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Deutschsprachige Rockmusik
Die Besonderheiten des Live-Publikums unter dem Blickwinkel des Wertewandels im Postmaterialismus
Eine empirische Studie bei Publika deutschsprachiger Rockkonzerte der Band ILLEGAL 2001
vorgelegt von Wilfried Schlüter Oktober 2001

von tk anno 2002

Wilfried Schlüter: Deutschsprachige Rockmusik. Die Besonderheiten des Live-Publikums unter dem Blickwinkel des Wertewandels im Postmaterialismus

Schon der Monstertitel dieser hochwissenschaftlichen, knapp 200 Seiten umfassenden Abhandlung dürfte abschreckend genug sein, um sich auch nur annähernd ausführlich damit beschäftigen zu wollen. Immerhin hat der Geschäftsführer der Band ILLEGAL 2001 und Pädagoge Wilfried Schlüter mit dieser Schrift seine Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Uni Kiel verfasst; es ist also davon auszugehen, dass es der Mann mit der Wahl des Themas seiner Arbeit wirklich ernst meint.
Da empirische Studien und statistische Erhebungen die angenehme Eigenschaft haben, sich durch grafische Darstellungen simplifizierend selbst zu erklären, werde ich tunlichst den Versuch unterlassen, Schlüters Statistiken gleichsam einer Exegese zu erläutern, vielmehr auf markante und neuralgische Punkte seiner Argumentationsführung und der daraus her zu leitenden Analyse eingehen.
Schlüter beschreibt die Idee und Zielsetzung seiner Arbeit als "einen weiteren Schritt zur Anerkennung der wissenschaftlichen Äußerungen über deutschsprachige Rockmusik und dessen Live-Publikum." (S. 10) Hierbei versucht er durch theoretisch-wissenschaftliche Analysen, die sich aus den Bereichen der Medienwissenschaften, Soziologie und Politik zusammensetzen, sein Ziel konsequent anzusteuern. Inwiefern ihm das gelungen ist oder nicht, möchte ich an dieser Stelle dahingestellt sein lassen. Fest zu halten ist aber, dass sich Schlüter weitgehend an öffentlich zugänglichen Publikationen und Autoren (Shell-Studie, Spiegel etc.) vorwiegend älteren Datums entlang hangelt und zumindest, was das Musikbusiness betrifft, wenig Insiderwissen aufblitzen lässt. Und inwieweit "die Sehnsucht nach Freude am Leben und der Wunsch nach einem schönen Zuhause innerhalb der Familie, alleine oder mit einem Partner" (S. 23) für das Musikkonsum-Verhalten Jugendlicher relevant sein soll, scheint mir doch etwas an den Haaren herbei gezogen.
Sei's drum, der ILLEGAL 2001-Mainman entwirft in einem theoretischen Teil der Studie anhand von Werteverschiebungen im interkulturellen Bereich und auf dem Hintergrund musikrezeptorischer Forschung Eckpunkte einer allgemeingültigen Aussage über das Konsumieren und die Wirkung von Rock- und Popmusik auf Jugendliche. Leider verliert er sich darin zu häufig in bandwurmartigen Detailanalysen, was dazu führt, dass er aus kleinen Mosaiksteinchen Rückschlüsse auf ein Gesamt-Konsumverhalten zieht: "Diese Suche des Sich-Wiederfindens in der Musik und in den Texten von Pop- und Rockmusik ist die entscheidende Ursache aus soziologischer Sicht für die Entstehung von sozialer Beeinflussung auf den Musikgeschmack und Wert der Musikrezeption." (S. 35)
Häufig stelle ich in Schlüters Ausführungen fest, dass er sich in mannigfaltiger Form Jugendmedien-Analysen bedient, diese aber im Hinblick auf die musikalischen Präferenzen Jugendlicher anno 2001 längst überholt sind und somit nur eine Rückschau statt einer gegenwärtigen Bestandsaufnahme liefern können. Allerdings muss man ihm zugute halten, dass er sich sehr engagiert und konstruktiv mit einzelnen Analysen auseinander setzt, ohne dabei seine eigene Position in den Vordergrund zu rücken.
