendes Weltbild.

Wie gestaltet sich die Verarbeitung der Ereignisse und Traumata?
Nun, nachdem ich mit 33 Jahren das erste Mal gewürdigt, gelobt und anerkannt wurde - und das von mir völlig fremden Menschen -, sollte mich die Vergangenheit noch einmal kräftig einholen. Besonders das mir so verbitterte Vertrauen und der stille Schrei nach Liebe entfesselten in mir ein Ringen zwischen Freude und Schmerz, dass ich es manchmal kaum ertragen konnte. Aber wer das Leben, die Liebe und die eigene Familie zeitlebens zum Feind hatte, für den wird sein weiteres Leben nicht mehr zur Selbstverständlichkeit. Ich bin sehr guter Dinge, aber ich stehe gerade erst am Anfang.

Als kritischer Mensch sehen Sie, dass dieses System auch seine Schwächen und Tücken hat. Wie gehen Sie damit um?
Ich würde den für mich deutlichsten Unterschied zwischen der Colonia Dignidad und der mich heute umgebenden Weltordnung so erklären: In der Colonia wurde ich über drei Jahrzehnte eingesperrt. Wer mein Buch gelesen hat, der wird verstehen, was ich mit "eingesperrt" meine. Hier in unserer "freien" Welt jedoch beginne ich mich neben Millionen von Mitmenschen ausgesperrt zu sehen. Politisch ausgesperrt, weil wir zur Politik im Grunde nur Ja und Amen zu sagen haben. Sozioökonomisch, weil uns der kapitalistische Ellenbogenkrieg längst dem Gesetz des Stärkeren unterworfen hat. Das ist sein Preis und sein Anspruch. Ich werde damit umgehen müssen, aber nicht unter Ausschluss von Menschlichkeit und Würde.

Wie fühlen Sie sich im Bezug auf Ihre neue Freiheit?
Entkommen und befreit! Aber wenn ich dazu Friedrich von Schiller zitieren darf, "Herrenlos ist auch der Freiste nicht", dann kann Freiheit nur das für mich bedeuten, was Matthias Claudius an seinen Sohn Johannes schrieb: "Der ist wahrhaft frei, der da wollen kann, was er tun soll." Zweifellos bin ich nicht in jener heilen Welt angekommen, von der ich gerne geträumt hätte. So muss ich mich in einer neuen zurechtfinden, die primär von Macht- und Massenprostitution lebt, von politisiertem Umweltdilemma und von profiliertem Antiterrorkampf. Besonders aber besorgt mich der digitale Überwachungsangriff auf unsere persönliche Freiheit und Privatsphäre. Denn für jede Art von Überwachungsmechanismen bin ich durch meine Erfahrungen in der Colonia Dignidad sehr sensibilisiert worden. Dennoch genieße ich die neue Freiheit und werde mein Bestes daraus machen.

Wird es, im Bezug auf die Erfahrungen, wie Sie sie jetzt sehen, bei diesem Buch bleiben? (Film, zweites Buch?)
Meine Lebensaufgabe beschränkt sich keineswegs nur auf dieses Buch. Gleichwohl aber habe ich mich bereits ernsthaft mit dessen Verfilmung befasst. Ich nähme dieses Buch zwar gerne als Schlusspunkt für meine persönliche Vergangenheit in Anspruch, sehe aber zwei wichtigere Botschaften damit verbunden: Zum ersten möchte ich den Holocaustüberlebenden und Friedensnobelpreisträger Dr. Elie Wiesel zitieren: "Wenn wir uns der Geschichte von Auschwitz nicht stellen, wird sich ein zweites Hiroshima nicht vermeiden lassen." Desweiteren würde ich mich sehr freuen, wenn meine niedergeschriebene Überlebensgeschichte für Viele zum Hoffnungsträger wird. Ein zweites Buch im Sinne unserer Freiheit und der damit verbundenen Verantwortung bin ich dabei zu konzipieren.

Bedeutet das "normale" Leben eine besondere Anstrengung, weil Sie erst lernen mussten, für sich zu sorgen?
Dass ich am 19. Dezember 2005 mit nichts in der Hand in Deutschland ankam, niemanden und nichts hier kannte, dass ich täglich um meine Existenz zu kämpfen habe - mein Buch konnte ich nur nebenbei schreiben und veröffentlichen -, das war schon hart genug. Dass ich außerdem jedoch nicht nur das Trauma meiner Vergangenheit zu verarbeiten habe, sondern mich gleichzeitig noch gegen den langen Arm der Colonia Dignidad regelmäßig behaupten muss, verstehen Sie mich bitte recht: das war und ist ein verdammt hartes Stück!

Klaus Schnellenkamp: Geboren im Schatten der Angst. Ich überlebte die COLONIA DIGNIDAD. München: Herbig Verlag 2007. ISBN 978-3-7766-2505-9






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