Weiterhin fällt auf, dass Schlüter vom allumfassenden Rock- und Popzirkus spricht, ein typisches Merkmal der 80er Jahre also, heute aber angesichts existierender unzähliger Subgenres fast schon ein alarmierendes Signal von unzureichender Szene-Kenntnis darstellt. Ein Blick ins Literaturverzeichnis untermauert diesen Eindruck, stammt der überwiegende Teil der Publikationen, aus denen Schlüter zitiert, aus den 80er Jahren.
Auch die funktionalen Aspekte (Hörertypologien, Ursächlichkeiten für den Musikgeschmack Jugendlicher) seiner Studie zeichnen ein verzerrtes Bild des jungen Musikkonsumenten anno 2001. Da wird beispielsweise Heavy und Punk in einem Atemzug genannt und der jugendkulturellen Eigenschaften wie Mainstream und Gewalt-Orientierung zugeordnet.
Die unter II, 3.3 behandelten Funktionen von Musik bei Jugendlichen legen ferner immense Verzerrungen in Form von pubertär-klischeehaften Bildern offen, die einem schon gehörig die Ohren schlackern lassen. Da argumentiert Schlüter mit Bonfadelli (1986) und kategorisiert einen Funktionsbereich innerhalb der Musik "als Möglichkeit des Ausbruchs und der Provokation (Musik als Mittel des Ausflippens, des Rumalberns oder des Auf-den-Putz-Hauens)" (S. 73)
Schlimmer noch ist da die von Arnett (1991) zitierte Charakteristik der Heavy Metal-Fans: "Für viele ist es ein Mittel, um Ärger und Frust abzubauen." ... "Ein grosser Teil ist nicht religiös." ... "Fans waren sensationslüsterner und selbstsicherer im Hinblick auf Sex und Verabredungen gegenüber Nicht-Heavy Metal-Fans." ... "Männer zeigen rücksichtsloses Verhalten in den Bereichen: Fahren, Sex und Drogen." (S. 74)
Ebenso sind die von Schlüter zitierten Thesen des Sozialwissenschaftlers Barz (1992) zum Thema Okkultismus und Rockmusik mehr als fragwürdig zu bewerten: "... Satans-Rock als Teil der Heavy Metal-Kultur und deren Symbolik." ... "Gothics und Grufties als Lifestyle-Accessoire. Wege in die schwarze Szene und das Lebensgefühl der Todesnähe." (S. 75)
Dass ausgerechnet deutschsprachige Rockmusik als "Musik und Sozialkontakt in Form von Sexualität" unter Bezugnahme auf den Song "Nie war ich tiefer bei dir" von Peter Maffay empfunden werden soll, ist mir mindestens genauso schleierhaft wie "Musik und Heavy Metal als Ausbruch" (aus einer zwischenmenschlichen Beziehung) unter Bezugnahme auf den Rammstein-Track "Du hast" (S. 77) - nicht nur wegen der obskuren Verknüpfung Rammstein-Heavy Metal!
Im vierten Kapitel des theoretischen Teils beschäftigt sich der Autor mit den Auswirkungen von Popmusik auf Jugendliche und lässt sich in diesem Abschnitt wiederum zu vagen und oberflächlichen Aussagen hinreißen: "In den Szenen Technoanhänger, Heavy Metal-Fans, Hip Hop-Anhänger und Grufties ist eine Identifikation und Abgrenzung zu anderen über die variablen Musik, Mode und Drogen unverkennbar. Bei anderen Jugendszenen hingegen scheinen Einflussgrößen noch nicht eindeutig nachgewiesen zu sein." (S. 99) Fragt sich nur, welche Peergroups Schlüter eigentlich mit "anderen Jugendszenen" meint?!
Der Pädagoge aus Norddeutschland weist in seinen Untersuchungen exemplarisch immer wieder auf seine eigene Band ILLEGAL 2001 hin. Ein Blick in die Discographie offeriert dem Leser solch vollmundige Albumtitel wie "Skandal", "Auweia", "Alarm", "Frisch" und Single-Auskopplungen wie "Dosenbier macht schlau" und "Wir trinken gern". (S. 108) Ein Schmunzeln angesichts solch hochintellektuell anmutenden Stoffs kann man sich da wohl nicht verkneifen :-)
Es folgt eine ausführliche Zusammenfassung der hier auszugsweise beschriebenen Erträge, bevor der zweite große empirische Teil - die Besonderheiten deutschsprachiger Rockkonzerte und die dahingehende Bedeutung gesellschaftlicher Meinungsmacher - plakativ dargelegt wird. Ferner entwirft Schlüter anhand der Latent-Class-Analyse (LCA, "statistische Zuordnung von Personen zu derjenigen Klasse, der sie am wahrscheinlichsten angehört", S. 150) und dem Mixed-Rasch-Modell (MIRA, "Kombination von einem kategorialen Testmodell (LCA) und einem quantitativen Testverfahren (Rasch-Modell)", S. 151) eine Klassifizierung gruppenspezifischer Merkmale der ILLEGAL 2001-Anhänger. In akribischer Kleinarbeit werden statistische Testergebnisse auseinander genommen, die in ihrer fachspezifischen Detailverliebtheit allerdings eher erschlagend denn aufschlussreich erscheinen. Hinzu kommt, dass Schlüter als ILLEGAL 2001-Mitglied quasi gezwungen ist, aus einer nicht wertneutralen und eher subjektiv geprägten Position heraus seine Testergebnisse zu bewerten: "Die Hälfte dieser Vorbildsucher orientiert sich als selbstdefinierter Fan von ILLEGAL 2001 hochsignifikant an der Meinung von Popmusikern" ... "die 67 ILLEGAL-Fans kennen sich gut in der Popmusik aus." (S. 167)
Widersprüchlichkeiten ergeben sich aus der folgenden Schlussfolgerung: "Die politische Aussage der Künstler spielt für die Konzertbesucher keine Rolle. Es bestätigt das Desinteresse der Politik an Jugend einerseits und die persönliche Distanz der Jugend zur Politik andererseits." (S. 172), wohingegen Schlüter unter III, 4.4 ein Befragungs-Ergebnis unter Jugendlichen anführt, wonach 45% der Befragten glauben, dass eine Rockmusiker-Partei bei der Bundestagswahl hypothetisch die 5%-Hürde schaffen würde.
Ferner ist es mehr als zweifelhaft, dass in der in Ausbildung befindlichen Gruppe der 14-22jährigen die weiblichen Konsumenten "melodiöse und harmonische Popularmusik" bevorzugen, während die männlichen Konsumenten eher "Hard- und Heavy-Stilistiken" (der Autor meint wohl Crossover, Rapcore und Nu-Metal) vorziehen (S. 176). (Wenn das stimmt, wer geht denn dann in diese ganzen Techno-Dissen? - Anm. rls) Immerhin stellt Schlüter in einem abschließenden Ausblick treffend fest, dass "Politik und Industrie jedoch in den nächsten Jahren verstärkt um deutsche Rockmusiker buhlen, um sie für ihre Interessen einzuspannen." (S. 178). Letzteres Phänomen konnte man ja schon sehr eindrücklich im Wahlkampf zur letzten Bundestagswahl beobachten.
Schlussendlich bleibt aber die Frage, wen Schlüter mit seinem detailerschlagenden Empirie-Fanatismus eigentlich mehr beeindrucken will und wollte: die sowieso schon auf eine spezielle Schicht reduzierte ILLEGAL 2001-Fanbase oder die Herren Professoren Bruhn, Reinfandt und Rösing, die sich als Gutachter vorliegendes Werk ergötzend reingezogen haben dürften?! (Oder auch nicht ... - Anm. rls) Letztere wohl eher, vermute ich mal.
Selbst den mit Backgroundwissen ausgestatteten Deutschrock-Liebhaber dürften Schlüters Ergebnisse wenig beeindrucken, da sie einfach zu leichtsinnig und fragwürdig aus den erarbeiteten Studien hergeleitet werden.

Wer sich dennoch Dr. sc. päd. W. Schlüter geben möchte, bestelle sich das als Paperback-Ausgabe erschienene Werk per e-mail: Fiete_S-Punkt@t-online.de unter Angabe der ISBN: 3-00-010181-0. Fragt in jedem Fall nach dem Preis, der ist nämlich nirgendwo vermerkt.
 
 




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